Den Schlechten ans Kröpfchen – Eine kurze Geschichte des industrialisierten Huhns

von WIEBKE REINERT

fb05.reinert_Dass das Münsteraner Landgericht die Klage gegen einen Kükenbrütereibetrieb wegen des Tötens männlicher Küken abgelehnt hat, ließe sich durchaus als historisch bezeichnen. Die Begründung, massenhafte Tiertötungen seien allein wegen wirtschaftlicher Erwägungen »vernünftig«, kommentiert gewissermaßen eine Geschichte, die selbst als Ergebnis »alle[r] erdenklichen ökonomischen Ziele« beschrieben werden kann. Die relevanten Hühner sind darin allerdings sehr vielfältig verwoben mit menschengesellschaftlichen Zusammenhängen, von denen einige in diesem Beitrag aus historisch-anthropologischer Perspektive beleuchtet werden sollen.

A Chiken for every Pot
Wahlwerbung, New York Times 30. Oktober 1928

1928 betrat ein Huhn die präsidiale Wahlkampfbühne der Vereinigten Staaten von Amerika. Herbert Hoover hatte unter anderem mit dem Versprechen geworben, dafür zu sorgen, dass in jedem US-Kochtopf ein Huhn lande. Nicht nur Autos, Kühlschränke, Telefone und Radios sollten zum Standard jedes Haushalts werden; Tierkörper wurden ebenso industrialisierbar. Der Körper des Huhnes als domestizierter, züchtbarer, vermehrbarer Körper, der schließlich für den Verzehr bereit gestellt werden kann, wurde in ungekanntem Maße zur wirtschaftlichen Ressource, zum gesellschaftlichen Fortschrittsmarker, zum Zeichen für Technik und Wohlstand – und zum Massenprodukt.

Die rationell-industrielle Hühnerproduktion, die zur Be- und Verwertung der Nützlichkeit bestimmter Körper führt (nämlich der weiblichen, während die männlichen weitgehend aussortiert werden) hängt historisch betrachtet mit Überlegungen zur Rationalisierung der Ernährung und des Verbrauchs zusammen. Solche schlossen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Definitionen von Bedarf und Bedürfnissen mit ein. Gerade vor dem Hintergrund knapper finanzieller Ressourcen (für die arbeitende Klasse oder Kriegsgesellschaften als Ganze) schien die Optimierung der Bevölkerungsernährung von beträchtlicher Bedeutung. So wurde Nahrungsmitteltaylorismus in den 1920ern zu einem wirkmächtigen Konzept. Konsumpräferenzen sollten sich aber schlussendlich auch zur Förderung der Volkswirtschaft ausbilden.

«If every American took one extra bite of meat at every meal, the country soon would eat its way to prosperity.» – C.B. Denman (Federal Farm Board)

Zur Produktion größerer Mengen Hühnerkörper war es notwendig, die landwirtschaftlichen Techniken zu rationalisieren und zu optimieren. Im Zuge der Intensivierung der Nutztierhaltung entstanden Betriebszweige, die sich auf die Produktion der Tiere (Zucht- und Vermehrungsfarmen), Aufzucht und Produktion von Fleisch und Eiern (Legefarmen und Schlachtbetriebe) und Distribution spezialisierten. C.B. Denman, Mitglied des Federal Farm Board der USA, wies im Jahr 1932 darauf hin, dass erhöhter Fleischkonsum und somit erhöhte Produktion unmittelbare Auswirkungen auf andere Wirtschaftszweige wie zum Beispiel die Getreideproduktion und das Transportwesen haben würde. Mittlerweile ist die Geflügelindustrie weltweit so ausdifferenziert arbeitsteilig, dass von Rechtsurteilen und Umstrukturierungen tatsächlich zahlreiche Branchen betroffen sind.

In den USA begann die Integration dieser Tierkörper in industrialisierte Produktionsprozesse einige Zeit früher, die Ergebnisse aus Forschung und Praxis wurden aber alsbald in Europa rezipiert. «Der deutsche Züchterfleiß», so schrieb Georg Hothum 1915, «ahmt[e] bereits emsig englische und amerikanische Art nach», welche er als «geschäftstüchtig» auswies. Das Huhn wurde im Laufe der Zeit ein bestens erforschtes Lebewesen und die Kenntnis rasch in kommerziellen Gewinn übersetzt.

Im Vergleich zum Platz- und Futterbedarf, so war erkannt worden, schienen Hennen (dieser Geschlechterunterschied war und ist von höchster ökonomischer Relevanz) effektive Eiweißproduktion zu gewährleisten – sowohl mit der Ei- als auch mit der Fleischproduktion. Man konnte sie auf engstem Raum halten, was zusammen mit kürzeren Fortpflanzungszyklen als bei Säugetieren wie Rindern oder Schweinen relativ rasche, massenhafte Vermehrung ermöglichte. Außerdem war nachgewiesen, dass Vogelartige anders als Säugetiere relativ inzuchtresistent sind, also keine Inzuchtdepression einsetzt, wie sie bei Säugetieren entsteht, die dann immer kleiner und krankheitsanfälliger werden.

Über die optimierte Nutzung der Körper dieser Tiere wurde aber stets mehr verhandelt als wirtschaftliche und wissenschaftliche Machbarkeit. Einen prominenten Platz bekam das Huhn in diversen Nationalökonomien. Globale Konkurrenzen führten dabei zu Nachahmungsprozessen, die wiederum zu global wirksamen züchterischen Veränderungen führten, welche schließlich die heutigen, global verbreiteten Hybridhühner hervorbrachten.

