„Better safe than sorry“ – das ist der Grundgedanke, wenn im Namen des Vorsorgeprinzips etwa der Anbau von gentechnisch verändertem Mais eingeschränkt oder hormonbehandeltes Rindfleisch verboten wird. Eindeutige wissenschaftliche Nachweise für eine schädliche Wirkung auf die menschliche Gesundheit oder die Umwelt liegen allerdings nicht vor. Dass trotz wissenschaftlicher Unsicherheit über Bestehen und Ausmaß des diesbezüglich vermuteten Risikos Schutzmaßnahmen getroffen werden, ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU (TTIP) erneut in Diskussion geraten. Vorsorgemaßnahmen greifen regelmäßig in gegenläufige – meist wirtschaftliche – Freiheitssphären ein. Der EuGH vermittelt teilweise den Eindruck, dass diese Vorgehensweise aufgrund der rechtfertigenden Wirkung eines Rechtsprinzips der Vorsorge verhältnismäßig wäre. Mit Blick auf die primärrechtliche Verankerung in Art. 191 Abs. 2 S. 2 AEUV, erscheint dies naheliegend. Im Folgenden soll anhand zweier Urteile aus dem Bereich der Lebensmittelanreicherung geprüft werden, ob es einer solchen Rechtfertigungsfunktion des Vorsorgeprinzips tatsächlich bedarf.
Rechtfertigung aufgrund des Vorsorgeprinzips?
Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens in der Rs. C-446/08 (Solgar Vitamin’s France ua), hatte der Gerichtshof die Vereinbarkeit eines mitgliedstaatlichen Grenzwertes für Vitamine bei Nahrungsergänzungsmitteln mit dem Unionsrecht zu beurteilen. Prinzipiell ist eine derartige Beschränkung mit dem Ziel des Gesundheitsschutzes rechtfertigbar, soweit die Maßnahme verhältnismäßig ausgestaltet ist. Die übermäßige Aufnahme von Vitaminen kann schädliche Wirkungen hervorrufen. Jedoch ist anhand der verfügbaren wissenschaftlichen Nachweise eine Bestimmung sicherer Höchstmengen nicht möglich. Der EuGH hielt fest, dass, soweit beim gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Forschung noch Unsicherheit hinsichtlich des Gesundheitsrisikos besteht, es mangels einer Harmonisierung Sache der Mitgliedstaaten sei, den Umfang des Schutzes der Gesundheit zu bestimmen. Unter solchen Umständen könnten nach dem Vorsorgeprinzip Schutzmaßnahmen getroffen werden. Eine korrekte Anwendung des Prinzips erfordere die Durchführung einer wissenschaftlichen Risikobewertung. Lässt sich dadurch das vermutete Risiko weder mit Sicherheit feststellen noch widerlegen, so rechtfertige das Vorsorgeprinzip den Erlass beschränkender Maßnahmen.
Rechtfertigung ohne Vorsorgeprinzip?
Ein vergleichbarer Sachverhalt stellte sich dem Gerichtshof fast 30 Jahre zuvor in der Rs. 174/82 (Sandoz). Zu beantworten war die Frage, inwiefern der freie Warenverkehr einem in den Niederlanden vorgesehenen Genehmigungsvorbehalt für Lebensmittel entgegensteht, denen Vitamine zugesetzt wurden. Bereits damals betonte der EuGH, dass es bei wissenschaftlicher Unsicherheit und mangels Harmonisierung den Mitgliedstaaten überlassen sei, in welcher Weise sie den Gesundheitsschutz sicherstellen. Mit anderen Worten verfügen die Staaten diesbezüglich über einen weiten Ermessensspielraum. Somit könne die in Rede stehende Regelung grundsätzlich im Sinne von Art 36 EWGV (nunmehr Art 36 AEUV) gerechtfertigt werden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlange aber, dass eine solche Einfuhrbeschränkung nicht über das erforderliche Maß hinausgeht. Daher müsse das Inverkehrbringen genehmigt werden, sofern es sich mit den Erfordernissen des Gesundheitsschutzes vereinbaren lässt. Aufgrund der wissenschaftlichen Unsicherheit hinsichtlich der schädlichen Wirkungen von Vitaminen sei diese Beurteilung freilich schwierig. Trotz des damit einhergehenden weiten Ermessensspielraumes müsse im Sinne der Verhältnismäßigkeit eine Genehmigung bei Vorliegen entsprechender Nachweise im Einzelfall möglich sein. Der EuGH verweist in diesem Zusammenhang etwa auf die Möglichkeit, dass unter Umständen ein echtes Ernährungsbedürfnis für den Zusatz von Vitaminen bestehen könnte.
Rechtsprechungsdivergenz oder -konvergenz?
