von ANNE MEIKE RIEBAU
Die hohen Flüchtlingszahlen aus Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als Teil des ehemaligen Jugoslawiens waren im Jahr 1993 ein Anlass für die Einführung der sogenannten sicheren Drittstaatenregelung im Zusammenhang mit der Änderung von Art. 16 GG. Zwanzig Jahre später will die Bundesregierung ebendiese Länder nun in die Liste der sicheren Herkunftsstaaten aufnehmen. Diese Neubewertung ist weniger ein Anlass zur Freude, eher ein Fall von historischer Ironie, der europarechtliche Fragen aufwirft.
Historischer Hintergrund der „sicheren Drittstaaten“: zu viele Asylsuchende
Der Begriff des „sicheren“ Staats ist unmittelbar im Grundgesetz in Art. 16a Abs. 3 geregelt: Danach gelten Staaten „sicher“, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, dass weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfinden. Der deutsche Gesetzgeber unterscheidet im Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) zwei Arten von sicheren Staaten: sichere Drittstaaten und sichere Herkunftsstaaten. An diese beiden Kategorien sind unterschiedliche Rechtsfolgen geknüpft. Der Asylantrag einer Person, die über einen sicheren Drittstaat eingereist ist, wird in Deutschland gar nicht erst zur Prüfung zugelassen, § 26a AsylVfG – der Betroffene wird in der Regel an der Grenze abgewiesen. Wenn ein Land hingegen als sicheres Herkunftsland eingestuft wird, hat dies zur Folge, dass Asylanträge von dort stammenden Menschen als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt werden, § 29a AsylVfG. Diese gesetzliche Vermutung besteht solange, bis ein Ausländer aus einem solchen Staat glaubhaft Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, dass er entgegen dieser Vermutung doch politisch verfolgt wird. Die Einstufung eines Landes als sicher führt dazu, dass die Asylverfahren erheblich schneller abgewickelt werden können: Einer Begründung für die behördliche Entscheidung bedarf es nicht mehr. Folge dieser Ablehnung ist der Erlass einer Abschiebungsanordnung. Den Betroffenen wird eine Woche Zeit gegeben, um auszureisen. Die Klagefrist beträgt ebenfalls eine Woche und der Klageantrag hat keine aufschiebende Wirkung. Dahinter steht der Gedanke, dass der Betroffene im Fall der Einreise über einen sicheren Drittstaat den Asylantrag dort hätte stellen können, ohne Gefahr zu laufen, dass dies eine Absenkung des Schutzniveaus zur Folge hat. In sicheren Herkunftsstaaten hingegen wird vermutet, dass es dort gar nicht erst zu Fällen von Verfolgung im Sinne des verfassungsmäßig garantieren Asylrechts komme. Nach deutschem Recht zählen zu den sicheren Drittstaaten alle Staaten der EU sowie Norwegen und die Schweiz, zu den sicheren Herkunftsstaaten gehören neben den EU-Mitgliedsstaaten Ghana und Senegal (Anlage II AsylVfG).
Das Konzept der sicheren Staaten wurde im Jahr 1993 im Zusammenhang mit dem sogenannten Asylkompromiss eingeführt, der neben der Grundgesetzänderung des Art. 16 GG (nun Art. 16a GG) weitere umfassende Verschärfungen des Ausländer-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrechts beinhaltete. Anlass für die Novellierung war auch der rapide Anstieg von Asylsuchenden in Deutschland, die im Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens nach Deutschland flohen. Die Bundesregierung begründete die Änderung damit, dass hierdurch ein besserer Verteilmechanismus erreicht werden könnte – Ziel war in erster Linie eine Absenkung der Zahl der Asylsuchenden, eine „bessere Lastenverteilung“ im Hinblick auf ein künftiges gemeinsames europäisches Asylsystem sowie eine „bessere Steuerung der Flüchtlingsströme“. Das BVerfG überprüfte die Sichere-Herkunftsstaaten-Regelung im Jahr 1996 und befand sie für verfassungsgemäß. In zahlreichen Gerichtsurteilen jüngeren Datums durch das BVerfG ebenso wie durch erstinstanzliche Gerichte wurden aber zahlreiche Rückführungen in andere Staaten, die als „sicher“ eingestuft sind, verhindert: Ein Beispiel ist die Entscheidung des VG Stuttgart über eine geplante Rückführung nach Ungarn im Jahr 2012: Das Gericht hatte Zweifel, ob die Zustände den menschenrechtlichen Standards entsprechen, und attestierte „systemische Mängel“ im Asylsystem.
