Mit letzten Dienstag veröffentlichten Beschlüssen revidierte das Bundesverfassungsgericht ein zehn Jahre altes Urteil zur automatisierten Kfz-Kennzeichenerfassung. In der allgemeinen Medienlandschaft wurden vor allem wahrgenommen, dass das Gericht schärfere Grenzen für Überwachungstechnologien setzt. Bei genauerem Hinsehen gehen die Entscheidungen aber darüber hinaus und sind weit weniger grundrechtsfreundlich, als es zunächst scheint. Dies betrifft etwa Kontrollstellen bei Versammlungen, an denen in vielen Bundesländern allgemeine Identitätsfeststellungen möglich sind, um Verstöße gegen Waffen-, Schutzausrüstungs- und Vermummungsverbote zu verhindern. Die gerichtlichen Aussagen hierzu erfordern einerseits formale Korrekturen in einigen Ländern. Andererseits laufen sie auf mit polizeirechtlicher Dogmatik unvereinbare, jedenfalls aber zu unbestimmte Eingriffsbefugnisse hinaus und gehen nur oberflächlich auf grundrechtliche Positionen ein. Insofern ist zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht auch diese Rechtsprechung nachbessert und/oder Landesparlamente von sich aus auf eine grundrechtsfreundliche Linie einschwenken.
Kontrollstellen greifen in Grundrechte ein, das muss der Gesetzgeber wissen
Eine verfassungsrechtliche Problematik ergibt sich erst, wenn man in Kontrollstellen überhaupt einen Grundrechtseingriff sieht. Es mag verwundern, dass das bisher umstritten war, denn schließlich hatte das BVerfG schon Anfang der 1990er unmissverständlich festgestellt, dass der Zugang zu Versammlungen von Art. 8 GG geschützt ist (BVerfGE 84, 203 (209), unklar noch BVerfGE 69, 315 (349)). Und dass Identitätsfeststellungen in Grundrechte eingreifen, war damals erst recht unstrittig. Zwar war es auch bei Bildaufnahmen von Versammlungen ein langer Weg, bis deren Grundrechtsrelevanz anerkannt wurde, und auch bei anderen Formen der Informationserhebung wie eben der Kfz-Kennzeichenerfassung hat das Gericht erst jetzt die Eingriffsqualität entdeckt. Aber die Identitätsfeststellung umfasst auch das Recht Personen anzuhalten, und bei diesem physischen Vorgang ist ein Eingriff offensichtlich. Der Grund für die Zweifel ist vielmehr darin zu suchen, dass das Versammlungsrecht damals noch in Bundeskompetenz lag, die Landespolizeigesetze deshalb grundsätzlich keine Versammlungseingriffe erlauben durften. Um keinen Verfassungsverstoß feststellen zu müssen, wurde trotz der klaren BVerfG-Rechtsprechung an der alten Rechtslage festgehalten und der Eingriff „weginterpretiert“, indem in Kontrollstellen kein Mittel zur Beeinträchtigung der eigentlichen Versammlung gesehen wurde. Und auch nachdem die Länder in Folge der Föderalismusreform 2006 die Gesetzgebungskompetenz erhalten haben, ist immer noch problematisch, inwieweit die jeweiligen Versammlungsgesetze eine abschließende Regelung enthalten und den Rückgriff auf das allgemeine Polizeirecht sperren. Das Problem der unklaren Rechtslage von versammlungsbezogenen Vorfeldmaßnahmen ließe sich aber in den Griff bekommen, indem die nunmehr unzweifelhaft zuständigen Länder „saubere“ Gesetze erlassen. Und dazu gehört bei Grundrechtseingriffen nun mal die Einhaltung des Zitiergebots. Insofern ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das eben jenen formalen Verfassungsverstoß durch §§ 18 Abs. 2 Nr. 5, 10 HSOG in gerade einmal fünf Sätzen feststellte (Rn. 61f.), ein Schritt in die richtige Richtung. Genau die gleiche Lage besteht in sieben weiteren Bundesländern (BB, HB, HH, NRW, MV, SN, TH), die nun nachbessern müssen.
„Allgemeine Grundsätze des Sicherheitsrechts“ als Aushilfe für defizitäre Normen
Weit weniger überzeugend ist, dass das Bundesverfassungsgericht die Kontrollstellen in Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 BayPAG in kurzen Ausführungen als verfassungskonform erachtet (Rn. 135f.). Die Regelung sei verhältnismäßig, weil sie tatsächliche Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr verlange. Die in der Literatur geforderte unmittelbar bevorstehende Gefahr gelte nur für Versammlungsverbote. Vorfeldmaßnahmen beeinträchtigten die Versammlung nicht selbst, sondern schützten sie, weshalb die niedrigere Eingriffsschwelle ausreiche.
Aber schon die Interpretation, dass die Norm tatsächliche Anhaltspunkte verlange, überzeugt nicht. Denn im Gegensatz zu wenigen anderen Ländern (HB, HH, NDS) stehen sie so nicht im bayrischen Gesetz und bei Einführung der letztlich auf das Musterpolizeigesetz von 1976 zurückgehenden Regelungen ging es gerade darum, auch verdachtsunabhängige Kontrollen vor Versammlungen zu ermöglichen. Das Gericht „entnimmt“ die Voraussetzungen nun aus der Generalklausel des Art. 11 BayPAG (Rn. 133, 136). Eine solche Auslegung nach den „allgemeinen Grundsätzen des Sicherheitsrechts“ widerspricht jedoch nicht nur dem Willen des Gesetzgebers, sondern auch der bisherigen Dogmatik des Polizeirechts, die solch ein selektives „Auffüllen“ von bewusst für Sondersituationen geschaffenen Spezialbefugnissen mit Kriterien der Generalklausel nicht kennt. Es spricht daher viel dafür, dass das Gericht hier die Grenzen der Auslegung überschreitet.
