Das Spannungsfeld zwischen verwaltungsprozessualem Anerkenntnisurteil und Feststellungsinteresse nach Grundrechtseingriffen

von TIMO SCHWANDER

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Das Verwaltungsgericht Hamburg hat – per Anerkenntnisurteil – die Ingewahrsamnahme einer Buspassagierin auf dem Weg zu Protesten gegen den G20-Gipfel für rechtswidrig erklärt. Doch im Wege der Kostengrundentscheidung gibt es der Klägerin Steine statt Brot.

Am 8. Juli 2017, kurz vor Beginn des G20-Gipfels, war ein Bus des Jugendverbands SJD – Die Falken aus Nordrhein-Westfalen unterwegs nach Hamburg. Der Bus mit 44 Personen, die gegen den Gipfel demonstrieren wollten, wurde aufgrund einer Verwechselung von der Polizei umgeleitet; die Insass*innen wurden ohne Aufklärung, was man ihnen vorwerfe oder warum man sie festhalte, bis zu viereinhalb Stunden in Gewahrsam genommen. Sie mussten sich in der Gefangenensammelstelle bis auf die Unterwäsche entkleiden, wurden im Intimbereich abgetastet und durften nur bei geöffneter Türe unter Beobachtung von Polizeivollzugsbeamt*innen die Toilette aufsuchen.

Einige Zeit nach diesen Ereignissen entschuldigte sich der Hamburger Innensenator in einem Livestream dafür, dass man das Kfz-Kennzeichen des Busses verwechselt habe. Mehrere Insass*innen erhoben gleichwohl Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahmen vor dem VG Hamburg. Der Klage einer Passagierin hat das Verwaltungsgericht am 27.11.2017 stattgegeben – auf einem Weg, der im Zivilprozess geläufig ist, im Verwaltungsrecht jedoch stutzen lässt: per Anerkenntnisurteil.

Anerkenntnisse im Verwaltungsprozess

In der Tat ist die Möglichkeit eines Anerkenntnisses, das prozessbeendigend wirkt und zu einem Urteil ohne tatsächliche wie rechtliche Prüfung des zugrundeliegenden Sachverhalts führt, nach heute weitgehend unumstrittener Auffassung auch im Verwaltungsprozess möglich. Die Möglichkeit des verwaltungsprozessualen Anerkenntnisses folgt implizit aus § 156 VwGO und § 87a Abs. 1 Nr. 2 VwGO, konstruieren lässt es sich über § 173 S. 1 VwGO i.V.m. § 307 ZPO. Dass im Fall eines Anerkenntnisses auf eine Sachverhaltsaufklärung und auf die rechtliche Bewertung des Geschehenen verzichtet wird, steht auch nicht im Widerspruch zu Grundsätzen des Verwaltungsprozessrechts, insbesondere dem Amtsermittlungsgrundsatz, sondern ist Folge der auch hier geltenden Dispositionsmaxime. Strittig ist nach wie vor lediglich die Anwendbarkeit im Rahmen der Anfechtungsklage (dagegen das BVerwG, dafür etwa das VG Stuttgart), für (Fortsetzungs-) Feststellungs-, Verpflichtungs– und Leistungsklage wird sie hingegen bejaht.

Analog zu § 93 ZPO regelt § 156 VwGO, dass dem Kläger die Kosten aufzuerlegen sind, wenn der Beklagte ein sofortiges Anerkenntnis leistet und kein Klageanlass gegeben war. Dies setzt voraus, dass der Beklagte „vorprozessual nicht den Eindruck erweckt haben [darf], als könne der Kläger nur durch Klageerhebung sein Ziel erreichen“ (Olbertz). Faktisch führt dieses Kostenrisiko zu einer Obliegenheit, sich auch jenseits des Anwendungsbereiches der §§ 68 ff. VwGO vorprozessual mit der*dem Beklagten auseinanderzusetzen. Gegen die Kostenauferlegung nach § 156 VwGO bestehen überdies keine Rechtsmittel: Eine Beschwer liegt nur hinsichtlich des Kostenausspruchs vor, der nicht isoliert anfechtbar ist (§ 158 Abs. 1 VwGO); eine Anwendung von § 173 S. 1 VwGO i.V.m. § 99 Abs. 2 S. 1 ZPO wird von der herrschenden Auffassung abgelehnt, da eine vergleichbare Regelung einst in § 158 Abs. 2 VwGO enthalten war, aber 1991 gestrichen wurde.