Die geplante Erweiterung der Liste der sicheren Herkunftsstaaten
Dennoch hält die Bundesregierung an dem Konzept fest und will die Liste der sicheren Herkunftsstaaten erweitern: Der aktuelle Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung und der Referentenentwurf „eines Gesetzes zur Einstufung weiterer Staaten als sichere Herkunftsstaaten und zur Erleichterung des Arbeitsmarktzugangs für Asylbewerber und geduldete Ausländer“ vom Februar 2014 sehen vor, dass auch Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien künftig dazu gehören sollen – der ursprüngliche Vorschlag, auch Montenegro und Albanien als sicher zu listen, wurde wieder fallen gelassen.
Diese Entwicklung könnte auf den ersten Blick als positives Ereignis gewertet werden: Es könnte ein Zeichen des Erfolgs dieser drei noch jungen Demokratien sein und eine Anerkennung des Maßes an Rechtsstaatlichkeit, welches sich in der Durchführung der Asylverfahren zeigt. Verbesserte Verwaltungsstrukturen waren aber weniger der Grund für diese Einstufung: Erneut standen prozess- und verfahrensökonomische Gründe im Vordergrund. Der Gesetzesentwurf nennt als Motive für die geplanten Änderungen die gestiegenen Asylbewerberzahlen und die dadurch entstehenden Kosten sowie das Ziel, die Asylanträge schneller abarbeiten zu können. In dem Referentenentwurf heißt es dazu: „durch die zahlreichen, zumeist aus nicht asylrelevanten Motiven gestellten Asylanträge werden Bund, Länder und Kommunen mit erheblichen Kosten für die Durchführung der Verfahren und für die Versorgung der sich in Deutschland aufhaltenden Asylsuchenden belastet.“
Das Problem wird zur Lösung
Tatsächlich ist die Zahl der Asylerstanträge von Menschen aus diesen drei Ländern in den vergangenen fünf Jahren stark gestiegen: Während 2009 lediglich 700 Anträge gestellt wurden, so ersuchten im Jahr 2012 bereits 20.000 Menschen aus diesen drei Ländern Asyl. Die Mehrzahl dieser Anträge stellen Menschen, die der ethnischen Minderheit Roma und Sinti angehören. Diese sehen sich in den drei Ländern oftmals einer Vielzahl an Diskriminierungen ausgesetzt, wie eine Studie des European Asylum Procedure Office (EAPO) feststellte: Dazu gehören Wohnungs- und Wasserentzug, soziale Ausgrenzung und mangelnde Gesundheitsversorgung; allein die Kindersterblichkeit ist in Mazedonien doppelt so hoch wie bei der restlichen Bevölkerung. Die Bundesregierung argumentiert, diese Diskriminierungen erfüllten nicht das Merkmal der „staatlichen Verfolgung“, auf das es dem deutschen Asylrecht nach ankommt. Hier aber muss bedacht werden, dass das EU-Recht dem weiteren Begriff der Verfolgungshandlung folgt, der beispielsweise Art. 9 der sogenannten EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU zugrunde liegt. Entsprechend dem Anwendungsvorrang muss dieser weite Begriff auch für die deutsche Regelung als Rechtsmaßstab dienen. Der Begriff der Verfolgungshandlung umfasst auch kumulative Diskriminierungen, die einzeln für sich genommen noch keine Verfolgungshandlung darstellen würden, in der Zusammenschau aber als Verfolgungshandlung qualifizieren. Diese müssen auch nicht notwendigerweise von einem staatlichen Akteur ausgehen, entsprechend dem Gedanken der Schutzlehre. Dieses Ergebnis wurde durch die Studie des EAPO bestätigt, „cumulative measures of discrimination may amount to persecution, which is a ground for protection“. Ob die jeweiligen Diskriminierungen, denen eine Person ausgesetzt ist, als Verfolgungshandlung qualifizieren, kann immer nur eine Prüfung des Einzelfalls ergeben. Diese Einzelfallprüfung wird aber verhindert durch die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat.
