Szabadság, szerelem! Der EuGH und die Unabhängigkeit des ungarischen Datenschutzbeauftragten

von HANNES RATHKE

Hannes-RathkeIn der vergangenen Legislaturperiode verstand die ungarische Regierung ihre 2/3-Mehrheit im Parlament als Auftrag zur Neugestaltung der Verfassungsordnung. Bei der Ausarbeitung des neuen ungarischen Grundgesetzes, von der Regierung Orbán als Verfassungsgebung verstanden, wurden auch Inhalte in der Verfassung verankert, die vorher einfachgesetzlich geregelt waren. Auch das Amt des Datenschutzbeauftragten als Kontrollstelle im Sinne der Datenschutzrichtlinie 95/46/EG war hiervon betroffen. Dieses Amt war zuvor im Gesetz LXIII von 1992 über den Schutz personenbezogener Daten und die Publizität der Daten von öffentlichem Interesse geregelt. Nach dieser bis zum 21.12.2011 geltenden Regelung war der Datenschutzbeauftragte vom ungarischen Parlament für sechs Jahre mit dem in der RL 95/46/EG vorgesehenen Auftrag betraut. Die Amtszeit des am 31.12.2011 amtierenden Datenschutzbeauftragten begann am 29.9.2008. Er wäre bis zum September 2014 im Amt geblieben.

Durch Art. IV Abs. 3 GG wurde das Amt des Datenschutzbeauftragten mit Inkrafttreten des ungarischen Grundgesetzes am 1.1.2012 durch das neue nationale Amt für Datenschutz ersetzt. Zugleich beschloss das Parlament in Art. 16 der auf Grundlage von Ziffer 3 der Schlussbestimmungen des Grundgesetzes getroffenen Übergangsbestimmungen, dass das Amt des Datenschutzbeauftragten mit der Einsetzung der neuen Datenschutzbehörde endet. Für das Amt des leitenden Präsidenten der neuen Nationalen Datenschutzstelle wurde der vorherige Datenschutzbeauftragte nicht ernannt.

Dieses vorzeitige Ende der Amtszeit des Datenschutzbeauftragten gefährdete nach Ansicht der Kommission die Unabhängigkeit der nationalen Datenschutzbehörde. Diese aber wird von der RL 95/56/EG und den Art. 16 AEUV und Art. 8 GRCh eingefordert. Das daraufhin eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren bezog sich dabei nicht auf die funktionelle Unabhängigkeit der neuen Behörde, sondern primär auf die vorzeitige Beendigung der Amtszeit des Datenschutzbeauftragten. Ohne Einhaltung der im Voraus festgelegten, im Ermessen der Mitgliedstaaten stehenden Dauer der Beauftragung sah die Kommission die Gefahr, dass die Kontrollstelle bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben durch die Gefahr eines vorzeitigen Endes ihrer Beauftragung in ihre Unabhängigkeit beeinträchtigt werde.

Berlin – Wien – Budapest

Vordergründig stellt sich das Urteil lediglich als konsequente Fortschreibung der bisherigen Rechtsprechung zur Unabhängigkeit der nationalen Datenschutzstellen dar – eine Rechtsprechungsreise, die den EuGH von Berlin über Wien nunmehr nach Budapest geführt hat:

Die RL 95/46/EG bezweckt die Harmonisierung der nationalen Vorschriften zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, um den freien Verkehr dieser Daten zwischen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Ausgehend von diesem Zweck stehen die nationalen Stellen in der Pflicht, die kollidierenden Interessen zwischen dem Grundrecht auf Privatsphäre und dem freien Verkehr personenbezogener Daten miteinander ins Gleichgewicht zu bringen. In den vergleichbaren Urteilen gegen Deutschland und Österreich hatte der EuGH deutlich gemacht, dass ein solcher Interessensausgleich und damit zugleich eine wirksame und zuverlässige Kontrolle der Einhaltung der Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten nur gelingen könne, wenn die Unabhängigkeit der nationalen Kontrollstellen sichergestellt sei. Die nationalen Kontrollstellen könnten nur dann objektiv vorgehen, wenn sie vor jeglicher Einflussnahme von außen sicher seien.

Dies schließe jegliche Einflussnahme seitens der kontrollierten Stellen sowie jede sonstige äußere Einflussnahme aus, durch die auch nur der böse Schein der Parteilichkeit geweckt werden könnte. Der EuGH hat in den Verfahren gegen Deutschland und Österreich betont, dass bereits die bloße Gefahr einer politischen Einflussnahme auf die Entscheidungen der Kontrollstellen ausreiche, um deren unabhängige Arbeit zu beeinträchtigen. In den Verfahren gegen Deutschland und Österreich folgte der böse Schein der Parteilichkeit aus der staatlichen Aufsicht über die Datenschutzbehörde bzw. der institutionellen Verbindung zum Bundeskanzleramt.

Das Urteil gegen Ungarn beleuchtet eine weitere Facette eines potenziellen, mit dem Gebot der völligen Unabhängigkeit gemäß Art. 28 Abs. 1 UAbs. 2 RL 95/46/EG unvereinbaren bösen Scheins: Der Erlass von Regelungen, die bei der Kontrollstelle zu einem „vorauseilendem Gehorsam“ führen können. Sieht die nationale Regelung entsprechend der Richtlinie zwingend eine Amtszeit mit vorbestimmter Dauer vor, so muss auch die Unabsetzbarkeit des Amtsträgers bis zum Ablauf dieser Amtszeit sichergestellt sein, sofern nicht bestimmte, gesetzlich vorgegebene und objektiv überprüfbar schwerwiegende Gründe vorliegen. Könnte der Mitgliedstaat hingegen durch eine beliebige Änderung der rechtlichen Grundlage über die Amtszeit verfügen, so hinge das vorzeitige Ende der Amtszeit wie ein Damoklesschwert über dem Amtsinhaber – was ein entsprechendes Wohlverhalten oder einen „vorauseilenden Gehorsam“ geradezu nahelegen würde. Dementsprechend kommt der EuGH zu dem Schluss, dass Ungarn mit der vorzeitigen Absetzung des alten Datenschutzbeauftragten durch das Inkrafttreten der neuen Regelung gegen die RL 95/46/EG verstoßen habe.

