Erläuterungen anlässlich von #nopag in München
Im Nachgang der vom Bündnis „NoPAG“ veranstalteten, am 10.05. in München abgehaltenen Demonstration gegen das novellierte Polizeiaufgabengesetz ist mir ein Bild aufgefallen, das einen unmittelbar am Rande des Marienplatz postierten Polizisten zeigt, der Übersichtsaufnahmen von der Versammlung mit einem Camcorder aufzeichnet. Befremdlich daran wirkte Zweierlei: Zum einen wurde die von ca. 30.000 Teilnehmern besuchte Demonstration als kreativer und friedlicher Protest charakterisiert. An dieser Einschätzung vermochten auch Anzeigen gegen insgesamt sieben Personen nichts zu ändern. Zum anderen antwortete die Polizei München alsbald auf das Bild und suggerierte damit die Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens . Schon bei einem flüchtigen Blick auf die einschlägige Ermächtigungsgrundlage aus Art. 9 Abs. 2 S. 2 BayVersG kann diese Antwort nicht überzeugen, nimmt sie doch keinerlei Bezug auf die Eingriffsvoraussetzungen, von der Rechtsfolgenseite (Verhältnismäßigkeit) ganz zu schweigen.
Das BayVersG vor dem BVerfG
Bayern hatte von der im Zuge der Föderalismusreform I hinzugewonnenen Kompetenz für das Versammlungsrecht als erstes Bundesland Gebrauch gemacht. Dass die Reichweite der Versammlungsfreiheit dabei an einigen Stellen unterschätzt wurde, brachte eine Entscheidung des BVerfG alsbald zum Vorschein.
In das Blickfeld gerieten speziell die Befugnisse aus Art. 9 Abs. 2 a. F., die die Rechtsgrundlagen für Übersichtsaufnahmen und -aufzeichnungen bildeten. Das Gericht konstatierte gravierende Nachteile. Denn der Sache nach wurde die Polizei mit einer denkbar niedrigschwelligen Eingriffsvoraussetzung – Erforderlichkeit „zur Auswertung des polizeitaktischen Vorgehens“ – zu einer anlasslosen Aufzeichnung ermächtigt. Die Aufzeichnung war „praktisch immer erlaubt“. Zur Anfertigung von Übersichtsaufnahmen war die Polizei bereits ermächtigt, soweit diese mit der Zwecksetzung „Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes“ angefertigt worden waren. Auch bei dieser Zielsetzung war nicht ersichtlich, wie daraus irgendeine tatbestandliche Begrenzung folgen sollte.
Der bayerische Gesetzgeber war zum Erlass eines Änderungsgesetzes gezwungen, mit dem naheliegende Faktoren wie die Größe oder die Unübersichtlichkeit (bei Übersichtsaufnahmen) sowie das Gefahrenpotenzial (bei Übersichtsaufzeichnungen) Einzug hielten.
Übersichtsaufnahmen und -aufzeichnungen nach dem BayVersG
Zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes wird die Versammlung unter freim Himmel gefilmt und live auf einen Monitor der Polizeieinsatzstelle übertragen (Echtzeit-Übertragung der Bilder ohne Speicherung im sog. Kamera-Monitor-Prinzip). Hierfür werden beispielsweise Videowagen oder erhöhte Punkte im Umfeld der Demonstration genutzt. Das Versammlungsrecht verwendet den Begriff der Übersichtsaufnahmen. Hiervon zu trennen sind Vorgänge, in denen eine Übersichtsaufzeichnung (Speicherung) stattfindet.
Dass zwischen Übersichtsaufnahmen und -aufzeichnungen eine Dichotomie besteht, lässt sich anhand des BayVersG ablesen, das unterschiedliche Eingriffsvoraussetzungen postuliert. Für Übersichtsaufnahmen ist Art. 9 Abs. 2 S. 1 BayVersG einschlägig, wonach diese Maßnahme nur offen durchgeführt werden darf und nur zulässig ist, wenn sie wegen der Größe oder Unübersichtlichkeit der Versammlung im Einzelfall erforderlich ist. Positiv an dieser Rechtslage ist, dass diese Maßnahme offen erfolgen muss. Diese Bewertung mag überraschen, wenn später festgehalten wird, dass der Abschreckungseffekt bei Versammlungen gerade durch einen offenen Kameraeinsatz bewirkt wird. Jedoch wird nur bei dieser Vorgehensweise der Versammlungsteilnehmer die Polizei zur Rechtfertigung ihres Vorgehens zwingen können. Negativ ist anzumerken, dass auf das Vorliegen eines Gefahrentatbestands nach wie vor verzichtet wird.
