Die Zeichen der Zeit: Ein Plädoyer für die Stärkung von Grundlagen und Interdisziplinarität

von DAVID BAUER

Wieder einmal eilt die Bucerius Law School dem restlichen Ausbildungskörper voraus. Ein ganz neuer Studiengang soll eingeführt werden: interdisziplinär, mit rechtswissenschaftlichem Kern und ohne Staatsexamen – gut so! In Hamburg liest man die Zeichen der Zeit. Der Kampf um den wehrhaften Rechtsstaat und zugleich das Aufkommen von LLMs rücken dasselbe Problem ins Rampenlicht: Eine Ausbildung, die oft gedankenloses Repetieren von Textmustern fördert, statt echter Urteilskraft. Zeit für eine Neuausrichtung. Zeit, sich auf die Grundlagen zu besinnen und anderen Wissenschaften zu öffnen.

Denn die juristische Ausbildung hat auch außerhalb von Hamburger Privatuniversitäten, um die es hier nicht vornehmlich gehen soll, ein systemisches Defizit: Sie trainiert zu viel Auswendiglernen von Schemata und „Streitständen”, lässt dagegen Urteilsvermögen, kritische Distanz und methodisches Bewusstsein verkümmern. Damit macht sie Jurist:innen blind gegenüber politischer Instrumentalisierung und ersetzbar durch algorithmische Automatisierung.

Wer bildet die Verteidiger:innen des Rechtsstaats aus?

Der Rechtsstaat wird nicht vom Gesetzbuch selbst verteidigt, sondern durch Haltung und Urteilskraft seiner Anwender:innen. Doch genau hier liegt die Leerstelle: Die Ausbildung prägt Jurist:innen, die Wertungen anstandslos hinnehmen, ohne sie selbst einordnen zu können. Sie zeigt Recht nicht als das, was es ist: Gestaltbar, sogar gestaltungsbedürftig – aber folglich auch anfällig für Partikularinteressen. Sie erzieht damit eher künftige Steigbügelhalter als Verteidiger:innen der Freiheit. Die Grundlagenfächer – eigentlich Tor für kritische Reflexion, historische Erfahrungswerte und Kontextualisierung – findet man zugunsten von schematischer Phrasenexegese in Schattenbereiche verdrängt. Woher soll also das Bewusstsein kommen, dass Recht nicht jenseits von gesellschaftlichen Verhältnissen steht?

Auch die fachliche Anleitung in Logik und Sprachkritik kommt reichlich kurz. Freilich ist sprachlich-logisches Argumentieren nicht eine ausschließlich juristische Disziplin. Aber es ist doch so integral, dass Studierende ermutigt werden sollten, über den Tellerrand des Prüfungsstoffs hinaus daran zu arbeiten.

Zwei Fliegen mit einer Klappe

Damit hätte man auch die Antwort auf ein absehbares Problem: Konkurrenz durch Künstliche Intelligenz in klassischen juristischen Aufgabenfeldern.

Denn Menschen besitzen weiterhin Fähigkeiten, die Large-Language-Models (LLMs) strukturell nicht erreichen können:

  1. Intuitives Problembewusstsein – weil KI nicht selbst Probleme erkennt, sondern nur eigens vordefinierte und
  2. Logische Urteilskraftweil sie die Relevanz einzelner Tatsachen nicht werten kann, um kohärente Schlussfolgerungen zu ziehen.

Diese Alleinstellungsmerkmale reichen, um sich als Jurist:in auf den Rücken der KI zu schwingen, statt sie staubend davon galoppieren zu sehen. Denn sie simuliert Verständnis bisher nur und produziert stochastisch plausible Textphrasen, gedankenlos zusammengerechnet in den Schattenreichen unerschöpflicher Datenkatakomben. Ihr Output klingt gut, ohne deshalb notwendigerweise auf den Fall zu passen. Das „Passen“ selbst ist eine Wertung, die Algorithmen nicht verstehen können.

Die Ausbildung produziert heute oft kleine LLMs

Umso tragischer, dass die Ausbildung – besonders in den Examensvorbereitungen – ähnlich funktioniert. Auch hier liegt der Fokus auf Klassiker-Streitständen und Phrasenwissen, nicht strukturellem Verständnis. Kein Wunder, dass Prüflinge gelerntes Wissen textbausteinartig aufs Papier entladen, sobald Stichworte im Sachverhalt ähnlich klingen.

Denn damit tun sie sich regelmäßig einen Gefallen. Viele zeitbedrängte Prüfer:innen honorieren das Auffinden der Streitstände und plakative Aufzählen von Argumenten aus der Musterlösung mehr als eine stringente Falllösung oder eigene Gedanken. Auch dieses System fördert Plausibilität, nicht Verständnis.

Wenn Jurist:innen aber Problembewusstsein und logisches Argumentieren nicht schärfen, unterwerfen sie sich unbemerkt den impliziten Wertungen von Kommentaren, Rechtsprechung oder künftig der Blackbox automatisierter Systeme. Sie reflektieren nicht, was das Recht mit der Gesellschaft macht – und umgekehrt – und laufen Gefahr, nur zu exekutieren, statt zu denken.

Pragmatische Wege der Eingliederung

Ein behutsamer Einstieg könnten Zertifikate für freiwillige Grundlagenveranstaltungen sein, wie sie einige Universitäten bereits anbieten. Längerfristig braucht es aber mehr: eine curriculare Aufwertung der Grundlagenfächer und eine Änderung der Bewertungslogik. Auch Grundlagenfächer lassen sich prüfen, oft sogar besser als dogmatisches Verständnis. Zudem könnten interdisziplinäre Veranstaltungen mit Philosophie, Soziologie oder Ökonomie echte Anschlussfähigkeit erzeugen, auch für späteres berufliches Denken außerhalb klassischer juristischer Bahnen.

