Historische Quellen zur Nacherzählung und Deutung oder auch als Argument?

von FELIX LANGE

Felix LangeZu welchem Zweck betreibt man rechtsgeschichtliche Forschung im öffentlichen Recht? Geht es darum, Traditionslinien auf Grundlage von akribischem Quellenstudium nachzuzeichnen und auszudeuten? Oder sollen historische Analysen auch dazu dienen, Modellüberlegungen anzustellen, aus denen gegebenenfalls konkrete Handlungsanleitungen für die Gegenwart gewonnen werden können? Verschiedene Antworten auf diese Fragen führten auf dem diesjährigen Rechtshistorikertag in Tübingen zu einer heftigen Kontroverse.

Bedeutungszuwachs der Rechtsgeschichte im öffentlichen Recht

Dass rechtsgeschichtliche Ansätze das Verständnis des öffentlichen Rechts erweitern und bereichern können, macht die in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende Zunahme an Forschungsliteratur in diesem Bereich deutlich. Obwohl rechtsgeschichtliche Lehrstühle traditionell mit dem Bürgerlichen Recht verknüpft sind, entstanden besonders seit den 1990er Jahren zahlreiche Arbeiten, die die Entstehungsbedingungen bestimmter öffentlich-rechtlicher Konzeptionen, Methoden oder Theorien durchleuchteten. Der Wandel der Staatlichkeit durch Europäisierung und Globalisierung führte zu einem wachsenden Interesse an den historischen Grundlagen der Wissenschaft vom öffentlichen Recht. Im Staatsrecht wurden die Ansätze der „Fab Four“ der Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit (Hans Kelsen, Rudolf Smend, Carl Schmitt und Hermann Heller) oder ihrer Schüler (z.B. Ernst Forsthoff ) Gegenstand von Sammelbänden und Monographien. Im Völkerrecht setzte das Werk „The Gentle Civilizer of Nations“ von Martti Koskenniemi Maßstäbe. Das durch den Vierten Band 2012 abgeschlossene Standardwerk von Michael Stolleis zur Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland versinnbildlicht die Aufwertung der Rechtsgeschichte des öffentlichen Rechts in den letzten Jahrzehnten.

Unterschiedliche Herangehensweisen an die Quellen

Doch wie soll man im Rahmen dieser Forschungsrichtung methodisch mit den Quellen umgehen? Dass darüber keine Einigkeit zu bestehen scheint, zeigte sich in der verfassungsgeschichtlichen Sektion auf dem Rechtshistorikertag in Tübingen . Inhaltlich hatten sich die Mitglieder der von Christian Waldhoff (HU Berlin) moderierten Sektion zum Ziel gesetzt, unter dem Thema „Verfassungsinstitutionen und ihr Personal“ das Verhältnis von funktionalem Amt und persönlichen Prägungen des Amtsträgers an Beispielen aus der Verfassungsgeschichte nachzuvollziehen. Dabei prallten unterschiedliche Zugänge zu den historischen Quellen aufeinander.

Der Kirchenrechtler Andreas Thier (Zürich) und die Historikerin Anette Baumann (Gießen) pflegten einen narrativen Stil, d.h. sie erzählten historische Vorgänge aus den Quellen nach und deuteten sie aus. Thier erläuterte die Herausbildung der Unterscheidung zwischen funktionalem Kirchenamt und sakraler Weihe im kanonischen Recht. Seit dem Clemensbrief von 95/96 n. Chr. habe sich die katholische Kirche darum bemüht, das zeitlich befristete, mit funktional beschränkten Kompetenzen ausgestattete Kirchenamt und die dauerhaft gültigen, auf die Person bezogenen, sakralen Befugnisse der Kirchenvertreter rechtlich unterschiedlich zu behandeln. Denn nur dadurch habe man gewährleisten können, dass sakrale Amtstätigkeiten, wie z.B. Eheschließungen, auch über eine mögliche Amtsenthebung des Kirchenvertreters hinaus ihre Gültigkeit hätten behalten können. Baumann präsentierte ihre Untersuchungen zu den Reichsvizekanzlern im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im 16. und 17. Jahrhundert, die als Leiter der Reichshofkanzlei die Geschäfte des Kaisers verwalteten. Es falle auf, dass die kaisertreuen Reichsvizekanzler häufig aus ehemaligen Assessoren des Reichskammergerichts rekrutiert worden seien, da für ihre Tätigkeiten juristische Expertise gebraucht worden sei.