Hünerrassen
Tableau wirtschaftlich ergiebiger Hühner und Hähne um 1925 aus: G. Hothum: Die wirtschaftliche Geflügelzucht

Der Uniformierung der Hühnerkörper ging ein globales Sammeln von Erbgut voraus. Auf dem europäischen Kontinent hatte es mindestens seit dem 19. Jahrhundert Transferszüchtungen verschiedener Rassen gegeben, oftmals als adeliges Vergnügen. Über Importe der Kolonialmächte wurden im 19. Jahrhundert asiatische Masthuhntypen eingeführt – schwere Tiere, bisweilen Kampfhühner, die prächtige Brustmuskulatur hatten. Diese wurden in Nordamerika wie in Europa in bis dato gewöhnliche Legehuhnrassen eingekreuzt. Aus diesen Kreuzungen entstanden Legehühner, Masthühner und Zweinutzungsrassen.

So sehr die Tiere jedoch der wirtschaftlichen Eigenlogik gemäß genetisch manipuliert und produziert werden, setzt die Biologie des Huhnes der industriellen Produktion gewisse Grenzen der Machbarkeit.

Erwartungen der Produzierenden und Konsumierenden weisen Wechselwirkungen und Dynamiken auf, tendieren aber gleichzeitig zu gewisser Beharrung. Ernährungsgewohnheiten zeugen von etablierter Optik und Haptik von Nahrungsmitteln. Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelte die Industrie Standardhähnchen für Standardverwertungszwecke, schlußendlich auch für standardisierte Geschmäcker – als Grillhähnchen und Hähnchenschenkel, aber auch Eier produzierend, welche bezüglich ihrer Größe und Eiweiß-/Eigelbmenge für industrielle Verwertung in diversen Fertigprodukten (von Kuchen bis zu fleischfreien Würstchen) berechenbar sind. Hähne kamen in dieser Lebensmittelproduktion immer seltener vor.

Abgesehen davon, dass männliche Küken nie zu Legehennen werden, hat der ausgewachsene Hahn längere Beine und ist weniger rund in der Brust. Selbst wenn man nun diese »Bruderhähne« aufziehen würde, wäre noch nicht der potenzielle Absatz gesichert solange Verbraucher auf das inzwischen klassische Masthühnchenprofil zugreifen. Gleichgültig wäre es allenfalls in Nahrungsmitteln, die ohnehin aus Hühnern bestehen, die zuvor durch den Wolf gedreht wurden und deren Körperform und Geschlecht somit nicht mehr erkennbar sind.

Gegenwärtige Diskussionen um den ökologischen und moralischen Gehalt der industriellen Hühnerhaltung spiegeln zum einen die Kontingenz und Beständigkeit moderner Konsummuster – und damit ihrer gesellschaftspolitischen Dimension. Bettet man sie ein in Überlegungen zu Ressourcenknappheit und ökologischer Verantwortung im Anthropozän, fällt auch die beständige Spannung zwischen Überfluss und Mangel im rationalisierten Wirtschaften mit organischer Materie ins Gewicht – eine delikate Verbindung zwischen Biologiefunktionalismus und Wirtschaftsvernunft. Zusammenhänge zwischen Produktion, industrieller Verarbeitung, Distribution und Konsumtion sowie die Definition von »Ding« oder »Lebewesen«, Eigentums- und Rechtsverhältnissen innerhalb dieses Komplexes sind historisch noch nicht erschöpfend untersucht. Deutlich zu erkennen ist indes, dass die Geschichte des industrialisierten Huhns immer schon eine gesellschaftliche und politische war.

Ende der 1950er Jahre, das Jahrzehnt in dem die industrielle Hühnerproduktion auf Basis von Populationsgenetik nochmals intensiviert wurde (in den USA wie in Europa), stellte Hannah Arendt die Überlegung an, dass in einer Massenfabrikation, in der alles Objekt des Konsums ist, Gegenstände und Dinge in einem eigentlichen Sinne überhaupt nicht mehr existieren würden. Die genetisch industrialisierten Hühner sind ebenso dem Willen von Menschen entsprechend gestaltet wie die Bedingungen in denen sie leben und die Zwecke für die sie verwertet werden. Es ist fraglich, ob diese Hühner wie Hähne ohne die menschengemachten Lebensbedingungen (hochsterile Aufstallungen, Brutanlagen, Impfungen, genetische Modifikationen) überhaupt etwas vom Leben hätten, das man ihnen ließe. Im Grunde ist ja nicht nur das Töten industrialisiert, sondern Körper und Leben der Tiere an sich. Demnach lässt sich allerdings das eine ohne das andere nicht verhandeln. Wie abgeklärt man industrielle Tierhaltung und Tierkonsum auch beschreiben möchte – derartige Mensch-Nutztier-Verhältnisse sind im Wesentlichen geprägt von Gewalt und körperlicher Ausbeutung. Das kann man legitim finden, ökonomische Vernunft und Berufsfreiheit der Hühnerindustriellen reichen dabei jedoch allenfalls als Beschreibung, nicht aber als Rechtfertigung der Verhältnisse.

Siegfried Becker erläuterte der Autorin unerlässliche Details, wofür ihm an dieser Stelle sehr herzlich gedankt sei. Er ist Professor für Europäische Ethnologie an der Universität Marburg, und beschäftigt sich nicht nur geschichts- und gesellschaftswissenschaftlich mit Tieren – sondern auch ganz praktisch in der eigenen Haltung von Geflügel, Ziegen, Bienen u.a.m..

Nachweise
Eating our Way to Prosperity, New York Times, 26.03.1932.
A chicken for every pot, Werbeanzeige, New York Times, 30.10.1928.
Hannah Arendt: Vita Activa oder vom tätigen Leben, München 1992 [The human condition, Chicago 1958].
Georg Hothum: Die wirtschaftliche Geflügelzucht, Leipzig 1925 [1915].

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