Erkundungsreisen nach Syrien und der Verlust der Flüchtlingseigenschaft

von VINCENT HOLZHAUER

Mitte Januar 2025 hat die Bundesinnenministerin vorgeschlagen, syrischen Staatsangehörigen die vorübergehende Reise in ihr Heimatland zu erlauben. Dies zieht weitgehende Kritik auf sich. Doch eine genaue Analyse zeigt, dass die Rechtslage nicht eindeutig ist und eine pragmatische Lösung im Interesse aller Beteiligten ist.

Die migrationspolitische Sackgasse

Nach dem Sturz des Assad-Regimes hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Bearbeitung weiterer Asylanträge ausgesetzt. Auch hinsichtlich bereits erteilter Schutztitel gibt es derzeit keine Bewegung: Die Lage in Syrien ist zu unübersichtlich, um über einen Widerruf zu entscheiden, auch wurde zurecht darauf hingewiesen, dass die erforderliche hunderttausendfache Einzelfallprüfung die Kapazitäten des BAMF übersteigt. Eine – politisch vielfach gewollte – Rückkehr syrischer Staatsangehöriger nach Syrien ist damit vorerst nur durch deren freiwillige Ausreise erreichbar. Schon einen Tag nach dem Sturz des Regimes forderte Jens Spahn, für die Rückkehr Charterflüge und Startgeld bereitzustellen.

Nun will das Bundesinnenministerium (BMI) prüfen, ob zur Förderung der freiwilligen Heimkehr Erkundungsreisen erlaubt werden sollen, ohne dass Syrer ihren Schutzstatus verlieren. Dazu lässt sich das BMI zitieren: „Es ermöglicht erst freiwillige Rückkehr nach Syrien, wenn sich Menschen auch ein Bild machen können, ob Häuser noch stehen […] und ob sie in ihrer Heimat wirklich sicher sind“. Dies wird vor allem seitens der Union stark kritisiert. Als „völlig bizarr“ und als ein Zeugnis „absoluter Unkenntnis der Grundlagen unseres Asylrechts“ bezeichnet Bayerns CSU-Landtagsfraktionschef Klaus Holetschek den Vorschlag. Nach seinem Verständnis dürften nur deutsche Behörden über das Bestehen eines Schutztitels bestimmen, nicht Schutzsuchende selbst.

Der Verlust des Schutzstatus

Schutzsuchende aus Syrien erhielten in Deutschland bisher in der Regel eine Aufenthaltserlaubnis nach einer vorigen Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär Geschützte durch das BAMF. Im Dezember 2024 besaßen nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes 88 % von 712 000 syrischen Schutzsuchende einen solchen Schutzstatus. Mit 39 % bzw. 279 000 der Schutzsuchenden bildeten Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) davon die größte Gruppe. Ein Verlust der Aufenthaltserlaubnis ohne Wegfall des zugrundeliegenden Schutzstatus tritt bei kurzfristigen Erkundungsreisen nicht ein: Das Aufenthaltsgesetz kennt mit § 51 Abs. 1 Nr. 6, 7 AufenthG nur Erlöschensgründe des Aufenthaltstitels, wenn der Ausländer dauerhaft ausreist. Der Aufenthalt in Deutschland wird aber auch unrechtmäßig, wenn der Aufenthaltstitel widerrufen wurde (§ 51 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG), wozu die Ausländerbehörde im Rahmen ihres Ermessens berechtigt ist, wenn der zugrundeliegende Schutzstatus wegfällt (§ 52 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AufenthG). Dieser Fall wird bei Erkundungsreisen diskutiert, da der Schutzstatus als Flüchtling widerrufen werden könnte.

Die Neuregelung des § 73 AsylG aus dem Oktober 2024

Relevant sind für den hier diskutierten Fall die Widerrufsgründe des § 73 AsylG. Bisher wurde der Fall der Ausreise in den Heimatstaat der Person mit Schutzstatus ausschließlich durch § 73 Abs. 1 AsylG geregelt. Ein Verlust der Flüchtlingseigenschaft tritt einerseits nach § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AsylG ein, wenn der Ausländer „sich freiwillig erneut dem Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt“. Jedoch war der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft wegen der Ausreise in das Herkunftsland bisher an der Spezialregelung des § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AsylG zu messen, der ein Schutzsuchen erst bei der Rückkehr in das Herkunftsland und einem zusätzlichen Niederlassen dort vermutet. Erforderlich war damit bisher die Absicht, dort einen Wohnsitz zu nehmen und eine Existenz aufbauen. Auch ein Flüchtling, der sich ohne sittlichen Zwang vorübergehend in seinen Heimatstaat begibt, unterstellt sich grundsätzlich nicht dessen Schutz. Unregelmäßige oder einmalige Reisen rechtfertigen grundsätzlich keinen Widerruf des Flüchtlingsstatus, wie auch das BAMF bisher bestätigte (hier, S. 25).