Die Art und Weise der Bestimmung, welche Länder als sicher gelten sollen, schreibt das GG nicht vor. Der Referentenentwurf legt aber nahe, dass der Anlass für die Heraufstufung in erster Linie die genannten verfahrensökonomischen Beweggründe waren und keine nennenswerte Verbesserung der dortigen Verhältnisse. Überspitzt ausgedrückt: Ob ein Staat sicher ist, sollte nicht aus Kostengründen entschieden werden, sondern aufgrund der dortigen Sicherheitslage. Der Referentenentwurf besagt hierzu, dass die Bundesregierung sich „anhand der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse ein Gesamturteil über die für Verfolgung bedeutsamen Verhältnisse in dem jeweiligen Staat gebildet [hat]“. Das Unionsrecht aber gibt den Mitgliedsstaaten in Art. 30 Abs. 5 RL 2005/85/EG auf, dass verschiedene Informationsquellen, insbesondere Informationen anderer Mitgliedstaaten, des UNHCR, des Europarates und anderer Organisationen heranzuziehen sind. Ein Gutachten der Flüchtlingsschutzorganisation Pro Asyl kommt beispielsweise zu dem Ergebnis, dass Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina nicht als sicher zu klassifizieren sind.
Bereits jetzt werden die meisten der Asylanträge aus diesen drei Ländern abgelehnt – aber eine Begründung ist nach wie vor erforderlich, aus der hervorgeht, dass die Umstände des Einzelfalls gewürdigt wurden. Dies müssten die Behörden nach der Einstufung der drei Länder als sichere Herkunftsstaaten nicht mehr darlegen. Aus der Tatsache, dass bereits jetzt die meisten Asylanträge abgelehnt werden, kann aber nicht gefolgt werden, dass eine Einzelfallprüfung deshalb obsolet wäre – insbesondere, wenn die Widerlegbarkeit der Vermutung der Sicherheit unmöglich ist (vgl. ausführliche Darstellung der Debatte unter Weinzierl, Der Asylkompromiss 1993 auf dem Prüfstand, Studie des Deutschen Instituts für Menschenrechte, 2009).
Bereits diese kurzen Ausführungen zeigen, dass die Einstufungen von Mazedonien, Serbien und Bosnien-Herzegowina als sichere Herkunftsstaaten wenig Anlass zur Freude bieten – sie werfen in erster Linie europarechtliche Bedenken auf. Daneben ist diese Gesetzesänderung ein Beispiel, wie im Verlauf von nur 20 Jahren der Grund für ein Problem zu dessen Antwort (gemacht) wird.
Anne Meike Riebau ist Referendarin am Kammergericht zu Berlin und promoviert an der Universität Salzburg im Bereich des Europäischen Migrations- und Asylrechts. Daneben gehört sie zum Vorstand der Refugee Law Clinic Berlin e.V. der Humboldt-Universität zu Berlin.
3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
[…] // Anne Meike Riebau schüttelt auf JuWiss den Kopf über den Plan der Bundesregierung, Bosnien, Serbien und Mazedonien zu sicheren […]
[…] Neue sichere Herkunftsstaaten: Ein Problem wird zur Lösung – Bereits diese kurzen Ausführungen zeigen, dass die Einstufungen von Mazedonien, Serbien und Bosnien-Herzegowina als sichere Herkunftsstaaten wenig Anlass zur Freude bieten – sie werfen in erster Linie europarechtliche Bedenken auf. Daneben ist diese Gesetzesänderung ein Beispiel, wie im Verlauf von nur 20 Jahren der Grund für ein Problem zu dessen Antwort (gemacht) wird. […]
Sehr geehrte Damen und Herren,
können Sie mir bitte sagen, ob die Russische Föderation mittlerweile zu den sogen. „Sicheren Drittstaaten“ gehört`?
Vielen Dank.
Grüße aus Köln
Martin Pfeier