Anything goes – Wissenschaft wider den Methodenzwang

Portrait_Foto_StefanMartini_swFoto Sabine MMvon SINTHIOU BUSZEWSKI, STEFAN MARTINI und SABINE MÜLLER-MALL

Empörung oder Ernüchterung, Belustigung oder Mitleid, Langeweile oder Ohnmacht? – Man weiß gar nicht, mit welcher Regung man sich zu den jüngsten Vorkommnissen wissenschaftlichen Fehlgehens (oder: fehlenden wissenschaftlichen Vorgehens) in der Rechtswissenschaft verhalten soll. Die Vorgänge sind so musterhaft bekannt und vertraut, die Indizien dabei so eindeutig, dass sich in jedem Fall eine gewisse Ermüdung einstellt.

In deren Folge ist man leicht geneigt, neuerliche Reaktionen schlicht und einfach zu unterlassen. Uns mag die sich langsam der Gewohnheit ergebende Wiederholung von Plagiatsenthüllungen jedenfalls Anlass sein, über unser Selbstverständnis von rechtswissenschaftlicher Praxis nachzudenken, wie es ausgebildet, ausgeübt und aktualisiert wird. Denn immerhin verweisen uns die pathetisch anmutenden Wurzeln des Plagiatsbegriffs auf Grundsätzliches: den Raub von Menschen und Seelen. Könnte es sein, dass unser seltsames Schweigen gegenüber neu auftauchenden Plagiaten, die allenfalls müde Belustigung hinsichtlich der Rechtsfertigungsversuche der Beteiligten etwas ähnlich Fundamentales verrät?

Alles ist verdunkelt

Häufig herrscht zumindest bei den Ertappten Unklarheit darüber, woher welche Quellen wie Eingang in inkriminierte wissenschaftliche Texte gefunden haben bzw. welche (nicht als Autor/innen genannten) Personen mit welchem Anteil an der Textentstehung beteiligt waren. Die Verfasser/innen fahnden nach den Verfasser/innen. Der Blick auf die Produktionsbedingungen ist uns gewöhnlich versperrt. Das stört auch nicht, zählen doch die Inhalte, an die wir anschließen. Allerdings rechnen wir diese Inhalte (und damit auch deren Entstehung) den genannten Autor/innen zu. Im Wissenschaftssystem schützt die Norm des Zitiergebots den Zusammenhang von Verdienst, Reputation und Vertrauen; im Urheberrecht herrscht die Logik des Eigentums: Was man schafft, gehört einem; wer über Fremdes verfügt, ist Rechenschaft, Kompensation – und hier zumindest den Namen zu nennen schuldig. Schaut man sich die bekannten Fälle und die Strukturen an deutschen Hochschulen und Instituten an, scheinen diese Normen häufig außer Kraft gesetzt.

Die wissenschaftlich Nachwachsenden arbeiten in der Regel nicht mit einem/r Vorgesetzten, sie arbeiten ihm/ihr zu. Diese hierarchische Struktur, die sich auf verschiedenen Arbeitsebenen wiederholen kann, hat Folgen. Gerade sie macht Textfabriken erst möglich. Und: Das Herausstellen des Anteils der Zuarbeit am Endprodukt wird rechtfertigungsbedürftig. Die Lehrstuhlhackordnung findet ihren Ausdruck in einer Erfahrung, die nicht so wenige von uns gemacht haben: War es (zumindest anfangs, vielleicht als studentische Hilfskraft) nicht ehrenvoll, wenn ein Textbaustein seinen Weg zwischen zwei Buchdeckel gefunden hat? Und war das Ehrgefühl vielleicht gar noch gesteigert durch das geheime Wissen um die wahre Urheberschaft? Aus anderem Blickwinkel betrachtet: Die Verteilung von Anerkennung über Textquantität setzt einen Anreiz, Mitarbeiter/innen, untere Hierarchieebenen für sich / anstatt seiner selbst einzusetzen. Die angebliche Unübersichtlichkeit der Quellen und Zutragenden verweist (u.a.) auf Grundstrukturen deutschen Universitätslebens. Das einzige, was weiterhin unklar (und stets neu aushandlungsbedürftig) bleiben dürfte, ist die Grenze zwischen Zu- und Eigenarbeit – aber wäre hier im Sinne einer alten Vorstellung einer Wissenschaftsrepublik nicht auch ein in dubio pro auctore denkbar?

