von PHILIPP OVERKAMP
Der Bitcoin ist in aller Munde. Die dahinterstehende Blockchain-Technologie verspricht die Realisierung einer Utopie: weg von der Macht der Finanzinstitute und hin zu einem dezentralen, „demokratisierten“ Finanzsektor, an dem Jeder partizipieren kann. Doch die Einsatzmöglichkeiten reichen über die Finanzwelt hinaus. Auch im Stromsektor ist ein massiver Wandel denkbar. Eine dezentralisierende „Revolution“, wie sie im Finanzmarkt möglich erscheint, wird aber durch das Regulierungsrecht unterbunden. Die technische Entwicklung fordert deshalb auch Gesetzgebung und Rechtswissenschaft heraus. Steht das Energieregulierungsrecht vor einem Paradigmenwechsel?
Wird die Blockchain rechtswissenschaftlich rezipiert, geht es bisher vor allem um Zivil- (smart contracts) und Datenschutzrecht. Aber blockchain-basierte Wirtschaftsmodelle stellen auch das Regulierungsrecht unter Anpassungsdruck. Der ist je nach Regulierungsgebiet unterschiedlich stark ausgeprägt. Kryptowährungen haben ein strukturelles Defizit in der Regulierbarkeit, weil ihr Gegenstand rein virtuell ist und sich so dem staatlichen Zugriff entzieht. Strom und Leitungen sind dagegen physisch existent und so, etwa durch den Einsatz intelligenter Stromzähler, staatlicher Kontrolle zugänglich. Die Blockchain kann im Energiebereich nicht der Erzeugung oder dem Transport von Strom selbst, sondern nur zur Übertragung begleitender Informationen dienen. Sie hat damit eine weniger zentrale Funktion als im Finanzsektor. Doch auch die rein informationelle Vernetzung kann die Energiewirtschaft drastisch verändern. Dabei mag die Blockchain-Technologie nicht die einzige technische Entwicklung sein, welche solche Veränderungen verspricht – sie steht aber in der aktuellen Diskussion wohl exemplarisch für revolutionäre Dezentralisierung und deshalb auch im Fokus dieses Beitrags.
Was ist Blockchain?
Nur kurz vorab (vertiefter hier, hier und auch im JuWissBlog): Die Blockchain ist eine dezentral gespeicherte Rechenkette. Jede neue Handlung eines Beteiligten, etwa eine Finanztransaktion, wird auf die bisherigen Handlungen addiert und verursacht somit einen neuen Endwert.
Diese Informationskette befindet sich nicht auf einem zentralen Speichermedium, sondern wird durch eine Vielzahl an voneinander unabhängigen Systemteilnehmern bereitgestellt. Es entsteht ein verteiltes System. Eine Transaktion zwischen zwei Akteuren braucht keinen zentralen Mittler – im klassischen Finanzsektor wäre das ein Kreditinstitut. Stattdessen findet sie quasi öffentlich statt. Sie wird bei allen Systemnutzenden parallel synchronisiert.
Einsatz im Stromsektor
Zentrale Akteure des Strommarktes sind die Stromerzeuger, die vier Übertragungsnetzbetreiber (Tennet, 50Hertz, Amprion, Transnet BW) als Betreiber jener Netze, die Strom von großen Kraftwerken über lange Strecken transportieren und die lokalen Verteilnetzbetreiber (meist Stadtwerke). Der erzeugte Strom wird von Stromlieferanten, welche die Netze gegen ein Entgelt nutzen, an die Verbraucher*innen verkauft. Neben den großen Energieerzeugungsunternehmen gibt es auch kleinere Anbieter und Prosumer (producer + consumer) mit Photovoltaik-Anlage auf dem Hausdach. Diese können aus regulatorischer Perspektive bisher nicht als verlässliche Faktoren im Energiemarkt betrachtet werden, weil sie abhängig von Wetter und Eigenbedarf sind. Deshalb werden die Betreiber konventioneller Kraftwerke und die Übertragungsnetzbetreiber noch immer als die zentralen Akteure im Stromsektor wahrgenommen.
