Gefahrengebiet Reloaded – Welcome to the Danger Zone

von CHRISTIAN ERNST

christian ernstVor etwa einem halben Jahr sorgte ein von der Hamburger Polizei ausgerufenes „Gefahrengebiet“ im Schanzenviertel für Diskussionen. Es sollte dem dortigen Drogenverkauf Einhalt gebieten. Die Kontroverse ging vorüber und das Gefahrengebiet wurde still und leise aufgehoben. In der Vorweihnachtszeit brachen dann verschiedene gesellschaftliche Konflikte auf, die bislang vor sich hin schwelten: die Situation um die Rote Flora, die seit mehr als 20 Jahren besetzt ist und mittlerweile einem privaten Investor gehört, die Zukunft der Gruppe von Lampedusa-Flüchtlingen, die in einer Kirche auf St. Pauli Zuflucht gefunden hat und Asyl sucht, und die Räumung der Esso-Hochhäuser, die sich hamburgweit zu einem Symbol der Gentrifizierung entwickelt haben. Die schwersten Krawalle der letzten Jahre auf Hamburgs Straßen sowie Angriffe auf Polizisten und Polizeiwachen waren die Folge.

Die Staatsgewalt reagiert auf diese Gewaltausbrüche, indem sie ihrerseits weitere Eskalationsstufen erklimmt. Sie hat ein neues Gefahrengebiet ausgerufen, um der linksautonomen Gewalt Herr zu werden. Und der Beitrag der Polizei ist beeindruckend: Das Gefahrengebiet ist von nie dagewesener Größe und erfasst ganze Stadtteile zwischen St. Pauli und Altona. In diesem Großteil des innerstädtischen Bereichs leben zehntausende Menschen und noch einmal so viele dürften das Gebiet in ihrer Freizeit besuchen. Schon diese Ausmaße machen die Einrichtung des Gefahrengebiets zu einer wesentlichen Frage. Allein am vergangenen Wochenende wurden durch die Polizei 400 Personen anlassunabhängig kontrolliert, 90 Aufenthaltsverbote und acht Platzverweise erteilt. Das umstrittene Gefahrengebiet aus dem Sommer letzten Jahres wirkt dagegen wie ein Testballon.

Die Abwesenheit normativer Begrenzungen

Die Größe des Gefahrengebietes deckt zugleich einige Makel der rechtlichen Grundlage auf, die ansonsten vielleicht verborgen geblieben wären. Für den einschlägigen § 4 Abs. 2 S. 1 PolDVG ist bei näherer Betrachtung schon zweifelhaft, ob er überhaupt die Ausweisung eines Gefahrengebietes zum Gegenstand hat oder das Bestehen eines solchen nur voraussetzt (für eine frühere Diskussion der Bestimmung des Gesetzes auf diesem Blog s. hier). Die Vorschrift setzt dem polizeilichen Handeln auch keine wirksamen Grenzen. Selbst nach der wohlwollenden Entscheidung des VG Hamburg (Urt. v. 2.10.2012 – 5 K 1236/11, juris; Berufung ist eingelegt), die von der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift ausgegangen ist, darf ein Gefahrengebiet nicht „große Teile Hamburgs oder das gesamte Stadtgebiet“ erfassen. Ein Blick auf die Karte des derzeitigen Gefahrengebietes sollte jede weitere Diskussion in diesem Punkt über die Rechtmäßigkeit obsolet machen – sind doch gleich mehrere benachbarte Stadtteile großflächig von ihm betroffen. Dies könnte entweder auf einem bloßen Rechtsanwendungsfehler im Einzelfall beruhen oder aber die gesetzliche Grundlage ermöglicht selbst keine wirksame Begrenzung des polizeilichen Handelns. Eine Auslegung der Vorschrift ergibt hierfür keine Erkenntnisse. Aus der Formulierung „bestimmte Gebiete“, die das VG Hamburg heranzieht, dürfte jedenfalls keine Begrenzung folgen, denn auch das gesamte Stadtgebiet wäre ein „bestimmtes Gebiet“.