Shades of Grey

Grenzen zu ziehen, was in der Rechtsdogmatik durchaus Genuss bereiten mag, stellt Jurist/innen bei wissenschaftlichen Texten vor nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Welche Nutzung von anderen Texten macht einen Quellennachweis erforderlich, welche nicht? Aber: ist es wirklich so un-eindeutig? Im Urheberrecht gehen wir tagtäglich mit der Prüfung von Schöpfungshöhen um; nach den wissenschaftsinternen Normen gilt zudem recht übersichtlich: Fremde Formulierungen und inhaltliche Übernahmen sind – natürlich ausnahmslos – zu kennzeichnen. Auch sog. Allgemeinwissen, z.B. eine stehende Formel des Bundesverfassungsgerichts wurde irgendwann zum ersten Mal geprägt und kann – gewiss ein Ausweis von Qualität – nachgewiesen werden (s. aber hier bei Nr. 13). Die Rhetorik der Unsicherheit verweist nun wieder auf spezifisch juristische Arbeitsstrukturen beziehungsweise auf die Ausbildung dieser Praxen: Denn die (Nicht-)Unterscheidung von Eigenem und Fremdem wird erlernt. Es beginnt schon im ersten Semester, wenn Studierende – häufig ohne zuvor wissenschaftliches Arbeiten gelernt zu haben – in Klausuren und Hausarbeiten Meinungsstreitigkeiten im Gutachtenstil darstellen und entscheiden sollen. Auffassungen, sog. Theorien, sollen möglichst lückenlos wiedergegeben werden, sodass für die davon strikt getrennte „Stellungnahme“ nicht mehr viel eigenständiger Spielraum verbleibt – die gängige Ausweichstrategie, sich ein Begründungselement aufzusparen, verleitet natürlich dazu, den Ursprung des Super-Arguments zu verschleiern.

Inhaltlich wiederholt sich in Hauptstudium und Schwerpunkt das mangelnde wissenschaftliche Selbstverständnis: Thema der Arbeit zugeteilt bekommen, Rechtsproblem definieren, Meinungen zusammenfassen, regelmäßig Fußnoten setzen. Den Studierenden und späteren Absolventinnen/Absolventen fehlt gewöhnlich das Rüstzeug, um Texte mit wissenschaftlichem Anspruch zu produzieren. Warum gibt es kein Verständnis von wissenschaftlichen Fragestellungen? Warum reduzieren die meisten Jurist/innen ihre Methode auf die Auslegungskanones? Könnte es sein, dass die Rechtswissenschaft den Unterschied zwischen ihrer (wissenschaftlichen) Methode und der (rechtspraktischen) Anwendung auch in der Ausbildung verhandeln müsste? Könnte es sein, dass in der Rechtswissenschaft der Unterschied zwischen Wissensver– und Wissensermittlung, kurz: zwischen Lernen und Forschen verwischt ist? Vielleicht ist es kein Zufall, dass unter Rechtswissenschaftler/innen große Unkenntnis der (häufig von den Universitäten kostenfrei bereitgestellten) Literaturverwaltungsprogramme wie citavi oder endnote herrscht, vorgedruckte Karteikartensysteme, Skripte und Fallbücher aber Regale eines jeden Studierenden füllen. Lehrbuchlisten (gerne auch an prominenter Stelle: das eigene Lehrbuch) dürfen in keiner rechtswissenschaftlichen Vorlesung fehlen, während rechtswissenschaftliche Literaturempfehlungen Studierende nur selten erreichen. Rechtswissenschaft ist ein Erlebnis im Eigenversuch. Und dann werden Doktorarbeiten geschrieben…

Darüber hinaus kann der ständige Bezug auf Autoritäten (Gesetz, Urteil, Professor/in) in der Jurisprudenz und deren Spiegelung in der Ausbildung eine Erklärung dafür bieten, dass die Grenze zwischen Eigen- und Fremdheit nicht zu den sicheren Terrains von Juristen/innen zählt. Eine kürzlich erschienene Studie der Universität Bielefeld offenbart zwar, dass Juristen/innen nicht (ganz) so viel plagiieren wie Ingenieure/innen und Sportwissenschaftler/innen. Der schematische Nachvollzug des Gutachtenstils geht jedoch am Zweck wissenschaftlichen Arbeitens vorbei, nämlich sich vorhandene Denkleistungen in einem womöglich schmerzhaften Prozess anzueignen, um einen eigenen Zugriff zu entwickeln, um im Idealfall „neues Denken zu ermöglichen“1 . Heraus kommt häufig das, was Philipp Theisohn „wissenschaftliche Camouflage“2 nennt.

Die Lesbarkeit der Wissenschaft

Andere Hierarchien werden aufgestellt, um unterschiedliche Maßstäbe für unterschiedliche Textsorten anzulegen. An der Spitze stehen klassische Forschungstexte; Texte niederer Art wie Lehrbücher und Skripte dürfen von diesen Standards abweichen, um lesbarer zu werden. Anders ausgedrückt: Übernahmen werden schlicht nicht mehr nachgewiesen. Am unteren Ende der Hierarchie berühren sich freilich die Extreme: Studierende müssen im Gegensatz zu den Autor/innen, die ihnen Rechtswissenschaft beibringen, und den Autor/innen, die Studierende durch Prüfungen fallen lassen können, volle Fußnotenarbeit leisten. Abgesehen davon, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird, wird im Grunde genommen vor dem Vorwurf kapituliert, Lehrbücher und andere Funktionsliteratur seien plagiatsgeneigt.