Friktionen mit der Rechtsschutzgarantie

Schon die Möglichkeit eines Anerkenntnisurteils im Verwaltungsprozess allgemein, in besonderem Maße aber die Kostenfolge des § 156 VwGO stehen jedoch in einem Spannungsverhältnis zur Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. Diese gebietet Rechtsschutz gegen staatliches Handeln nicht nur in präventiv-abwehrender Gestalt, sondern gerade auch nachträglichen, feststellenden Rechtsschutz bei vorangegangenen Rechtsverletzungen, wenn diese kurzfristig geschahen und vorheriger Rechtsschutz nicht erreicht werden konnte. Auch das Interesse einer in ihren Grundrechten verletzten Person auf Rehabilitation gebietet einen feststellenden Rechtsschutz, weshalb das zur nachträglichen Feststellungs- und zur Fortsetzungsfeststellungsklage erforderliche Feststellungsinteresse insbesondere in einem Rehabilitationsinteresse bestehen kann. In beiden Fällen gilt, dass gerade die gerichtliche Entscheidung im Interesse des bzw. der Betroffenen liegt: Es soll nicht irgendwie, sondern mit rechtskräftigem Urteil festgestellt werden, dass Unrecht geschehen ist. Die gerichtliche Entscheidung mit der ihr zugeschriebenen Neutralität und Glaubwürdigkeit attestiert ihm/ihr Unbescholtenheit und verschafft Genugtuung.

Wirklich kein Klageanlass?

Im Fall des Falken-Busses erlegte das VG Hamburg der Klägerin gemäß § 156 VwGO die Kosten auf, da die beklagte Freie und Hansestadt Hamburg durch die vorherige Entschuldigung des Innensenators keinen Klageanlass gegeben habe. Legt man einen Streitwert von 5000 Euro zugrunde (§ 52 Abs. 2 GKG), so dürften sich die Kosten – einschließlich der nur bei der Klägerin angefallenen Anwaltshonorare – auf etwa 1000 Euro belaufen (Nr. 5111 KV GKG; Nr. 3100, 3104, 7002 KV RVG, MWSt.).

Die Entschuldigung sei zwar allgemein gehalten, zeige aber, so das Urteil, „dass die Beklagte sehr wohl bereit war, die Rechtswidrigkeit ihrer Maßnahmen anzuerkennen. Dass sie sich zudem bei dem Kläger eines Parallelverfahrens entschuldigt hat, macht deutlich, dass sie durchaus auch bereit war, auf den konkreten Einzelfall bezogene Entschuldigungen auszusprechen und individuelles Unrecht zu benennen.“

Diese Kostengrundentscheidung lässt sich mit den dargestellten verfassungsrechtlichen Anforderungen an den feststellenden Rechtsschutz gerade im Schutzbereich der Versammlungsfreiheit – die auch die Anfahrt zu einer Versammlung umfasst – nicht vereinbaren. Zwar wird überwiegend vertreten, dass auch ein Anerkenntnis der handelnden Behörde das Rehabilitationsinteresse befriedigen kann, doch das Gericht setzt hier die Anforderungen für einen fehlenden Klageanlass zu weit herab. Die Entschuldigung des Justizsenators bezog sich ausdrücklich auf die Verwechselung des Busses, während die Klägerin einem intensiven Grundrechtseingriff ausgesetzt war, der sich – im Fall des beobachteten Toilettenganges – im Grenzbereich der Intimsphäre bewegt. Zur Kompensation derart tiefer Eingriffe ist eine gerichtliche Nachprüfung besonders dringend geboten. Das Feststellungsinteresse der Klägerin bestand daher fort und wurde erst durch das nach der Klageerhebung erfolgte prozessuale Anerkenntnis und das darauf basierende Urteil befriedigt, mit welchem die Rechtswidrigkeit des Vorgehens gegen sie rechtskräftig festgestellt wird. Durch die Kostenauferlegung wird die Klägerin dafür sanktioniert, dass sie legitimerweise ihrem Interesse an gerichtlicher Feststellung nachgeht. Fraglich bleibt ohnehin, ob nicht ein kontradiktorisches Urteil anstelle eines Anerkenntnisurteils zumindest im Fall schwerwiegender Grundrechtseingriffe dieses Interesse besser zu erfüllen vermag (dagegen aber das VG Freiburg).