Der Vorstoß der BLC hat übrigens auch parallel zu den hier angesprochenen Problemen seine Berechtigung: Fast 40 Prozent der Absolventen eines Jurastudiums arbeiten später nicht als Jurist:innen.

Trotzdem darf ein solcher Sonderstudiengang nicht der einzige Schritt sein. Denn auch die übrigen Jurastudent:innen profitieren davon, über mehr als nur das Recht zu lernen – wenn man ihnen z.B. neben dem Schwerpunkt generell die Möglichkeit eines weiteren interdisziplinären Wahlfachs gibt.

Für die zukünftige Steuerrechtlerin wäre es wertvoller, wenn sie erfährt, was die Zahlen in ihren Bilanzen eigentlich bedeuten, als die Dogmatik der Brandstiftungsdelikte zu verinnerlichen. Für den angehenden Staatsanwalt ist es sinnvoller, ein paar vertiefte Blicke in die Aussagepsychologie zu werfen, als den Unterschied von Gebietserhaltungsanspruch und Gebietsprägungserhaltungsanspruch im Baurecht aufsagen zu können.

Echte und falsche Wachstumsschmerzen

Solche Reformen würden die Stellung der gegenwärtig ausbildenden Volljurist:innen wohl nicht stärken. Mehr Interdisziplinarität bedeutet Einschnitte ins rein juristische Prüfungsmonopol und weniger universellen Geltungsanspruch der Jurist:innen – Genau das ist aber der Punkt.

Man muss dem Umstand, dass Recht ohne das Netz des Lebens um es herum nicht bestehen kann, auch in der Ausbildung Rechnung tragen. Das Zulassen von anderen Stimmen, ihren Methoden und Fragestellungen, bringt einen Gewinn an Pluralität, Tiefe und demokratischer Anschlussfähigkeit. Dass dabei nicht alle in ihrer bisherigen Position gestärkt werden, ist unvermeidbar.

Der Feind ist in erster Linie der überladene materiellrechtliche Prüfungsstoff. Denn durch diesen wird reines Auswendiglernen belohnt. Echte methodische Kompetenz lässt sich aber besser prüfen, wenn die abgefragte Materie nicht schon in Vorlesungen, AGs und Repetitorien mehrfach vorgekaut wurde. Man könnte gelegentlich meinen, die Prüfungsämter gläubten selbst nicht so ganz an eine prüfbare juristische Methode außerhalb vordefinierter Einzeldogmatiken.

In dem Zusammenhang ist aber noch eine gängige Vorstellung mit Nachdruck zu bestreiten, die seit langem, zumindest im Subtext, Reformvorschläge abwürgt. Unter den Entscheider:innen scheint fast Konsens zu sein, dass die gegenwärtige Ausbildung gerade aufgrund ihrer juristischen Abstraktheit und des eintönigen, oft inhaltsleeren Wiederkauens eine schwer greifbare, aber reale Fähigkeit hervorbringe: Sitzfleisch, die Fähigkeit, sich unter Zeitdruck in kleinteilige Rechtslagen einzuarbeiten und sie strukturiert zu behandeln.

Das BVerwG betont zwar schon seit dem 20.09.1984 (7 C 57/83, BVerwGE 70, 143), wenn auch in leicht anderem Kontext, dass Prüfungsgegenstand juristische Fähigkeiten sind, nicht mentale Belastbarkeit.

Trotzdem haben Lernstress und Gewöhnung daran nicht nur negative Konsequenzen, soviel stimmt. Reformen zielen allerdings ohnehin nicht notwendigerweise auf Bequemlichkeit.

Wie vorgeschlagen machen sie das Studium nicht einfacher. Auch das Verstehen von Grundlagenfächern und logisches Argumentieren können – und sollten(!) – anspruchsvoll geprüft werden. Die Sorge, dass jede ernsthafte Änderung die „nötige Härte“ aufweichen wird, ist unbegründet.

Eine Chance

Die Frage ist, wofür die Anstrengung in Zukunft stehen soll: Für Disziplin, ja. Aber auch für gedankliche Tiefe. Für methodische Reflexion. Für die Fähigkeit, Wertungen nachzuvollziehen, Alternativen zu denken und zwischen Recht und Gerechtigkeit zu unterscheiden. Eine solche Ausbildung fordert viel. Aber sie gibt auch mehr zurück: souveränere Argumente, weniger Phrasendrescherei, mehr echtes Urteilsvermögen.

Und sie verlangt Mut von den Entscheider:innen, neue Wege zu gehen.

Wenn wir wollen, dass Jurist:innen den Rechtsstaat verteidigen und nicht nur Algorithmen folgen, sondern sie prüfen, justieren und steuern – dann muss man auch das Denken selbst in der Ausbildung erlauben und fördern.

Dieser Beitrag gibt ausschließlich die persönlichen Überlegungen des Verfassers wieder und steht nicht notwendigerweise für die Positionen der von ihm vertretenen Gremien und Organisationen.

Zitiervorschlag: Bauer, David, Die Zeichen der Zeit: Ein Plädoyer für die Stärkung von Grundlagen und Interdisziplinarität, JuWissBlog Nr. 65/2025 v. 18.07.2025, https://www.juwiss.de/65-2025/

Dieses Werk ist unter der Lizenz CC BY-SA 4.0 lizenziert.

Ausbildungsreform, Grundlagenfächer, Interdisziplinarität, KI, Wehrhafter Rechtsstaat
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