von ANDREAS KULICK
[styledbox type=“general shaded“ align=“right“]Two roads diverged in a yellow wood, And sorry I could not travel both And be one traveler, long I stood And looked down one as far as I could To where it bent in the undergrowth; […]I shall be telling this with a sigh Somewhere ages and ages hence: Two roads diverged in a wood, and I — I took the one less traveled by, And that has made all the difference.[/styledbox]
In Robert Frosts berühmten Gedicht steht der Reisende vor einer Wahl: Soll er den bekannten, ausgetretenen Pfad nehmen oder sich auf neues, unbekanntes Terrain begeben und einen Weg gehen, den er bis dahin noch nicht beschritten hat? Er entscheidet sich für das Unbekannte: „And that has made all the difference.“ Am 3. März 2014 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) seine Entscheidung zum vorläufigen Rechtsschutz im Verfahren Questions relating to the Seizure and Detention of Certain Documents and Data (Timor-Leste v. Australia) erlassen. Wie Frosts Reisendem eröffneten sich dem Gerichtshof mehrere Wege. Er entschied sich (zumindest für den Moment) für den ausgetretenen Pfad.
Worum geht es? Osttimor und Australien stehen sich seit April 2013 in einem Schiedsverfahren vor dem Ständigen Schiedshof in Den Haag (gleiches Gebäude, andere Institution) als Streitparteien gegenüber. Osttimor bezichtigt Australien, seine Delegation während der Verhandlungen zum Treaty on Certain Maritime Arrangements in the Timor Sea aus dem Jahre 2006 abgehört sowie sich anderweitig durch unlautere Mittel (Spionage) Informationen zur Verhandlungsposition Osttimors verschafft zu haben. Es stellen sich sehr interessante Fragen zur (Un)Wirksamkeit völkerrechtlicher Verträge, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann (ein Überblick findet sich hier). Der IGH beschäftigt sich in seinem Verfahren allerdings mit dem, was sich am 3. Dezember vergangenen Jahres im Büro von Osttimors australischem Anwalt in dem Schiedsverfahren abspielte: Mitglieder des australischen Geheimdienstes betraten dessen Kanzlei in Canberra und beschlagnahmten eine Vielzahl von Prozessunterlagen zum Schiedsverfahren mit Australien – laut Osttimor einschließlich solcher, welche die Prozessstrategie Osttimors enthielten. Zeitgleich wurde ein früherer australischer Geheimdienstoffizier verhaftet, der von Osttimor als Zeuge im Schiedsverfahren benannt ist. Der Generalstaatsanwalt (Attorney General) Australiens begründete seine Anordnung dieser Maßnahmen mit dem Schutz des nationalen Sicherheitsinteresses Australiens.
Das Interessante an der für die Verhältnisse des IGHs recht kurzen, nur 16 Seiten umfassenden Anordnung ist nicht ihr Inhalt, sondern vielmehr, was der Gerichtshof nicht sagt und nicht anordnet und warum er dies (nicht) tut. Er marschiert recht forsch durch die vier Voraussetzungen zur Anordnung vorläufiger Maßnahmen nach Artikel 41 IGH-Statut, die sich im Laufe seiner Rechtsprechung herauskristallisiert haben: Zuständigkeit (jurisdiction) prima facie, Möglichkeit einer Rechtsverletzung (plausibility of the rights asserted), eine Verbindung zwischen den in Frage stehenden Rechten und den beantragten Maßnahmen (link) sowie Gefahr eines irreparablen Schadens und Dringlichkeit (risk of irreparable prejudice and urgency).
Zur Möglichkeit einer Rechtsverletzung äußert sich der IGH sehr knapp: Der Schutz der Kommunikation eines Staates mit seinem Anwalt wurzele in der souveränen Gleichheit der Staaten – der Gerichtshof nennt explizit Artikel 2(1) der UN-Charta. Andere Rechte, wie das Eigentum an Prozessunterlagen und die damit verbundenen Immunitätsrechte, oder ein allgemeines Rechtsprinzip (general principle of law) des Schutzes der Beziehungen zwischen Rechtsanwalt und Mandant (attorney-client privilege, oder das vom Gerichtshof so bezeichnete und etwas weitere legal professional privilege), allesamt von Osttimor in den Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, diskutiert der IGH nicht (Rn. 7; siehe aber das Sondervotum des Richters Cançado Trindade, Rn. 29-32).