Doch wurde im Oktober 2024 als unmittelbare Reaktion auf den Anschlag von Solingen (Gesetzesentwurf, S. 20) § 73 AsylG um einen Abs. 7 ergänzt, der bei einer Ausreise in den Herkunftsstaat den Wegfall der Voraussetzungen der jeweiligen Schutzstatus vermutet, solange die Reise sittlich nicht zwingend erforderlich ist. Eine nicht sittlich zwingend erforderliche Ausreise nach Syrien berechtigt das BAMF in der Regel damit auch zum Widerruf der Flüchtlingseigenschaft. Die Bundesregierung begründete diese Gesetzesänderung damit, dass durch eine solche Vermutung der bestehende Widerrufsgrund des § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AsylG konkretisiert würde (Gesetzesentwurf, S. 26), der aber bisher die Reise in den Heimatstaat nicht umfasste. Unklar ist auch, in welchen Fällen sittliche Gründe für eine Ausreise vorliegen. Der Gesetzesentwurf nennt zwar die schwere Krankheit und den Tod naher Verwandter als Beispiele für eine sittlich gebotene Ausreise (Gesetzesentwurf, S. 25), ohne aber das erforderliche Näheverhältnis oder das Maß der erforderlichen Krankheit zu definierten. Daher wird die Umsetzung der Regelung durch das BAMF bei der Aberkennung des Schutzstatus selbst in diesen Fällen als kaum vorhersehbar bezeichnet (hier, S. 12).

Völker- und Europarechtswidrigkeit der Regelung

Die Regelung des § 73 Abs. 7 AsylG ist damit jedenfalls systematisch fragwürdig, da der gleiche Sachverhalt weiterhin durch § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AsylG mit unterschiedlichen Voraussetzungen geregelt wird. Der Widerrufsgrund des § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AsylG entspricht jedoch Art. 1 C Nr. 4 GFK beziehungsweise Art. 11 Abs. 1 lit. d der Qualifikationsrichtlinie. Auch die Ausnahmeregelung des § 73 Abs. 7 S. 2 AsylG bezüglich sittlicher Gebotenheit der Ausreise spiegelt sich nicht in Europarecht und GFK. Damit steht die neue Regelung im Widerspruch zur GFK und der Qualifikationsrichtlinie. Diese Ansicht teilen auch das Deutsches Institut für Menschenrechte (hier, S. 7) und die Gesellschaft für Freiheitsrechte (hier, S. 11) in ihren Gutachten zum Gesetzesentwurf. Da ein Fall des Schutzsuchens nicht bei einer vorübergehenden Einreise vorliegt, müsste die Regelung europa- und völkerrechtskonform hinsichtlich des Erfordernis der dauerhaften Niederlassung ausgelegt werden, wenn nicht sogar aufgrund des Anwendungsvorranges des Europarechts ganz außer Acht gelassen werden. Letzteres wird wohl erst der EuGH feststellen müssen, sodass bis dahin die Rechtsunsicherheit andauert.

Neuregelung erforderlich

Die eilige gesetzgeberische Handlung bei der Neufassung des § 73 AsylG führt das BMI in die missliche Lage, eine nur drei Monate alte Regelung aussetzen zu wollen. Dennoch ist die Suche des BMI und BAMF nach „pragmatischen Wegen“ zur Lösung dieses Problems zu begrüßen. Dabei ist aber unklar, wie eine solche Lösung gegen den Wortlaut des § 73 Abs. 7 AsylG aussehen soll, wenn der weitreichende Schritt der Nichtanwendung außen vor bleiben soll. Kurzfristig könnte das BMI nicht-bindende Anwendungshinweise zum Umgang des § 73 Abs. 7 AsylG erlassen, diese werden aber trotz ihrem faktischen Gewicht die Rechtsunsicherheit für die syrischen Staatangehörigen nicht beseitigen. Es wäre daher nicht davon auszugehen, dass eine Vielzahl von Erkundungsreisen stattfände.

Jedenfalls geht die Kritik der Union ins Leere: Die Aussetzung einer erst drei Monate bestehenden Regelung widerspricht nicht den Grundlagen des Asylrechts. Diesen Befund stützt der Hinweis, dass eine kurzfristige Heimkehr derzeit für Geflüchtete aus der Ukraine möglich ist und in den Neunzigern für Geflüchtete aus Bosnien möglich war. Auch Kommentatoren wie Thorsten Frei verkennen, dass die Regelung nicht etwa die Gefahrenprognose für Syrien betrifft, sondern das Vorliegen der Schutzsuche der Person in ihrem Herkunftsstaat. Diese Prognose wird nach § 73b Abs. 1 AsylG durch das BAMF etwa auf Basis der Lageberichte des Auswärtigen Amtes erstellt. Diese Regelung auszusetzen, unterläuft also nicht die Rolle des BAMF.

Es ist zu hoffen, dass der Gesetzgeber diese Komplikationen zum Anlass nimmt, Änderungen im Migrationsrecht in Zukunft bedachter anzugehen. Im konkreten Fall wäre eine grundlegende Neuregelung wünschenswert, die als reine Verfahrensregelung ohne Vermutungswirkung im Falle der kurzen Ausreise in das Heimatland eine Einzelfallprüfung durch das BAMF anstößt, in denen dieses nicht das Schutzsuchen, sondern die Gefahrenprognose für das Heimatland prüft (genauer hier, S. ‚33).

Zitiervorschlag: Holzhauer, Vincent, AErkundungsreisen nach Syrien und der Verlust der Flüchtlingseigenschaft, JuWissBlog Nr. 8/2025 v. 04.02.2025, https://www.juwiss.de/8-2025/

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