Doch das Marktgefüge hat längst begonnen sich zu ändern. Der Strommarkt wird dezentraler, die einzelnen Akteure werden durch technische Neuerungen und gesetzgeberische Anpassungen zunehmend lokal verknüpft. Dies könnte insbesondere durch die Blockchain noch stärker als ohnehin bisher beschleunigt werden. Ein in diesem Kontext diskutiertes Szenario ist das Microgrid: Hier kann der Strom direkt von Klein(st)produzierenden zu Klein(st)verbraucher*innen verkauft werden. Die Stromlieferanten als mittelnde Institution werden dabei umgegangen. Selbiges gilt für die Übertragungsnetze. Der Strom wird Peer-to-peer gehandelt und bleibt im lokalen Verteilnetz – buy local im Stromsektor. Internationale Vorbilder sind vorhanden, am prominentesten ist das „Brooklyn Microgrid“.
Eine stärkere Vernetzung und Abstimmung kann auch den organisatorischen Aufwand zur Netzverwaltung reduzieren, den heute Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber stemmen. Durch die Blockchain ließen sich möglicherweise das Ein- und Ausspeisemanagement und den An- und Verkauf automatisieren: Kann eine Energieerzeugungsanlage keinen Strom liefern, so würde über die Blockchain, ohne dass es menschlichen Zutuns bedürfte, die Belieferung durch eine andere Anlage am Netz veranlasst. Aus regulierungsrechtlicher Perspektive ist aber besonders spannend, dass mittels blockchain-basierter Informationsübertragung Einspeisungen vieler Kleinanlagen automatisch und in Echtzeit aufeinander abgestimmt werden können. Die Funktionsfähigkeit des Netzes bliebe so auch ohne äußere Eingriffe, wie Redispatchmaßnahmen, erhalten.
Effizienz, verringerter Regulierungsbedarf & Dezentralität
Die Vorteile dezentralisierter Strukturen liegen auf der Hand. Statt eines großen Verteilsystems, bei welchem Strom über lange Strecken transportiert wird und durch Übertragungsverlusteffekte verloren geht, wird dieser im kleineren Rahmen effizient genutzt. Dabei würden, ganz im Sinne des Klimaschutzes, Anlagen für Grünstrom profitieren, wohingegen konventionelle Großkraftwerke aufgrund der Merit-Order zunehmend an Rentabilität verlören. Für kleine Energieerzeugungsanlagen sind zudem Stromspeichertechnologie sinnvoll und miteinander vernetzt nutzbar. Die Blockchain-Technologie könnte ein Schlüssel zur Bewältigung der Energiewende sein. Außerdem ist die mögliche Akteurvielfalt ökonomisch reizvoll, weil sie entscheidend zur Etablierung eines echten, umfassenden und wohlfahrtsteigernden Wettbewerbs im Strommarkt ist.
Des Weiteren verspricht die Blockchain, dass sich das Einspeisemanagement künftig automatisch selbst steuert. Sie könnte damit die staatliche Regulierung überflüssig machen. Die tradierte regulierte Selbstregulierung unter Aufsicht der Bundesnetzagentur würde gewissermaßen durch „autonome Selbstregulierung“ abgelöst.
Nimmt man alle Versprechungen als erfüllbar hin, so führte dies zu einer Revolution: Die großen Erzeugungsanlagen, die Übertragungsnetze, sowie die Stromhändler und -lieferanten würden an Bedeutung verlieren, weil der Strom überwiegend lokal produziert würde und im Verteilnetz bliebe. Im Microgrid dominieren Kleinproduzenten. Die Stärkung von Prosumern und Verbraucher*innen gegenüber den Großunternehmen wird sogar als „Demokratisierung“ des Stromsektors begriffen.
Änderungsbedarf im Energieregulierungsrecht?
Dem steht das geltende Recht entgegen. Das deutsche Energierecht geht nicht von einer derartigen Akteurvielfalt und Dezentralisierung aus.
Die Übertragungsnetzbetreiber sind für die Funktionsfähigkeit des Stromnetzes verantwortlich (§ 12 EnWG). Jede Netzinfrastruktur muss in einen vom Übertragungsnetzbetreiber überwachten Bilanzkreis eingebunden sein, (§ 4 StromNVZ), in welchem die Ein- und Ausspeisung in etwa ausgeglichen ist. Einer Dezentralisierung wäre es dagegen zuträglich, wenn stattdessen die lokalen Verteilnetzbetreiber in die Verantwortung genommen würden.