Kein Einzelfall

Dass durch ein inhaltlich beschränktes Anerkenntnis das grundrechtlich begründete Feststellungsinteresse letztlich unterlaufen werden kann, zeigt auch ein weiteres Urteil des VG Hamburg: Gegenstand des Anerkenntnisteil- und Schlussurteils war der Einsatz einer verdeckten Ermittlerin der Polizei in der linken Szene in Hamburg, die während ihres Einsatzes dort auch sexuelle Beziehungen unterhielt. Die Beklagte – die Freie und Hansestadt Hamburg – leistete ein Anerkenntnis mit der Erklärung, der Einsatz der verdeckten Ermittlerin sei im Ganzen rechtswidrig gewesen. Der Kläger hingegen wollte explizit auch die Rechtswidrigkeit der Erschleichung einer sexuellen Beziehung mit ihm zur staatlichen Informationsgewinnung festgestellt wissen. Da jedoch durch das Anerkenntnis bereits die Rechtswidrigkeit des Einsatzes im Ganzen feststand, wurde bezüglich dieses Antrags das Feststellungsinteresse des Klägers verneint. Ihm wurden daher die Kosten auferlegt – bezüglich des Anerkenntnisses gemäß § 156, im Übrigen gemäß § 154 Abs. 1 VwGO. In diesem Fall stellt die dem Staat zuzurechnende Maßnahme offensichtlich einen Eingriff in die Intimsphäre des Klägers dar. Gerade diese konkrete Feststellung wird ihm aber aufgrund eines pauschalen Anerkenntnisses verwehrt, obwohl schon aufgrund des intensiven Grundrechtseingriffs das Feststellungsinteresse fortbesteht.

Auch hier zeigt sich, dass eine voreilige Anwendung des § 156 VwGO den verfassungsrechtlich anerkannten Wunsch nach gerichtlicher Feststellung der Rechtswidrigkeit staatlichen Handelns untergraben kann. Stattdessen ist ein Klageanlass nur dann zu verneinen, wenn ein sofortiges Anerkenntnis das Feststellungsinteresse tatsächlich vollumfänglich befriedigt. Trägt die Kostenentscheidung dem nicht Rechnung, so ist – mangels eines anderen Rechtsmittels – eine Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG zu erwägen.

Veröffentlicht unter CC BY NC ND 4.0.

Anerkenntnis, Feststellungsinteresse, G20, Hamburg, Kostenrecht, Timo Schwander
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6 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Völlig richtig. Ein Anerkenntnisurteil trifft das Begehren des Klägers nicht. In Bezug auf die Intimbereichsverletzungen könnte das Urteil ja auch für eine Entschädigungsklage wichtig sein.

    Im vierten Absatz, dritter Satz befindet sich ein Zahlendreher. Es muss heißen :“…jenseits des Anwendungsbereichs der §§ 68 ff. VwGO“.

    Antworten
  • Guten Morgen Timo,

    vielen Dank für deinen Beitrag. Eine Frage habe ich aber doch. Wie müsste deiner Ansicht nach die Entschuldigung aussehen, damit das Bedürfnis der Kläger befriedigt wäre?

    Viele Grüße,
    Edward

    Antworten
  • Manfred Jaletzky
    3. Januar 2018 16:50

    Vorgelagert stellt sich – wie von Timo erwähnt – die Frage, ob bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen die Anerkennung überhaupt angemessen ist. Einen solchen Eingriff dürfte man angesichts der doch erheblichen Freiheitsbeschränkungen und der Betroffenheit des APR durch Abtasten des Intimbereichs sicher bejahen.