Die Aufzeichnung von Übersichtsaufnahmen ist demgegenüber nach Art. 9 Abs. 2 S. 2 BayVersG nur zulässig, soweit Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass von Versammlungen, von Teilen hiervon oder ihrem Umfeld erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen. An dieser Stelle wird nunmehr an das Vorliegen eines Gefahrentatbestands angeknüpft.
Der Wert der Versammlungsfreiheit
Für die hier zu behandelnde Problematik, Grundrechtserheblichkeit des Kameraeinsatzes auf Versammlungen im Allgemeinen sowie die Rechtmäßigkeit des Kameraeinsatzes bei der NoPAG-Demonstration im Speziellen, ist auch an zwei zentrale Aussagen aus dem für die Dogmatik der Versammlungsfreiheit grundlegenden Brokdorf-Beschluss zu erinnern.
- Das Recht des Bürgers, durch Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv am politischen Meinungsbildungsprozess und Willensbildungsprozess teilzunehmen, gehört zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens. Wegen dieser grundlegenden Bedeutung des Freiheitsrechts sei Selbiges vom Gesetzgeber beim Erlass grundrechtsbeschränkender Vorschriften sowie bei deren Auslegung und Anwendung durch Behörden und Gerichte zu beachten.
- Exzessive Observationen und Registrierungen widersprechen dem grundsätzlich staatsfreien und unreglementierten Charakter einer Versammlung.
Grundrechtsrelevanz von Übersichtsaufnahmen und -aufzeichnungen – oder: die Mär von der „Versubjektivierung“
Bei einem derart hohen Stellenwert der Versammlungsfreiheit darf es nicht überrasschen, wenn der Kameraeinsatz im Zuge der Anfertigung von Übersichtsaufnahmen oder -aufzeichnungen einer Versammlung, als Eingriff in die Versammlungsfreiheit bewertet wird. Denn zusätzlich zu der Tatsache, dass bei dem Stand der digitalen Technik anhand von Übersichtsaufnahmen im Wege schlichter Fokussierung einzelne Personen problemlos identifiziert werden können und dies speziell bei politischen Versammlungen Gefahren auf Seiten des Versammlungsteilnehmers birgt, tritt die durch Kameras ausgelöste Einschüchterungswirkung hinzu. Am anschaulichsten wird Letzteres, wenn man die Betrachtung auf gänzlich unerfahrene Versammlungsteilnehmer lenkt. Diese müssen den Eindruck gewinnen, dass die Beobachtung mit Kameras bereits an die schlichte Inanspruchnahme ihres Grundrechts anknüpft. Sie könnten daher von der Teilnahme an einer Versammlung gänzlich absehen. Ein Verzicht auf die Ausübung dieses Grundrechts würde, neben den geminderten individuellen Freiheitsmöglichkeiten, ganz im Sinne von „Brokdorf“ auch negative Folgen für das Funktionieren unseres Gemeinwesens zeitigen.
Dies stellte auch das BVerfG in der Entscheidung zum BayVersG deutlich heraus, wenngleich in der Folge zwischen Übersichtsaufnahmen- und aufzeichnungen differenziert wurde. In den Aufnahmen erkannte man einen Nachteil von „deutlich geringerem Gewicht“. Immerhin seien Aufnahmen in Echtzeitübertragung nur flüchtiger Natur. Diese Differenzierung überzeugte schon damals nicht. Mutmaßlich wollte man sich auf diesem Wege gegen einen Einwand versichern, der unter dem Schlagwort „Versubjektivierung“ des Eingriffsbegriffs firmiert. Dass hier jedoch allein persönliche Gefühle oder Empfindungen der Versammlungsteilnehmer in Rede stehen, lässt sich keinesfalls nachvollziehen. Denn die Einschüchterungswirkung wird durch ein objektives Moment – in München: ein auf die Versammlungsteilnehmer gerichteter Camcorder in der Hand eines Polizeibeamten unmittelbar am Rande der Versammlung/des Marienplatzes – ausgelöst (die Verknüpfung von subjektiven Empfindungen und objektiven Gesichtspunkten beim Kameraeinsatz zeigt auch OVG Lüneburg Rn. 24 auf). Der einzelne Versammlungsteilnehmer kann in der Regel gar nicht erkennen, ob eine auf die Versammlung gerichtete Kamera lediglich in Echtzeit Bilder auf einen Monitor überträgt oder aber zeitgleich darüber hinaus die Aufnahme aufgezeichnet wird (ebenso OVG Koblenz Rn. 32).