In beiden Rechtssachen bejahte der Gerichtshof die Verhältnismäßigkeit freiheitsbeschränkender Maßnahmen, obwohl hinsichtlich der schädlichen Wirkung von Vitaminen wissenschaftliche Unsicherheit bestand. Allerdings fand das Vorsorgeprinzip im Urteil Sandoz mit keinem Wort Erwähnung. Dies ist insofern naheliegend, da der Grundsatz erst 1993 mit dem Vertrag von Maastricht in Art. 130r Abs. 2 S. 2 EGV (nunmehr Art. 191 Abs. 2 S. 2 AEUV) eine primärrechtliche Anerkennung erfahren hat. Es stellt sich aber die Frage, welcher Argumentationswert einem Verweis auf das Vorsorgeprinzip zukommen soll. Geht man von der eingangs formulierten These dessen eigenständiger rechtfertigender Wirkung aus, so hätte im Fall Sandoz die Verhältnismäßigkeit des niederländischen Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt konsequenterweise verneint werden müssen. Der EuGH hat nicht in diesem Sinne entschieden. Auf den ersten Blick scheint ein Widerspruch zur Begründung in der Sache Solgar Vitamin’s France ua gegeben, in der er die präventiven Grenzwerte aufgrund des Vorsorgeprinzips für gerechtfertigt hält. Blendet man diese vordergründige Aussage zunächst einmal aus, zeigt sich, dass beide Entscheidungen auf denselben Erwägungen beruhen. In ständiger Rechtsprechung wird dem Gesetzgeber – ob national oder unional – ein weiter Ermessensspielraum bei der Beurteilung komplexer wissenschaftlicher und technischer Fragestellungen eingeräumt. Das ist von besonderer Bedeutung, wenn beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft Unsicherheiten bestehen. Der weite Ermessensspielraum wirkt sich folglich auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Vorsorgemaßnahmen aus. In materieller Hinsicht beschränkt sich diese auf eine bloße Evidenzkontrolle, ob die jeweilige Maßnahme zur Zielverfolgung offensichtlich ungeeignet ist. Kompensiert wird die zurückgenommene Kontrolldichte mit prozeduralen Anforderungen an die Ausübung des Ermessens. Die gesetzgeberische Entscheidung muss auf der Grundlage aller relevanten wissenschaftlichen Informationen getroffen werden. In diesem Lichte ist nachvollziehbar, woraus der EuGH im Urteil Solgar Vitamin’s France ua die Voraussetzung der Durchführung einer wissenschaftlichen Risikobewertung für die Anwendung des Vorsorgeprinzips ableitet. Diese Bedingung folgt aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Keine rechtfertigende Wirkung des Vorsorgeprinzips
Der Gesetzgeber muss für die effektive Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus nicht nur reagierend, sondern präventiv und antizipierend Schutzmaßnahmen treffen können. Im Anschluss an die diesbezügliche Diskussion auf internationaler Ebene wurde diese Vorgehensweise unter dem Schlagwort des Vorsorgeprinzips als einer der Grundsätze der unionalen Umweltpolitik ins Primärrecht aufgenommen und fand so seinen Weg in die Judikatur des Gerichtshofes. Der Vergleich der beiden besprochenen Urteile macht freilich deutlich, dass dem in der jüngeren Rechtsprechung üblichen Hinweis auf das Prinzip kein eigenständiger Argumentationswert für die Rechtfertigung einer Schutzmaßnahme zukommt. Dies hat der Gerichtshof im Rahmen der Beurteilung eines französischen Embargos gegen britisches Rindfleisch zum vorsorglichen Schutz vor BSE explizit ausgesprochen. Vielmehr wird damit allein die vom Gesetzgeber verfolgte Entscheidungsstrategie bezeichnet. Im Übrigen müsste für eine solche rechtfertigende Wirkung der Vorsorgegrundsatz einen allgemein anwendbaren Rechtsgrundsatz darstellen. Diese Ansicht hat das EuG in einigen Entscheidungen vertreten und hierfür in systematisch fragwürdiger Weise den Anwendungsbereich des Art. 191 Abs. 2 S. 2 AEUV über den Bereich des Umweltschutzes hinaus erweitert. Wenn das Gericht für eine allgemeine Geltung die Querschnittsklausel nach Art. 11 AEUV als Argument vorbringt, so ist dies wenig überzeugend. Die Bestimmung soll ausschließlich gewährleisten, dass die Grundsätze des Art. 191 AEUV unabhängig von der gewählten Kompetenzgrundlage bei sämtlichen umweltbezogenen Maßnahmen berücksichtigt werden. Ein derartiger Bezug bestand in den hier diskutierten Entscheidungen zur Begrenzung der Vitaminaufnahme sicherlich nicht. Ein Verweis auf Art 191 Abs. 1 2. Spiegelstrich AEUV hilft genauso wenig weiter. Aus ihm ergibt sich lediglich, dass bei umweltbezogenen Maßnahmen ebenfalls auf den Schutz der menschlichen Gesundheit zu achten ist. Mithin lässt sich eine allgemeine rechtfertigende Wirkung des Vorsorgeprinzips auf diesem Weg nicht stringent begründen. Wie das Urteil Sandoz indes zeigt, sind freiheitsbeschränkende Vorsorgemaßnahmen auch ohne diese Wirkung rechtfertigungsfähig. Bei wissenschaftlicher Unsicherheit räumt der EuGH dem Gesetzgeber einen weiten Ermessensspielraum ein. Im Rahmen dieses Ermessens kann er sich dafür entscheiden den Zusatz von Vitaminen, den Anbau von Genmais oder den Vertrieb von Hormonfleisch präventiv zu beschränken. Für die Wahrung der Verhältnismäßigkeit muss die entsprechende Ermessensentscheidung aber jedenfalls auf einer wissenschaftlichen Risikobewertung beruhen. Im Ergebnis besteht somit kein Bedarf für eine Rechtfertigungsfunktion des Vorsorgeprinzips.