Ein P2P-Handel ist heute nicht möglich. Die durch Kleinstanlagen bereitgestellte Strommenge unterliegt – gerade beim volatilen Ökostrom – erheblichen Schwankungen. Ein direkter Handel von Stromverbrauchernden mit einzelnen PV-Anlagenbetreibernden würde deswegen einen ständigen Wechsel des Stromanbieters erfordern, der kaum dem ausführlichen Pflichtenkatalog des § 41 EnWG genügen können. Prosumer sind ferner gem. § 3 Nr. 18 EnWG Energieversorgungsunternehmen. Damit gehen eine Reihe von Anforderungen einher, die von Privatpersonen kaum erfüllt werden können (§§ 5 ff. EnWG).
Der realistischste Ansatz für die Implementierung von Blockchain-Technologien ins Regulierungsrecht ist deshalb ein Dienstleistungsvertrag: Ein Energieversorgungsunternehmen übernimmt die Verwaltung und sorgt für die Erfüllung der Rechtspflichten, die Prosumer bezahlen dafür. Eine radikale Dezentralisierung, wie sie sich im Finanzsektor andeutet, bleibt aus. Die klassische Energiewirtschaft, deren Gutachten die Diskussion über Möglichkeiten der Blockchain im Energiesektor dominieren (und auf die daher auch in diesem Beitrage Bezug genommen wird), sehen die Technologie zuvorderst als Chance zur „Eröffnung neuer Geschäftsfelder“.
Für eine weitergehende „Demokratisierung“ müsste sich das Regulierungskonzept grundlegend ändern. Das meint fürs Erste keine Deregulierung, weil der Stromsektor eben auch Kernbestandteil der staatlichen Daseinsvorsorge ist. Deshalb verbietet sich ein blindes Vertrauen auf das Versprechen der „autonomen Selbstregulierung“. Wegen der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Gewährleistung der Energieversorgung darf der Gesetzgeber die Stromversorgungssicherheit keinen unkalkulierbaren Risiken aussetzen. Die Prosumer müssen deshalb – zumindest, wenn sie einen erheblichen Beitrag zur Energieversorgung leisten – der rechtlichen Steuerung zugänglich bleiben. Dazu bräuchte es zunächst ein neues, auf dezentrale Strukturen abgestimmtes, Regulierungskonzept – vorzugswürdig unter stärkerer Einbindung der lokal agierenden Verteilnetzbetreiber. Erst wenn die „autonome Selbstregulierung“ eines Tages ausreichend erprobt ist, könnte dereguliert werden.
Generell ist es sinnvoll, lokale Testzonen zu errichten, in denen regulierungsrechtliche Anforderungen schrittweise ausgesetzt werden. Dabei ließe sich nicht nur die Technik evaluieren, sondern es würden auch Erfahrungswerte im Hinblick auf Regulierungsbedarf und -möglichkeiten gesammelt.
Die Zukunft der Energieregulierung
Letztlich steckt der Einsatz der Blockchain-Technologie im Energiesektor noch in den Kinderschuhen; die technische Entwicklung lässt sich kaum prognostizieren. Dass aber mittelfristig, sei es durch Blockchain, sei es durch andere Formen lokaler Vernetzung, die Dezentralisierung des Stromsektors voranschreiten wird, ist zu erwarten. Fürs Erste ist es freilich ausreichend, wenn der Regulierungsrahmen geringfügig angepasst wird und Versuchsprojekte ermöglicht werden. Mittelfristig wird die Legislative nicht umhinkommen zu reagieren. Zielt man auf eine wirkliche Dezentralisierung ab, ist es mit Nachjustierungen am Rechtsrahmen nicht getan – es bräuchte gänzlich neue Regulierungskonzepte, bei welchem zunächst die lokal angesiedelten Verteilnetzbetreiber stärker regulatorisch eingebunden werden müssten. Setzt sich die Blockchain tatsächlich wie mancherorts prognostiziert durch, könnte perspektivisch sogar die Bedeutung des Energieregulierungsrechts an sich verschwinden. Schließlich trägt die Blockchain die Möglichkeit zur autonomen Selbstregulierung in sich.
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