Die neue Unübersichtlichkeit
Man könnte sich durchaus darum bemühen, die „Auslegung“ des Gerichts mit der polizeirechtlichen Dogmatik bzw. den „allgemeinen Grundsätzen des Sicherheitsrechts“ in Einklang zu bringen. Aber wenn schon auf die Generalklausel zurückgegriffen wird, so fragt sich, warum das nur für die Gefahrenschwelle gelten soll und nicht für den Adressatenkreis. Das Bundesverfassungsgericht definiert selbst: „Die konkrete Gefahr wird durch drei Kriterien bestimmt: den Einzelfall, die zeitliche Nähe des Umschlagens einer Gefahr in einen Schaden und den Bezug auf individuelle Personen als Verursacher.“ (BVerfGE 120, 274 (328)) Danach richten sich Maßnahmen primär gegen die Verantwortlichen („Störer“) und nur unter sehr engen Voraussetzungen gegen die „Nichtstörerin“. Kontrollstellen ermöglichen Identitätsfeststellungen ohne personenbezogenen Verdacht, aber ist das mit den „allgemeinen Grundsätzen des Sicherheitsrechts“ vereinbar? Hier begibt man sich in ein polizeirechtlich unübersichtliches Gebiet, in dem so manche Abgrenzungen unklar sind: Geht es hier um einen sog. Gefahrenverdacht oder doch eher um eine abstrakte Gefahr? Sind Demonstranten „Verdachtsstörer“? Unterscheiden sich „tatsächliche Anhaltspunkte“ und „Tatsachen“? Es spricht viel dafür, dass die beabsichtigte Teilnahme an einer Demonstration eine Person gerade vor dem Hintergrund des Art. 8 GG nicht schon zur Störerin macht . Aus verfassungsrechtlicher Perspektive mag man zwar mit den „allgemeinen Grundsätzen des Sicherheitsrechts“ über manches polizeirechtliche Detail hinweggehen. Aber Eingriffe in ein spezielles Grundrecht auf eine vage und zusammen geschusterte Rechtsgrundlage zu stützen, erscheint vor den sonst vom Bundesverfassungsgericht postulierten strengen Anforderungen („Der Anlass, der Zweck und die Grenzen des Eingriffs müssen in der Ermächtigung bereichsspezifisch, präzise und normenklar festgelegt werden“, BVerfGE 113, 348 (375)) äußerst zweifelhaft.
Nur ein gut gemeinter Grundrechtseingriff?
Schließlich macht es sich das Gericht zu einfach, wenn es konkrete Anhaltspunkte für Verstöße gegen die eingangs genannten Verbote als Eingriffsschwelle ausreichen lässt. Dass an Kontrollstellen eine große Personenzahl betroffen ist, gegen die kein individueller Verdacht besteht, hätte durchaus einen schärferen Maßstab nahegelegt, etwa eine unmittelbar bevorstehende Gefahr (wie von Teilen der Literatur gefordert ). Schließlich geht von solchen pauschalen Maßnahmen ein Einschüchterungseffekt aus, der Betroffene davon abhalten kann, von ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch zu machen. Auch wäre darüber nachzudenken, ob das Ziel ein hinreichendes Gewicht hat oder ob die Suche nach Vermummungsgegenständen, deren Mitsichführen in Bayern nur als Ordnungswidrigkeit geahndet werden, nicht doch ein bisschen wenig ist. Zur Verhältnismäßigkeit ließe sich auch fragen, ob denn die flächendeckende Identitätsfeststellung tatsächlich ein milderes Mittel ist, wenn es doch eigentlich um die Suche nach inkriminierten Gegenständen geht. Andere Länder gehen hier differenzierter vor. Doch stattdessen spielt das Gericht die Eingriffsintensität auch damit herunter, die Maßnahme schütze ja die Versammlung. So könnte man fast jede personenunabhängige Sicherheitsmaßnahme rechtfertigen, denn schließlich dienen sie (hoffentlich) stets hehren Zielen und oft auch dem Schutz der Betroffenen. Der gute Wille verringert jedoch nicht die Intensität eines Grundrechtseingriffs und ersetzt auch nicht eine Auseinandersetzung mit den betroffenen Rechtsgütern und Mitteln.
Nach all dem bleibt zunächst die Hoffnung, dass die Länder sich bei der Nachbesserung ihrer Polizeigesetze nicht nur auf die Einhaltung des Zitiergebots beschränken. Bremen und Niedersachsen etwa haben Normen geschaffen, die die Anordnung von Kontrollstellen klar regeln, um rechtsstaatlichen Anforderungen zu genügen. Doch eine grundrechtliche Perspektive spricht eher dafür, auf Kontrollstellen bei Versammlungen ganz zu verzichten, wie es immerhin vier Länder bereits tun. Das würde allerdings die Chancen verringern, dass das Bundesverfassungsgericht noch eine zweite Gelegenheit bekommt, die Defizite der neusten Rechtsprechung auszubessern. Bei der Kfz-Kennzeichenerfassung hat es diese ja teilweise genutzt.
Zitiervorschlag: Madjarov, Fehler geheilt, Fehler begangen? Das BVerfG zu Kontrollstellen bei Versammlungen, JuWissBlog Nr. 18/2019 v. 15.2.2019, https://www.juwiss.de/18-2019/
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