Same same, but different

Ein folgerichtiges und mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung zur RL 95/46/EG ebenso begrüßenswertes wie wenig überraschendes Urteil. Seine eigentliche Brisanz entfaltet das Urteil im Kontext der Entstehung der angefochtenen Norm, dem ungarischen Verfassungsgebungsprozess seit 2010. Denn anders als in den Verfahren gegen Deutschland und Österreich geht es nicht um die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen zur Gewährleistung „völliger Unabhängigkeit“, sondern um die Systementscheidung an sich: Obgleich die alte und die neue Datenschutzstelle nahezu identisch sind, statuiert der ungarische Verfassungsgesetzgeber eine Diskontinuität zwischen beiden Instituten, die weniger in den übertragenen Aufgaben als vielmehr in den zur Wahrnehmung berufenen Personen zum Ausdruck kommt.

Und gerade mit Blick auf das Verhältnis von Diskontinuität einerseits und tatsächlicher Identität andererseits stellt der EuGH zwar klar, dass es jedem Land freistehe, das institutionelle System zu wählen, das er für sein Land am geeignetsten hält. Er formuliert zugleich (freilich für den speziellen Fall der Umsetzung der Richtlinie 95/46/EG) Grenzen für den verfassungsändernden Gesetzgeber – in der FIDESZ-Diktion: für den Verfassungsgeber. Dieser habe nur bei Wahrung unionsrechtlicher Vorgaben einen Handlungsspielraum hinsichtlich der institutionellen Ausgestaltung der Struktur. Auch wenn institutionelle Änderungen durch Verfassungsgesetze erfolgen, so dürfen sie nicht die praktische Wirksamkeit der unionsrechtlichen Pflicht beeinträchtige – zumal der Vorrang des Unionsrechts ungeachtet des Rangs der nationalen Normen gilt.

Haza csak ott van, hol jog is van

Die praktischen Wirkungen des Urteils dürften zwar gering sein. Denn angesichts der ohnehin im September ablaufenden Amtszeit des früheren Datenschutzbeauftragten ist es schwer vorstellbar, dass ihn die neue Regierung Orbán jemals erneut mit den Aufgaben betraut. Das Urteil dürfte von der Regierung Orbán wohl lediglich als ein „Tritt gegen einen toten Hund“ rezipiert werden, wie Orbán die EuGH-Entscheidung zur Zwangspensionierung ungarischer Richter kommentiert hat, weil bereits das ungarische Verfassungsgericht die Regelung Monate zuvor für nichtig erklärt hatte, Orbán also davon sprach, dass der EuGH ein Urteil über eine Rechtsnorm gefällt habe, die es nicht gebe.

Der Wert des Urteils liegt jedoch darin, dass es für künftige „Verfassungsgebungsprozesse“ deutlich macht, dass sich eine nationale Verfassungsänderung auch dann nicht dem bändigenden Einfluss des Unionsrechts entziehen kann, wenn sie für sich genommen im Einklag mit unionsrechtlichen Pflichten steht. Implizit nimmt das Urteil damit Bezug auf die bereits durch den EuGH und den EGMR kritisierten kleinen Verfassungs- und Gesetzesänderungen, die erst in der Gesamtschau die vom Europäischen Parlament, dem Council of Europe oder der Venedig-Kommission kritisierte systemische Änderung der Rechtsordnung ergeben.

Das Urteil lässt sich auch in eine grundsätzlichere europäische Diskussion einordnen, für die (auch) Viktor Orbán mit Wohlwollen Dank gebührt: Die Selbstreflexion in der EU anlässlich des Kopenhagen-Dilemmas. Vergleichbar dem unbekümmerten Optimismus bei der Etablierung der Maastricht-Kriterien haben die ungarischen Verfassungsreformen verdeutlicht, dass auch die Kopenhagener Kriterien alleine kein Garant für eine auf Dauer angelegte „grundrechtliche Stabilitätsunion“ im Sinne der Art. 2 EUV, Art 3 Abs. 1 und Art.6 EUV sein können. Es ist das nicht ganz freiwillige „Verdienst“ der letzten Regierung Orbán, dass Kommissarin Reding einen neuen Mechanismus für den Schutz der Rechtsstaatlichkeit vorgeschlagen hat und dieser in der EU immer konsensfähiger wird. Er soll jenseits von spezifischen Verstößen gegen das EU-Rechts Konsequenzen aus einer systemischen Veränderung der Verfassungs- und Rechtsordnung eines Mitgliedstaats mit Blick auf Art. 2 EUV ziehen. Derzeit steckt der Mechanismus noch in den Kinderschuhen. Daher bleibt zu hoffen, dass sich Orbáns Verfassungsänderungsehrgeiz aufgezehrt hat und sich die kommende Regierung in der neuen Legislaturperiode von einem Zitat des ungarischen Nationaldichters Petőfi Sándors leiten lässt: Haza csak ott van, hol jog is van (Ohne Recht gibt es keine Heimat)!

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