Die Rückbindung von Parlamentsabgeordneten an die Partei, der sie regelmäßig angehören, sorgt oftmals für Zündstoff. Besonders erregt es die politischen Gemüter, wenn Abgeordnete gar aus Fraktion und Partei austreten und sich einer anderen anschließen – so jüngst geschehen im Fall der Abgeordneten Elke Twesten in Niedersachsen, die von den Grünen zur CDU(-Fraktion) wechselte und so eine Regierungskrise samt Neuwahlen beschwor.
Fraktionswechsel als Legitimationsproblem?
Die Rechtslage ist klar. Nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG bzw. den einschlägigen landesverfassungsrechtlichen Normen sind die Abgeordneten „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Sie üben ein freies Mandat aus. Auch der Wechsel der Fraktion ist vor diesem Hintergrund nicht zu beanstanden. Dennoch wird mit Rekurs auf demokratische Erwägungen moniert, ein Fraktionswechsel sei jedenfalls nicht legitim. Es wird ein „Demokratieverlust“ attestiert.
Betont wird dabei vor allem, es sei zwischen einem direkt gewählten Abgeordneten und einem „Listenkandidaten“ zu unterscheiden. Diese Behauptung ist freilich in rechtlicher Hinsicht mit Blick auf den gleichen Status aller Abgeordneten nicht zu halten.
Sind danach rechtliche Fragen in diesen Zusammenhängen vordergründig leicht unter Verweis auf die Statusrechte der Abgeordneten aufzuklären, bleibt – auch wenn man ausblendet, was hiervon der einsetzenden Wahlkampfrhetorik geschuldet ist – die Frage virulent, wie solche Vorgänge mit Blick auf das Wahlrecht und das Demokratieprinzip, auf die der schlichte Rekurs auf die Freiheit des Mandats zunächst die Sicht verstellt, zu bewerten sind. Oder weiter zugespitzt: Kaschiert der Schutz des freien Mandats ein Legitimationsproblem? Ganz grundlegend stellt sich hiernach die Frage nach dem demokratischen Status bzw. der Legitimation des „Listenabgeordneten“. Diese ist mit Blick auf den Listenmandatsbewerber zu rekonstruieren, ohne dabei die konkreten Umstände des Falls Twesten politisch bewerten zu wollen.
Verhältniswahl als Personenwahl
Das Bundeswahlgesetz (und korrespondierend die Landeswahlgesetze) gestalten auch die Wahl per Zweitstimme als Personenwahl aus. Entgegen einem landläufigen Missverständnis, das eine Diskrepanz zwischen öffentlicher Wahrnehmung und tatsächlicher Rechtslage begründet, werden auch mit der Zweitstimme nicht etwa Parteien gewählt, die die von ihnen errungenen Mandate besetzen. Zwar stellen die Parteien Listen mit Bewerbern auf. In der Aufstellung der Landeslisten findet die von Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG geforderte Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung eine wesentliche Ausprägung. Entsprechend sollten die Aufstellungsverfahren strengen Maßstäben unterliegen. Gleichwohl werden nur bestimmte Personen gewählt. Durch die Listen wird zwar die Reihenfolge ihres Mandatserwerbs bestimmt wird. Es ist aber nicht einmal Voraussetzung für die Aufstellung eines Listenkandidaten, dass dieser der entsprechenden Partei angehört (§§ 21 Abs. 1, 27 Abs. 5 BWahlG), wenn dies auch regelmäßig der Fall ist.
Dass Personen und nicht Parteien gewählt werden, gibt nicht nur der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, sondern bereits der Wortlaut des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG zwingend vor. Die Legitimationskette verläuft vom Wähler direkt zum Abgeordneten, ohne Zwischenschaltung seiner Partei. Folgerichtig müssen die Wahllisten der Parteien vor dem Wahltag unabänderlich feststehen, sie sind danach jedem Einfluss entzogen. Die Maßgeblichkeit der Personen innerhalb der zu wählenden Liste offenbart sich auch im namentlichen Teilabdruck der Kandidaten auf dem Wahlzettel, § 45 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 BWO. Selbst kleinere Fehler in der Schreibweise der Namen der Personen begründen die Sorge vor einer Wahlanfechtung.
Der Eindruck des Wählers, er wähle eine Partei bzw. deren Inhalte, steht dem nicht entgegen: Es wird ein bestimmtes personales Setting bestätigt, von dem die Partei am Tag der Listenaufstellung überzeugt ist bzw. das sie für die Verwirklichung ihrer Programmatik für geeignet hält – nicht ein bestimmter Inhalt selbst.