Wenn nun versucht wird, die hinreichende Begrenzung des polizeilichen Handelns aus dem notwendigen Tatbestandsmerkmal „konkrete Lageerkenntnisse“ abzuleiten (VG Hamburg a.a.O. Rn. 72), führt das zu neuen Problemen. Denn ob konkrete Lageerkenntnisse bestehen oder nicht bestehen, richtet sich ausschließlich nach der Ansicht der polizeilichen Entscheidungsträger und internen polizeilichen Verwaltungsvorschriften. Notwendig wäre eine normative Grenze, die der Verwaltung durch den Gesetzgeber auferlegt wird. Durch § 4 Abs. 2 S. 1 PolDVG ist der Verwaltung die Freiheit gelassen, selbständig und eigenmächtig die ihr gesetzten Grenzen festzulegen und zu definieren. Die Legislative entmachtet sich selbst.

Platzverweis, Durchsuchung, Inaugenscheinnahme – was ist eigentlich möglich?

Die Grenzen der Handlungsbefugnisse im Einzelfall scheinen in der Praxis ebenfalls Schwierigkeiten zu machen. Hartnäckig hält sich in der medialen Berichterstattung die Vorstellung, innerhalb des Gefahrengebietes seien Ingewahrsamnahmen und Platzverweise leichter möglich. Dies ist nicht der Fall. Durch § 4 Abs. 2 S. 1 PolDVG wird alleine das Anhalten von Personen, die Identitätsfeststellung und die Inaugenscheinnahme von mitgeführten Sachen erlaubt. Deutlich wird dies auch durch einen Blick auf den Gesetzestitel: „Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei“. Alle weiteren Maßnahmen bestimmen sich allein nach dem allgemeinen Polizeirecht und verlangen deshalb eine konkrete polizeirechtliche Gefahr, wie jederzeit und überall anders auch.

Eine Durchsuchung von Personen und Sachen muss deshalb ebenfalls nach den allgemeinen Regeln §§ 15, 15a SOG stattfinden. Berichte in Presse, Fernsehen und Sozialen Medien legen aber nahe, dass die in § 4 Abs. 2 S. 1 PolDVG vorgesehene Inaugenscheinnahme sich auf der Straße mitunter als eine Durchsuchung entpuppt. Vorschnell wäre es, dies den Polizisten vor Ort zum Vorwurf machen. Dass das Problem schon in der Rechtsgrundlage wurzelt, zeigt erneut die Entscheidung des VG Hamburg. Das Gericht hat sich mit der genauen Bestimmung, was die Vorschrift insofern erlaubt, offensichtlich schwergetan (VG Hamburg a.a.O. Rn. 140 ff.).

Demnach soll unter Umständen auch ein Öffnen von mitgeführten Behältnissen, etwa eines Rucksacks, und das Herausnehmen der sich darin befindlichen Sachen zulässig sein. Die Abgrenzung zur Durchsuchung soll sich über die Tiefe und Gründlichkeit ergeben. Was ein solches Verhalten allerdings von dem ziel- und zweckgerichteten Suchen nach Sachen, die der Besitzer von sich aus nicht offenlegen möchte (gemeinhin als „Durchsuchung“ bezeichnet), unterscheidet, bleibt offen. Der Verweis auf den Begriff „mitgeführte Sachen“ und den Umstand, dass diese mitgeführt bleiben, wenn sie sich in anderen Sachen befinden und deshalb ebenfalls in Augenschein genommen werden dürfen, scheint eher ein „Taschenspieler“-Trick zu sein. Diese „atomisierende“ Betrachtung des mitgeführten Besitzes würde das Institut der Durchsuchung von Sachen (mitsamt deren strengen Voraussetzungen) überflüssig machen. Ein systematischer Vergleich mit § 4 Abs. 4 S. 1 Nr. 5 PolDVG (Die Polizei darf „mitgeführte Sachen nach Gegenständen durchsuchen, die zur Identitätsfeststellung dienen können“) macht hingegen deutlich, wo für mitgeführte Taschen, Rucksäcke oder ähnliches die Grenze zwischen Durchsuchung und Inaugenscheinnahme liegt. Die Inaugenscheinnahme bezieht sich nur auf die nähere Untersuchung von Sachen, die unmittelbar und ohne weiteres sinnlich wahrnehmbar sind (auch z.B. durch Tasten).