Selbstverständlich passt man den Stil eines Textes einem Zielpublikum an, verkürzt und vereinfacht gegebenenfalls verschlungene Argumentationspfade. Wenn die Standards wissenschaftlichen Arbeitens aber nur eingehalten werden, wenn es nützt, verlieren sie ihre Wertigkeit – auch in der Ausbildung. Die Logik der Methodenehrlichkeit ist unteilbar. Es gibt keine weniger schwerwiegende unzulässige Verwertung fremden Wissens, nur schwerer wiegende Nachlässigkeit.

Mashup Roadkill

Auch die digitale Verfügbarkeit des Wissens, die Auflösung von Vorstellungen von Originalität, Autorschaft und Subjektivität stellen die Sinnhaftigkeit von Nachweisanforderungen in Frage. Denn diese verweisen auf ein Zuerst, auf eine Schöpfung hin, die nur kopiert, nie wiederholt werden kann. Tatsächlich ändern sich unsere Recherche-, Lese- und damit Aneignungsmethoden (s. auch Theisohn 2012). Der Umgang mit Medien beeinflusst unseren Umgang mit wissenschaftlichen Inhalten. Die Sammlung von Argumenten wird bequemer; der Anreiz zur Entwicklung eigener Gedanken womöglich geringer.

Aber auch wenn wir nur Glieder einer langen Kette von Informationen neu anordnen würden, kommen wir im Wissenschaftssystem nicht um eine gewisse Fiktion der Originalität und Subjektivität herum. Erkenntnisproduktion wohnt immer eine Vorstellung von etwas Neuem, worin dessen Qualität auch besteht, inne. Daher begibt man sich in einen performativen Selbstwiderspruch, wenn auf der einen Seite der Textproduktion die Möglichkeit von Originalität abgesprochen wird, auf der anderen die Strukturen genutzt werden, die gerade auf der Zuerkennung von Anerkennung aufgrund dieser Originalität beruhen.

Thomas Crown ist nicht zu fassen

Die Anfertigung von fremdverfassten Werken wird als Methode bestätigt, soweit und solange spürbare Empörung ausbleibt. Der Ruf des Instituts, der Fakultät, der Universität, des Berufsstandes wird in die Waagschale geworfen, wenn es um Reaktionen der Kolleg/innen auf angebliches, entdecktes oder öffentlich gewordenes Fehlverhalten geht. Eindeutige Stellungnahmen und konsequentes Nicht-Zitieren von Werken mit unbenannten Verfasser/innen und benannten Vorgesetzten (einschließlich der Weitergabe des Wissens an den Nachwuchs) wären mächtige Mittel gegen die Entwissenschaftlichung der Rechtswissenschaft: Reputationsverlust für die benannten Nicht-Verfasser/innen, Signalwirkung für den wissenschaftlichen Nachwuchs.

Wir haben es in der Hand, welche Rechtswissenschaftlichkeit wir vertreten und produzieren wollen. Die Kontrollüberlegung des kategorischen Imperativs deutet jedenfalls in eine pro-intuitive Richtung: Eine Wissenschaftswelt voller Freerider, in der das Plagiieren und Schreibenlassen zum allgemeinen Gesetz erhoben wird, ist eine absurde Vorstellung. Wir sollten uns stattdessen der Verallgemeinerung einer Ethik des wissenschaftlichen Arbeitens widmen.

  1. Theisohn, Literarisches Eigentum, 2012, S. 98. []
  2. Ebd., S. 102f. []
gute wissenschaftliche Praxis, Lehre, Plagiat, Sabine Müller-Mall, Sinthiou Buszewski, Stefan Martini, Wissenschaft
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3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • „in dubio pro auctores“? Ansonsten tl; dr.

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    • „tl; dr“??? Das halte ich doch für eine Frechheit. Wo sonst, wenn nicht in einem (rechts-) wissenschaftlichen Blog sollte man sich eingehend und nicht nur aus wenigen Perspektiven mit einem Thema auseinandersetzen können. Wenn man nur Schlagworte sucht („in dubio pro auctores?“???), die einem komplexen Thema nicht gerecht werden können, ist er hier sicherlich nicht an der richtigen Stelle.

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  • […] erst einen halben Monat alt ist, gibt es schon eine Menge interessanten Content: u.a. Beiträge zur Plagiatsdebatte, zur NATO-Intervention in Syrien, zum rüden Umgang mit Obdachlosen in Hamburg und zur […]

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