Soweit man bestimmte politische Inhalte als mit der im Wahlakt ausgedrückten Legitimation verbunden ansehen will, kann sich dies ohnehin nur auf den singulären Zeitpunkt der Wahl beziehen: Die Erfahrung lehrt, dass Parteien ihre Inhalte auch in der laufenden Legislaturperiode wandeln – sei es durch äußere Einflüsse, die bisherige Bewertungen ändern, sei es durch gänzlich neu gestellte Herausforderungen. Vollzieht ein Abgeordneter einen Linienwechsel nicht mit, fragt sich, wer in diesem Fall vom Wählerwillen abweicht und dadurch Legitimation einbüßt: der Abgeordnete oder die Partei? Dies zu bestimmen dürfte – schon aufgrund der variablen Motivation der Wähler – kaum möglich sein.
Genauso irreführend ist die Annahme, bestimmte Koalitionsbildungen seien „gewählt“ worden bzw. hätten eine Legitimation erhalten. Gerade der aufziehende Bundestagswahlkampf zeigt, dass die Parteien nicht stets mit einer festen Koalitionsaussage in den Wahlkampf ziehen. Mögen auch Präferenzen bestehen, so werden doch letztlich diejenigen Koalitionen gebildet, die eine regierungstragende Mehrheit garantieren – die Entscheidung hierüber trifft aber der Wähler nur mittelbar durch die Sitzverteilung; letztlich liegt der Ball im Spielfeld der Abgeordneten, die sich entschließen, eine bestimmte Koalition zu unterstützen, eine andere hingegen nicht.
Konsequenzen aus der Betrachtung als Personenwahl
Danach lässt sich die Wahl auch mittels der Zweitstimme aus rechtlicher Sicht eher als Personen-, denn als Parteiwahl begreifen. Legitimiert werden Personen, nicht bestimmte Inhalte oder Mehrheiten. Die Freiheit des Mandats, die den gewählten Abgeordneten schützt, ist die bloße Fortsetzung dieses Befunds in der parlamentarischen Praxis. Es wäre ohnehin paradox, würde diese „Magna Charta des Parlamentsrechts“ demokratisch nicht legitimiertes Verhalten schützen.
Daraus folgt erstens, dass sich der Legitimationsakt im Listenwahlverfahren auf zwei Zeitpunkte verteilt: jenen durch die Partei bei der Listenaufstellung sowie die Wahlhandlung des Wählers. Konsequenterweise kann ein weiterer Einfluss der Partei auf Mandatsträger bzw. eine wechselseitige Rückbindung auch in legitimatorischer Hinsicht nicht erfolgen. Dass für den Fall des Nachrückens eines Listenmandatsbewerbers nach § 48 Abs. 1 S. 2 BWahlG eine fortdauernde Parteimitgliedschaft gefordert wird und ein Austritt aus der Partei damit gleichzeitig als antizipierter Mandatsverzicht aufgefasst wird, kann mit Blick auf Art. 21 GG für verfassungsgemäß gehalten werden, es ist aber zumindest widersprüchlich.
Daraus folgt zweitens, dass die propagierte Unterscheidung von Direkt- und Listenmandat nicht trägt. Auch ein Listenmandatsabgeordneter ist nicht nur innerparlamentarisch durch das freie Mandat geschützt, sondern demokratisch als Person legitimiert, nicht als bloßer Vasall seiner Partei.
Wenn angenommen wird, der Fraktionswechsel eines Listenabgeordneten verzerre die Mehrheitsverhältnisse im Parlament, der eines Direktkandidaten jedoch nicht, so ist dies spätestens seit Einführung des Vollausgleichs von Überhangmandaten nicht mehr zutreffend: Direktmandate werden auf die der Parteiliste nach den Zweitstimmen zustehenden Sitze vollauf angerechnet, nehmen also am Proporz in gleicher Weise teil.
Conclusio: Auch dem Listenmandatsinhaber steht der Fraktionswechsel offen. Er ist dabei nicht nur statusrechtlich in gleicher Weise frei wie der direkt Gewählte. Der Wechsel ist auch unter Legitimationsgesichtspunkten nicht bedenklich. Fragen des „politischen Anstands“ sind hiervon zu trennen und freilich jedem selbst überantwortet.
4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Ein schöner Beitrag. Leider (und das ist eher ein Problem des BVerfG denn des Autors) wird gerade das freie Mandat und die Fiktion einer Personen-, und keiner Parteienwahl gerade dann aufgelöst, wenn eine Partei vom BVerfG verboten wird. Denn dann verlieren ja alle Abgeordneten dieser Partei ihr Mandat.