Licht ins Dunkel bringen

Was für die mitgeführten Sachen der Bürger in diesen Gebieten gilt, sollte im Übrigen auch für die Hintergründe des Gefahrengebietes gelten: Sie müssen öffentlich gemacht und insbesondere muss kontrolliert werden, ob die konkreten Lageerkenntnisse tatsächlich die Maßnahme tragen. Sollte sich dabei herausstellen, dass es tatsächlich nur darum ging, „ein Zeichen zu setzen“, nicht aber darum, „Täter dingfest zu machen“, wäre dies bedenklich. Unbeeindrucktes, besonnenes und überlegtes Handeln des Staates zugunsten des Gemeinwohls sollte eher von anderen Zwecken geleitet sein. § 4 Abs. 2 PolDVG soll der Verhinderung von Straftaten aufgrund von „konkreten“ Lageerkenntnissen und auch der Strafverfolgungsvorsorge dienen. Der Zweck ihres Einsatzes verdient angesichts der damit verbundenen Eingriffe und Belastungen mehr Substanz. Und die gesetzliche Bestimmung muss so beschaffen sein, dass sie dies sicherstellt.

Auf Facebook hat die Gruppe „Solidarität mit den Beamten der Davidwache“ mittlerweile über 50.000 Anhänger. Diese Forderung nach Solidarität richtet sich im Rechtsstaat aber nicht nur an die Öffentlichkeit, sondern in erster Linie an den Gesetzgeber. Die Rufe nach besserer Ausstattung und Versorgung der Polizeibeamten werden allzu leicht allein auf die tatsächliche Ausrüstung beschränkt. Die Solidarität mit den Polizeibeamten muss sich aber insbesondere darauf konzentrieren, ihnen Gesetze und Rechtsgrundlagen zur Verfügung zu stellen, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen – und dies ist Aufgabe des Gesetzgebers.

Bestimmtheit, Christian Ernst, Durchsuchung, Gefahrengebiet, Hamburg, Rechtsstaat, Verwaltungsrecht, Wesentlichkeit
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8 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Dem Beitrag kann, ja muss man zustimmen: Die normativen Grenzen des nur schwer eingrenzbaren Hamburger „Gefahrengebietes“ sind vage und reichlich unbestimmt, eine gesetzgeberische „Meisterleistung“ sind die Hamburger Bestimmungen nicht. Solange der Bestimmtheitsgrundsatz rechtsstaatlich gilt, sind die Vorschriften so konkret „zu fassen, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte und mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist“ (BVerfGE 49, 168, 181). Dieses Konkretisierungs- und Bestimmtheitsgebot dürfte eher verlassen als eingehalten worden sein. Zu Recht wird bemerkt, dass auch noch das gesamte Stadtgebiet ein „bestimmtes“, aber eben unbestimmtes „Gebiet“ darstellt.

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  • Ein guter Beitrag zur rechten Zeit: Der HH-Senat hat rechtsstaatliche Grundsätze verlassen und den „Kampfanzug“ angezogen, will offenbar HH „säubern“ – mittels einer Übergabe aller Befugnisse an die Exekutive. Die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive findet in HH nicht mehr statt. Leider wird das, was die 3. Gewalt sagt, auch nicht beachtet (Urt. des VG HH v. 2.10.2012). Die 4. Gewalt (Medien) singen mit der Exekutive mit, weil´s populistisch ist.

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  • Guter Beitrag, vielen Dank!

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  • Hannes Rathke
    11. Januar 2014 18:05
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    • Ein Video zu den Geschehnissen vor Ort ändert nichts an der gesetzlichen Lage, die von rechtsstaatlich-demokratischer Seite her bedenklich ist: Gerade deren Unbestimmtheit und deren polizeiliche Zentrierung wecken Sorgen. Hamburgs Innensenator begibt sich in ein juristisches Gefahrengebiet, solange die Polizei vor Ort den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit missachtet und die Grenzen, die das VG Hamburg gezogen hat (Urt. v. 2.10.12), nicht einhält: Nicht einmal ein „Abtasten“ der Bürger ist danach erlaubt, die Zugehörigkeit zum „linken Spektrum“ kein Grund für polizeiliche Maßnahmen.

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  • Christoph Smets
    13. Januar 2014 20:01

    Herzlichen Glückwunsch zum Tagesschau-Auftritt btw!

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  • Auszug aus dem gestern vorgestellten Hamburger Koalitionsvertrag:

    „Das Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei(PolDVG) regelt die Möglichkeit lageabhängiger Kontrollen durch die Polizei. Es wird vor dem Hintergrund der Rechtsprechung geprüft, ob und wenn ja, welcher Anpassungsbedarf im Hinblick auf die Rechtsgrundlage aus § 4 Abs. 2 PolDVG besteht (z.B. im Hinblick auf die Kriterien, die den Anlass, Zweck und Grenzen lageabhängiger Kontrollen begründen, sowie auf das rechtsstaatliche Gebot der Bestimmtheit).“

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