von CHRISTIAN BREITLER und MARTIN TRAUßNIGG
„Wenn die Welt untergeht, dann gehe ich nach Wien. Dort passiert alles zehn Jahre später.“ Dass dieses Karl Kraus zugeschriebene Zitat bis heute eine gewisse Gültigkeit besitzt, zeigt die aktuelle Diskussion über einen vermeintlich alten Hut. Die „Indexierung“ der österreichischen Familienbeihilfe (vergleichbar mit dem deutschen Kindergeld) für im Ausland lebende Kinder ließ die Wogen in der Alpenrepublik zuletzt hochgehen.
Rückblick: Im Februar 2016 einigten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs auf bestimmte Zugeständnisse an das Vereinigte Königreich. Hintergrund war das bevorstehende Referendum über dessen Verbleib in der Union. Unter anderem wurde vereinbart (vgl. Anlage I Abschnitt D Punkt 2 lit. a), die Kommission solle einen Entwurf zur Änderung der VO (EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vorlegen, um es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, eine Anpassung von Familienleistungen für im Ausland lebende Kinder von Wanderarbeitnehmern an die „Bedingungen“ im Wohnsitzstaat vorzunehmen. Was danach passierte, ist bekannt – die Leave-Kampagne setzte sich durch und die Zugeständnisse sind seither Rechtsgeschichte. Die Idee einer Anpassung exportierter Familienleistungen aber geht ohnedies viel weiter zurück: Bereits die beiden Vorgängerrechtsakte (Art. 40 bzw. Art. 73 Abs. 2) zu der genannten Verordnung enthielten vergleichbare Regelungen hinsichtlich einer Beschränkung dieser Leistungen.
Nun hat sich die österreichische Bundesregierung zu einem Alleingang entschlossen. Ab 1.1.2019 sollen die Beträge an Familienbeihilfe für Kinder, die sich dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat, EWR-Staat oder der Schweiz aufhalten, an das Preisniveau des jeweiligen Staates angepasst werden. Durch diesen „differenzierten Export“ (Erläuterungen, S. 1) würden etwa Kinder in der Schweiz künftig mehr, Kinder in Ungarn deutlich weniger als derzeit erhalten. Für erstere sei das Ausmaß der Entlastung aktuell zu gering, während letztere überfördert würden.
Ja dürfen‘s denn das?
Relevante Rechtsgrundlagen sind die genannte VO (EG) 883/2004 sowie die Freizügigkeits-VO (EU) 492/2011. Subsidiär ist das Primärrecht heranzuziehen. Gemäß Art. 45 AEUV ist innerhalb der Union die Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährleistet. Sie umfasst die Abschaffung jeder unmittelbaren Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit im Binnenmarkt, verbietet aber auch mittelbare Diskriminierungen. Gemäß Art. 48 AEUV – Rechtsgrundlage der VO 883/2004 – besitzt die Union eine Koordinierungskompetenz, zu- und abwandernden Arbeitnehmern sowie deren anspruchsberechtigten Angehörigen „die Zahlung der Leistungen an Personen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten wohnen“, zu sichern (Exportgrundsatz).
Wohnsitzfiktion
Gemäß Art. 67 der VO 883/2004 hat „eine Person […] auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden“ (Beschäftigungslandprinzip). Wie aber ist die Wortfolge „als ob“ auszulegen?
Eine Lesart besteht darin, dass der Anspruch in der betragsmäßig gleichen Höhe zusteht, ein ausländischer Wohnsitz folglich keine Rolle spielen darf. Es wird demnach fingiert, dass Familienangehörige im Beschäftigungsstaat ansässig sind, womit sie Anspruch auf dieselben Leistungen in derselben Höhe haben. Dahingehend tendiert bisher auch der EuGH, wenn er ausführt, dass durch die Bestimmung verhindert werden soll, „dass ein Mitgliedstaat die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen davon abhängig macht, dass die Familienangehörigen […] im Mitgliedstaat der Leistung wohnen“ (vgl. Rs. Maaheimo, Rn. 34). Die betreffende „Fiktion [habe] zur Folge […], dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen für Familienangehörige, die in einem anderen […] Mitgliedstaat wohnen, so erheben kann, als würden sie in dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen“ (vgl. Rs. Trapkowski, Rn. 35).
Dagegen ließe sich vorbringen, dass mit der Formulierung „als ob“ nicht der absolute Betrag gemeint sei, sondern der relative materielle Gegenwert (vgl. Erläuterungen, S. 4). Und letzterer ist eben von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich. Der effet utile des Art. 67 besteht darin, zu verhindern, dass Arbeitnehmer von der Inanspruchnahme ihres Rechtes auf Freizügigkeit absehen, weil ihnen dadurch finanzielle Nachteile erwachsen würden. Bedenkt man, dass eine Indexierung auch zu einer höheren Leistung führen kann, wenn sich Familienangehörige in einem Mitgliedstaat mit höheren Lebenshaltungskosten aufhalten, so würde diesem Regelungszweck dadurch sogar besser entsprochen als derzeit. Allgemein würde eine Indexierung hinsichtlich des Lastenausgleiches, auf den Familienleistungen (mit-)abzielen, zu einer materiellen Gleichbehandlung der Betroffenen führen, da Über- und Unterförderungen beendet und alle relativ (wertmäßig) in der gleichen Höhe entlastet würden.