Provokant gefragt: Nehmen wir an, ein NPD-Abgeordneter wechselte vor einem Verbot dieser Partei Fraktion und Partei, würde er oder sie das Mandat ebenfalls verlieren?
Danke für diesen Hinweis. Damit ist in der Tat ein weiterer Punkt der Verquickung von Parteimitgliedschaft und Abgeordnetenmandat angesprochen, ich meine jedoch, dass der Fall etwas anders liegt.
Die Beantwortung der Frage ist nach einfach-gesetzlicher Lage eine typische Juristenantwort: Das hängt davon ab. § 46 Abs. 4 S. 1 BWahlG stellt darauf ab, ob die oder der Abgeordnete im Zeitraum zwischen Stellung des Verbotsantrags und der Entscheidung des BVerfG Parteimitglied war. Anderenfalls bleibt das Mandat unberührt. Auf die Fraktionszugehörigkeit und darauf, ob die oder der Abgeordnete über die entsprechende Parteiliste gewählt worden ist, kommt es gar nicht an.
Hier stellt sich also nicht die Frage, ob bzw. inwiefern die oder der Abgeordnete „für“ eine Partei bzw. deren Inhalte gewählt worden ist. Entscheidend ist, ob sie oder er sich im relevanten Zeitraum durch seine Parteimitgliedschaft als verfassungswidrig erkannte politische Ziele zu Eigen gemacht hat. Insoweit ließe sich sagen, die verfassungswidrigen Ziele der Partei „schlagen durch“ auf die Person des Abgeordneten. So gelesen lässt sich der Mandatsverlust mE auch mit dem Verständnis der Personenwahl vereinbaren.
Lieber Benedikt,
vielen Dank für den spannenden Artikel – die Lektüre hat Spaß gemacht. Eine Frage stelle ich mir allerdings: Ist die Empörung über das vermeintlich undemokratische Verhalten von Frau Twesten nicht primär eine Empörung über fehlenden politischen Stil – und fällt damit in die Kategorie, die du im letzten Absatz bewusst ausklammerst? Man könnte diejenigen, die Frau Twestens Vorgehen als undemokratisch bezeichnen, so verstehen, dass sie ihrem Fraktionswechsel die (verfassungsrechtliche) Legitimation absprechen – aber liegt es nicht näher, in dem „undemokratisch“-Vorwurf eher einen Vorwurf fehlenden demokratischen Anstands zu sehen? Was wiederum ein Vorwurf wäre, der mE nicht unberechtigt ist: Du argumentierst überzeugend, dass auch die Listen-Mandatierten als Person – nicht nur als Listennummer ihrer Partei – legitimiert sind. Verfassungsrechtlich würde ich dir da zustimmen, aber rein politisch-realistisch: Auf dem Stimmzettel ist, wie du ja sagst, nur der Anfang der Liste abgedruckt, zu dem Frau Twesten nicht gehörte. Für die weiteren Personen auf der Liste dürfte doch eher gelten, dass sie gewählt werden, weil sie auf der Liste der Grünen stehen, und nicht, dass die Liste der Grünen gewählt wurde, weil sie auf ihr stehen (anders als beim Direktmandat, was man daran sieht, dass die hier Gewählten oft mehr Erststimmen erhalten, als ihre Partei Zweitstimmen). Insofern kann man ihrem Vorgehen rein politisch diesen Vorwurf durchaus machen, denke ich.
Beste Grüße nach Hannover!
Timo
Lieber Timo,
danke für deine Anmerkung, die mir die Gelegenheit gibt, einen Punkt meines Anliegens noch ein wenig nachzuschärfen: Ja, man kann den Vorwurf des Undemokratischen als Vorwurf fehlenden politischen Anstands lesen. Ich gehe sogar davon aus, dass er überwiegend so gemeint ist. Dafür mag es auch gute Gründe geben – das ist, wie gesagt, gar nicht mein Thema…
Ich habe aber den Eindruck, dass der Rekurs auf Demokratieerwägungen der Debatte – bewusst oder unbewusst – eine über die recht schlichte Frage, ob man das Verhalten „politisch in Ordnung“ findet, hinausgehende grundsätzlichere Konnotation gibt, die ich für fehl am Platze halte. „Undemokratisch“ wiegt schwerer als „unanständig“. Da schwingt hintergründig die gern zur Argumentationsverstärkung genutzte „Verfassungskeule“ mit. Um mehr als „Anstand“ – das zu zeigen war mein Anliegen – geht es aber mE nicht. Darin sind wir uns aber ja, denke ich, einig.
Beste Grüße
Benedikt