Wenn man es mit der Einschüchterungswirkung ernst meint ist für die Frage des Eingriffs die Unterscheidung zwischen Übersichtsaufnahmen und -aufzeichnungen irrelevant. Selbst eine ausgeschaltete Kamera stellt, solange dies nicht erkennbar ist, einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar. Nichts Anderes würde im Übrigen unter Zugrundelegung des vom BVerwG in Sachen „Tornado-Tiefflug“ dargelegten Prüfungsmaßstabs, der vernünftige Mensch in der Situation des Betroffenen, gelten.
Ausblick
Diese Maßgaben werden mit dem auf dem Bild dokumentierten Vorgang vollkommen außer Acht gelassen. Eine quasi voraussetzungslose Aufzeichnung von Versammlungsübersichten ist seit 2010 (auch) in Bayern nicht mehr zulässig. Den Versammlungsteilnehmern können aus diesem Grund gute Erfolgsaussichten zugeschrieben werden, wenn sie dieses Vorgehen im Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage überprüfen lassen.
Von ungebrochener Aktualität wirkt ein Aufsatz von Koranyi/Singelnstein, an dessen Ende die „nahezu standardmäßig von der Polizei vorgenommene Anfertigung von Bildaufnahmen“ als „häufig nicht von den rechtlichen Befugnissen gedeckt“ angesehen wurde. Die Verfasser formulierten die Hoffnung, dass die Klarstellungen des BVerfG und mehrerer Verwaltungsgerichte „künftig zu einer zurückhaltenderen polizeilichen Praxis führen“ würden.
Auch im Jahr 2018 wächst die Erkenntnis, dass sich die polizeiliche Praxis der Bildaufnahmen von Versammlungen teilweise (weiterhin) fernab der Ermächtigungsgrundlagen bewegt. Einen „Ausrutscher“ oder „Einzelfall“ vermag ich wegen der Antwort der Polizei München nicht zu erkennen. Weitere Urteile von Verwaltungsgerichten werden notwendig sein, um das Bewusstsein für den Wortlaut der Rechtsgrundlagen zu schärfen. Es sollte diesbezüglich darüber nachgedacht werden, aufnehmende, aufzeichnende und ausgeschaltete Kameras mit einer abweichenden Farbe oder sogar mit der Beschriftung „nur Aufnahme“ zu kennzeichnen, um dem Versammlungsteilnehmer die effektive Kontrolle der Rechtmäßigkeit zu ermöglichen.
Zitiervorschlag: Petersen, Weiterhin kein wirksamer Schutz vor Bildaufnahmen bei Versammlungen? Erläuterungen anlässlich von #nopag in München, JuWissBlog Nr. 60/2018 v. 05.06.2018, https://www.juwiss.de/60-2018/
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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Die Argumentation kann ich nachvollziehen. Wie aber steht dies in Einklang mit dem Recht auf Fertigung und Veröffentlichung von Teilübersichtsaufnahme durch Pressevertreter? Ist nicht hier vielmehr die Gefahr gegeben, dass die Teilnahme an einer Demonstration der breiten Öffentlichkeit bekannt wird als
bei polizeilichen Aufzeichnungen? Ist der Umstand, dass Aufnahmen von Pressevertretern auch veröffentlicht werden dürfen, daher nicht mit einer viel größeren einschüchternden Wirkung verbunden? Wenn nun also privat gefertigte Teilübersichtsaufnahmen von Versammlung veröffentlicht werden dürfen, dann dürfte die nicht zu veröffentlichende Teilübersichtsaufnahme durch die Polizei keinen zusätzlichen negativen Effekt beinhalten. Es erschließt sich mir daher nicht, dass von polizeilichen Übersichtaufzeichnungen eine Gefahr ausgehen soll, die nicht bereits besteht.
[…] damals erst recht unstrittig. Zwar war es auch bei Bildaufnahmen von Versammlungen ein langer Weg, bis deren Grundrechtsrelevanz anerkannt wurde, und auch bei anderen Formen der Informationserhebung wie eben der Kfz-Kennzeichenerfassung hat das […]