Betrachtet man Art. 67 jedoch im Kontext, so zeigt sich, dass die Verordnung derzeit von absolut (betragsmäßig) gleichen Ansprüchen auszugehen scheint. So enthält Art. 68 Kollisionsregeln zur Verhinderung von Doppelleistungen und sieht Ausgleichszahlungen vor, wenn Ansprüche unterschiedlicher Höhe zusammentreffen. Zudem stellt auch Art. 7 der VO 883/2004 klar, dass „Geldleistungen […] nicht aufgrund der Tatsache gekürzt [oder] geändert […] werden [dürfen], dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen […] Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen“. Überdies genießen gemäß Art. 7 der VO 492/2011 Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten im Beschäftigungsstaat „die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer“.
Diskriminierung oder Nicht-Diskriminierung?
Die österreichische Bundesregierung gibt sich zuversichtlich. Die Indexierung sei „eine Art der Gleichbehandlung, die […] gerechtfertigt ist“ meinte Bundesminister Blümel (Zeit im Bild 2, 2.5.2018). Allerdings ist bezüglich der in Art. 4 der VO 883/2004 und Art. 45 AEUV enthaltenen Diskriminierungsverbote eine differenzierte Sichtweise geboten: Wohnsitzkriterien werden vom EuGH regelmäßig als mittelbare Diskriminierungen gewertet, die zwar formal nicht an die Staatsangehörigkeit anknüpfen, jedoch durch Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich überwiegend Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten treffen (vgl. Rs. Pinna, Rn. 23). Es erscheint offenkundig, dass überwiegend Kinder von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten einen ausländischen Wohnsitz haben, sodass eine Indexierung primär deren Eltern und nicht österreichische Staatsangehörige treffen würde. Eine Rechtfertigung dürfte sich angesichts der Problematik von Wohnortklauseln (Lesart 1) als schwierig erweisen. Als zwingender Grund des Allgemeininteresses käme allenfalls die Gefährdung des Sozialsystems in Frage, wobei die erhofften Einsparungen in Höhe von ca. € 114 Mio. bei einem jährlichen Budget von ca. € 7,1 Mrd. (Familienlastenausgleichsfonds) nur einen Bruchteil ausmachen, was auf eine Unverhältnismäßigkeit hindeutet.
Vom Vorliegen einer Diskriminierung kann aber nur dann ausgegangen werden, wenn unterschiedliche Vorschriften auf vergleichbare Sachverhalte angewandt werden oder dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Sachverhalte. Bei Anknüpfung an die Lebenshaltungskosten anstatt an den Wohnsitz würde – nach obiger Argumentation (Lesart 2) – jedoch gar nicht in das Freizügigkeitsrecht eingegriffen; vielmehr verhelfe eine Indexierung diesem zu vollem Durchbruch, indem sie materielle Gleichheit erst herstelle. So gesehen wäre die geplante Regelung nicht als Diskriminierung zu werten, sondern sogar unionsrechtlich geboten (vgl. Stellungnahme, S. 3). Vor diesem Hintergrund ist die Aussage, die Indexierung sei „eine […] Gleichbehandlung [und] gerechtfertigt“ jedenfalls irreführend. Eine Rechtfertigung ist nur dann erforderlich, wenn es sich nicht um eine Gleichbehandlung handelt. Relativiert wird diese Argumentationslinie allerdings wiederum durch den EuGH, der in der ähnlich gelagerten Rs. Pinna von einer Vergleichbarkeit der betreffenden Personengruppen ausging (Rn. 21 ff.); andernfalls wäre eine Diskriminierungsprüfung damals nicht erfolgt.
Fazit
Der geplanten Regelung steht derzeit wohl das geltende Sekundärrecht entgegen. Wie in den Brexit-Zugeständnissen vorgezeichnet, müsste die VO 883/2004 daher geändert werden, um eine Indexierung der exportierten Familienbeihilfe einführen zu können. Selbst im Falle einer Änderung bliebe zudem die Frage der Vereinbarkeit mit dem Primärrecht. Eine abschließende Beurteilung obliegt freilich dem EuGH. Hier lassen sich vor dem Hintergrund jüngerer Entwicklungen in dessen Rechtsprechung im Sozialbereich (vgl. etwa die Rs. Dano und Kommission/Vereinigtes Königreich) aber durchaus Chancen für eine Unionsrechtskonformität erkennen. Auch lässt der EuGH dem Unionsgesetzgeber hinsichtlich gestaltender Eingriffe in Grundfreiheiten einen wesentlich weiteren Spielraum als den Mitgliedstaaten, die durch ihre Maßnahmen den Binnenmarkt fragmentieren – quod licet Iovi, non licet bovi. Der Unionsgesetzgeber hat zwar das in Art. 48 AEUV verankerte Exportprinzip zu beachten, es steht ihm aber auch frei, punktuell davon abzuweichen (vgl. auch Art. 7 der VO 883/2004: „sofern […] nichts anderes bestimmt ist“). Derzeit ist diese Option aber ohnedies nur eine hypothetische – die Kommission und mehrere Mitgliedstaaten stehen dem Ansinnen Österreichs klar ablehnend gegenüber.
Dieser Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung der Autoren wieder.
Zitiervorschlag: Breitler/Traußnigg, Indexierung von Familienleistungen unionsrechtswidrig?, JuWissBlog Nr. 61/2018 v. 07.06.2018, https://www.juwiss.de/61-2018/
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