Im Gegensatz zur Methode der Quellennacherzählung und -deutung verfolgten Christoph Schönberger (Konstanz) und Oliver Lepsius () (Bayreuth) einen anderen Ansatz. Die beiden Verfassungsrechtler formulierten anhand der Analyse historischer Beispiele überzeitliche Thesen. Nach Schönberger verdeutlicht ein Blick in die Verfassungsgeschichte, dass die Erstbesetzung eines Amtes in einem Verfassungsstaat eine besondere Prägekraft für die zukünftige Ausgestaltung des Amtes entfaltet. Als Beleg bezog er sich auf George Washington als ersten Präsidenten der USA, Charles de Gaulle als ersten Präsidenten der 5. Republik und Theodor Heuss als ersten Präsidenten der Bundesrepublik. Washington habe durch seinen Verzicht auf die ihm angetragene Wiederwahl das Amt des Staatsoberhauptes zivilisiert und diszipliniert und somit zum republikanischen Amtsverständnis des Präsidenten beigetragen. Dagegen habe sich de Gaulle mit seiner präsidialen Amtsführung teilweise über verfassungsrechtliche Normen hinweggesetzt und die Direktwahl des Präsidenten durch ein verfassungsrechtlich fragwürdiges Referendum eingeführt. In Deutschland habe die zurückhaltende Amtsführung von Heuss gegenüber Konrad Adenauer dazu geführt, dass sich das Präsidentenamt zu einem Repräsentativamt entwickelt habe, obwohl das im Grundgesetz nicht so angelegt gewesen sei.

Lepsius argumentierte, dass für eine Politisierung von höchsten Gerichten spreche, dass aus richterlichen Meinungen Impulse für die zukünftige Rechtsentwicklung entstehen könnten. Gegen eine Politisierung lasse sich anführen, dass durch die Zurücknahme der Persönlichkeit des Richters das Vertrauen in das bestehende Rechtsystem gestärkt werden könne. Das ergebe sich aus einer vergleichenden, historischen Betrachtung. In Großbritannien hätten sich die einzelnen höchsten Richter im 20. Jahrhundert als Impulsgeber und Reformer verstanden und Vorschläge zu aktuellen Rechtsfragen unterbreitet, die von der Gesetzgebung teilweise aufgegriffen worden seien. Auch in den USA werde die Verfassungsgerichtsbarkeit stark mit den Namen einflussreicher Richter verbunden. In Deutschland würden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dagegen kaum an Personen festgemacht, denn nach deutschem Verständnis spreche die Institution das Urteil. Um von den deutschen oberen Gerichten nach der NS-Zeit anerkannt zu werden und das Vertrauen in die Bundesverfassungsgerichtsbarkeit zu stärken, habe das Gericht bewusst auf eine zu starke Personalisierung verzichtet.

In der Diskussion griff der Rechtshistoriker Peter Oestmann (Münster) die Herangehensweise von Schönberger und Lepsius scharf an. Er bezweifelte, dass es methodisch zulässig sei, durch Bezüge zur Rechtshistorie überzeitliche Modelle zu konstruieren. Denn diese Modelle könne man durch Gegenbeispiele leicht außer Kraft setzen. Schönberger verteidigte seinen Ansatz. Seine Hypothese sei naturgemäß durch andere historische Beispiele falsifizierbar, man müsse sie jedoch erst einmal aufstellen dürfen. Lepsius gestand ein, kein genuin historisches Erkenntnisinteresse zu verfolgen. Auf „situative Erfahrungsmodelle“ vergleichend zurückzugreifen sei für den Öffentlich-Rechtler jedoch schon deshalb geboten, weil er vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Institutionsgefüges nach historischen Vorbildern suchen müsse.

Für die Methodenpluralität

Welche Funktion hat nun also rechtshistorische Forschung im öffentlichen Recht? Meiner Einschätzung nach haben beide Herangehensweisen ihre Berechtigung. Wie der Rechtshistoriker Joachim Rückert (Frankfurt) feststellte, erscheint es für die Forschung auf der Grenzlinie von öffentlichem Recht und Rechtsgeschichte legitim zu sein, sowohl die Quelle als Narrativ zu nutzen (vgl. Thier und Baumann) als auch die Quelle als Argument zu verwenden (vgl. Lepsius und Schönberger). Durch die Nacherzählung und Deutung von historischen Quellen kann das Wissen über die Entstehungsbedingungen öffentlich-rechtlicher Konzeptionen, Methoden oder Theorien erweitert werden. Aus durch historische Betrachtung gewonnenen Modellen kann der verfassungspolitisch denkende Öffentlich-Rechtler Argumente zu aktuellen Fragen des öffentlichen Rechts entwickeln. Ein Austausch zwischen beiden Herangehensweisen erscheint dadurch möglich, dass auf Grundlage vertiefter rechtshistorischer Kenntnisse des Einzelfalls die überzeitlichen Hypothesen überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden können. Ob man die Quelle zur Nacherzählung oder darüber hinaus auch als verfassungspolitisches Argument nutzt, hängt folglich vom Erkenntnisinteresse des jeweiligen Forschers ab. Wie die Vorträge in der verfassungsrechtlichen Sektion verdeutlichten, können auf Grundlage beider methodischer Ansätze interessante inhaltliche Aussagen getroffen werden.

Felix Lange, Methodenpluralität, Rechtsgeschichte, Rechtshistorikertag
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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Christoph Smets
    2. Oktober 2014 10:21

    Danke für diesen Bericht vom Historikertag. Die Quelle als Argument hat denke ich dort eine Berechtigung, wo Umgebungsfaktoren ähnlich sind. „Damals kam es so, also sollten wir heute so handeln“ ist abstrakt nicht haltbar, sondern nur, soweit die Bedingungen und Motive ähnliche sind. Dort könnten dann ggf. sogar Narrative helfen. Welche Bedingungen und Motive es in concreto wären müsste man natürlich wieder von Situation zu Situation entscheiden.

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