Etwas ausführlicher beschäftigt sich der Gerichtshof mit den Voraussetzungen risk of irreparable prejudice und urgency. Hierbei spielten mehrere Erklärungen Australiens im Laufe des IGH-Verfahrens eine Rolle, denen zufolge es versicherte, dass die Unterlagen versiegelt seien und weder gelesen worden seien, noch bis zum Abschluss des IGH-Verfahrens gelesen noch in irgendeiner Form genutzt würden, es sei denn nationale Sicherheitsinteressen erforderten dies (Rn. 38). Im Einklang mit seiner früheren Rechtsprechung (zum Beispiel hier) betont der Gerichtshof, dass derartige Versicherungen (undertakings) grundsätzlich genügen, um die Gefahr eines irreparablen Schadens und Dringlichkeit auszuschließen: „Once a State has made such a commitment concerning its conduct, its good faith in complying with that commitment is to be presumed.“ Hier kann man durchaus skeptisch sein, wie auch der Richter Cançado Trindade in seinem Sondervotum herausstellte: Lehrt die Erfahrung, dass Staaten sich an derartige Versicherungen halten? Zudem: Die erste Versicherung wurde am 19. Dezember 2013 abgegeben, also zwei Wochen nach der Beschlagnahme am 3. Dezember und der Klageerhebung am 5. Dezember. Ist es eine realistische Annahme, dass Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden für sie offensichtlich hoch interessante Dokumente tage- oder wochenlang unbetrachtet lassen? Der Richter Cançado Trindade lässt an seiner Auffassung jedenfalls keinen Zweifel: „[I]t is difficult to avoid the sensation of entering in the realm of surrealism.“ (Sondervotum Rn. 50). Wie man dazu auch stehen mag, die ratio iuris der Erwägungen des Gerichtshofs atmen unbestreitbar den Geist des (frühen) 20. Jahrhunderts: Staatensouveränität als Anfangs- und Endpunkt jeglicher völkerrechtlicher Argumentation. In einer kürzlich erschienen Studie kritisieren Armin von Bogdandy und Ingo Venze dieses staatenzentrierte Verständnis des Völkerrechts durch den IGH, den sie – teilweise – als „eine Institution eines Ancien Régime“ bezeichnen (siehe von Bogdandy, Armin/Venze, Ingo: In Wessen Namen?, Suhrkamp, 2014, S. 52. Siehe aber auch ebenda, S. 77-85). Letztlich ordnet der Gerichtshof allerdings doch Maßnahmen zur Sicherung der Rechte Osttimors an, weil Australien seine Erklärung unter den Vorbehalt nationaler Sicherheitsinteressen gestellt hatte (Rn. 45-48). Den Richtern Donoghue, Greenwood, Keith und ad hoc-Richter Callinan ging das zu weit, dem Richter Cançado Trindade nicht weit genug: Der Gerichtshof hätte dem Antrag Osttimors folgen sollen, die Unterlagen für die Dauer des IGH-Verfahrens in seinen Gewahrsam zu nehmen (Rn. 52 des Sondervotums). Die Zurückhaltung des Gerichtshofs ist in der Tat auffällig angesichts jüngster sehr proaktiver und weitreichender Anordnungen vorläufiger Maßnahmen durch den Gerichtshof, wie beispielsweise Request for Interpretation of the Judgement of 15 June 1962 in the Case concerning the Temple of Preah Vihear (Cambodia v. Thailand), ICJ, Provisional Measures (Entscheidung vom 18. Juli 2011, I.C.J. Reports 2011 (II), S. 552-554, Rn. 61-63. Zu dieser Entscheidung im Allgemeinen siehe Kulick, Andreas: AVR 2013, 453 ff. (im Erscheinen)).
Die Entscheidung des IGHs in Timor-Leste v. Australia war von vielen mit Spannung erwartet worden. In der Tat wirft der Fall in Zeiten, in denen wir gerade erst beginnen, das Ausmaß der weltweiten Spionagetätigkeiten und –möglichkeiten zu begreifen, höchst spannende (Rechts)Fragen auf. Trotz der „Vorläufigkeit“ der Anordnung waren von mancher Seite grundsätzliche Aussagen des Gerichtshofs zum Datenschutz und dessen Verhältnis zum Schutz nationaler Sicherheitsinteressen erwartet worden. Die Richter mögen sich diese aus guten Gründen für die Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten haben. Ihre Betonung der Staatensouveränität als (alleinige) Grundlage und (absolute?) Grenze der in Frage stehenden Rechte lässt indes vermuten, dass die Hoffnungen auch für die merits phase nicht zu hoch gehängt werden sollten. Um den Kreis zu schließen: Man mag gespannt bleiben, ob der IGH in der Hauptsacheentscheidung „the road less traveled by“ beschreiten wird. Marschiert er indes weiter fröhlich auf ausgetretenen Pfaden, sollte man nicht überrascht sein.