    Ansonsten – und das als konkrete Antwort auf Deine Frage – dürfte man m.E. zumindest von den durchsuchenden Beamten, dem jeweiligen „Entscheider“ (Einsatzleiter/Gruppenleiter o.ä) oder zumindest dem (Letzt-)Verantwortlichen Innensenator eine persönliche – fernmündlich oder zumindest postalische –
    Entschuldigung an jeden einzelnen Betroffenen verlangen. Eine mediale Reinwaschung gegenüber der Öffentlichkeit wird dem m.E. hingegen nicht gerecht.

    Antworten
  • Timo Schwander
    3. Januar 2018 18:02

    Guten Abend und bitte schön. Ich würde zumindest eine konkrete Benennung des rechtswidrigen Handelns anstelle einer Blankettentschuldigung verlangen, außerdem eine gewisse Dauerhaftigkeit, sprich Textform (soll die Klägerin den Livestream mit der Entschuldigung allen möglichen Leuten vorspielen…?). Bei schweren Grundrechtseingriffen würde ich aber, wie im Artikel, daran festhalten, dass eine behördliche Entschuldigung zwar wünschenswert ist, aber trotzdem das Feststellungsinteresse nicht befriedigen kann – das kann in derartigen Fällen m.E. nur das Urteil, weshalb ungeachtet einer vorherigen Entschuldigung Klageanlass besteht und § 156 VwGO nicht herangezogen werden kann. Insofern Zustimmung zu Manfreds Kommentar.
    Mit Lea und Manfred teile ich außerdem die Zweifel, ob ein Anerkenntnisurteil diese Kompensation überhaupt leisten kann oder nicht eher ein streitiges Urteil notwendig wäre, aber dieses Fass wollte ich hier nur andeuten und nicht aufmachen.
    Beste Grüße
    Timo

    Antworten
  • Vielen Dank für eure Antwort. Ich persönlich stimme insoweit zu, als dass eine Entschuldigung in Textform an die einzelnen Betroffenen tatsächlich die wünschenswertere Lösung darstellen würde. Aber, dass nur ein Urteil bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen Rehabilitation leisten kann sehe ich nicht. Ich finde vom Eingeständnis rechtswidrigen Handelns durch eine Entschuldiung geht eine größere Wirkung aus, als durch ein gerichtliches Urteil. Eines Urteils bedarf es für die Rehabilitation doch dann, wenn die (schwerwiegende) Grundrechtsverletzung nicht eingesehen wird.

    Antworten
  • Benjamin Rusteberg
    4. Januar 2018 14:42

    Lieber Timo, vielen Dank für den sehr interessanten Beitrag. Zum – praktisch natürlich enorm wichtigen – Kostenrecht im Verwaltungsprozess liest man ja auch nicht alle Tage etwas.

    M.E. steckt hinter der von Dir beschriebenen Problematik auch noch ein anderes interessantes Problem, nämlich die Frage nach der Reichweite der Dispositionsmöglichkeit des Klägers bei der Bestimmung des Klagegegenstands der (Fortsetzungs-)Feststellungsklage. Kann der Kläger verlangen, dass die Rechtswidrigkeit bestimmter Maßnahmen nicht nur allgemein festgestellt wird, sondern gerade auf einzelne geltend gemachte Fehler hin überprüft wird? Entsprechend müsste die Behörde dann auch die Rechtswidrigkeit genau dieses Umstands anerkennen, um eine Verurteilung zu entgehen.
    Ansonsten ließe sich im vorliegenden Fall die Rechtswidrigkeit der Maßnahmen ja auch durch das VG ggf. schon darauf stützen, dass es sich um eine Verwechslung handelte. Über die Angemessenheit des jeweiligen Eingriffs wäre damit immer noch nichts gesagt. Entsprechend wäre die Lage, wenn die Klage etwa bereits wegen der formellen Rechtswidrigkeit der Maßnahme begründet wäre.
    Praktisch umsetzen ließe sich so ein Ansatz de lege lata wohl nicht, das wird kein VG wollen. Insgesamt wäre es m.E. aber sinnvoll, dem Klagegegenstand im Verwaltungsprozess allgemein und bei der (Fortsetzungs-)Feststellungsklage im Besonderen mal etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Da könnte die Problematik ein guter Ansatz sein.

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