von CHRISTIAN BENZ
Am gestrigen Dienstag, dem 14.12.2021, lud der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts zur mündlichen Verhandlung von verschiedenen Überwachungsbefugnissen des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (BayVSG). Diskutiert wurden in erster Linie Probleme, die bereits aus vergangenen Entscheidungen zu Überwachungsbefugnissen bekannt sind, wobei der Senat wegen der Besonderheit der Materie, dem Verfassungsschutzrecht und nicht wie sonst dem Polizeirecht, eine leicht andere Akzentuierung erkennen ließ.
„Wenn ihr Songwünsche habt, ruft sie einfach. Spielt denselben Song nochmal! Alles klar, denselben Song und los!“ Diesen Eindruck konnten die Zuschauer während der gestrigen mündlichen Verhandlung des Ersten Senats – im Übrigen der einzigen mündlichen Verhandlung einer Verfassungsbeschwerde in diesem Kalenderjahr – gewinnen. Verhandelt wurde ein neues Sicherheitsgesetz, doch die Probleme sind die alten: Bestimmtheit, Eingriffsschwellen, Kontrolle. Diesen verfassungsrechtlich inzwischen gängigen Akkord, vermag der Gesetzgeber offenbar einfach nicht richtig spielen zu können.
I. Beteiligte und Gegenstand des Verfahrens
Doch der Reihe nach. Unterstützt durch die Gesellschaft für Freiheitsrechte erhoben drei Bürger im Jahr 2017 Verfassungsbeschwerde gegen das BayVSG (Aktenzeichen: 1 BvR 1619/17), das der Bayerische Landtag am 12.07.2016 beschlossen hatte und zum 01.08.2016 das bis dahin geltende Landesverfassungsschutzrecht umfassend reformierte und ersetzte. Es enthält zahlreiche Überwachungsbefugnisse und ermächtigt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz u. a. zum verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Wohnraumüberwachung (Art. 9), zur Online-Durchsuchung (Art. 10), zur Ortung von Mobilfunkendgeräten (Art. 12), zum Abruf von auf Vorrat gespeicherten Daten (Art. 15 Abs. 3) sowie zum Einsatz von verdeckten Ermittlern und Vertrauenspersonen (Art. 18 und 19). Darüber hinaus wurde mit Art. 19a zum 1. Juli 2018 die Befugnis zur Durchführung einer längerfristigen Observation ins BayVSG aufgenommen, gegen welche die Beschwerdeführer ebenfalls Verfassungsbeschwerde erhoben hatten. Gegenstand des Verfahrens ist formal ebenfalls die Befugnis zur Durchführung einer Quellen-Telekommunikationsüberwachung gem. Art. 13; allerdings ist hier mit einer baldigen Erledigung der Hauptsache zu rechnen, da der bayerische Landesgesetzgeber diese Vorschrift wohl Anfang des kommenden Jahres aus dem Gesetz streichen wird. Die Befugnis ist inzwischen im G-10 geregelt (Gegen die entsprechenden Normen des G-10 ist ebenfalls eine Verfassungsbeschwerde anhängig), sodass für eine Regelung im BayVSG kein Bedarf mehr besteht. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz verfügt damit in Summe über alle zum heutigen Tage bekannten und besonders tief eingreifende Überwachungsinstrumente.
Neben den genannten Befugnissen zur Datenerhebung wenden sich die Beschwerdeführer gegen Art. 25, der die Datenübermittlung durch den Bayerischen Verfassungsschutz an andere Stellen regelt, sowie gegen Art. 15 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BayDSG, der die Aufsicht über den Bayerischen Verfassungsschutz durch den Datenschutzbeauftragten regelt.
II. Gang und Rechtsfragen der mündlichen Verhandlung
Eröffnet wurde die Verhandlung wie üblich durch den Vorsitzenden des Ersten Senats Stephan Harbarth, der bereits in seinem Eingangsstatement betonte, dass die aufgeworfenen Fragen sowohl in tatsächlicher als auch rechtlicher Hinsicht schwierig seien und sich im Spannungsfeld zweier zentraler Ideen des Grundgesetzes bewegten: der wehrhaften Demokratie und des Schutzes individueller Freiheit. Berichterstatterin Gabriele Britz ergänzte, dass sich die Verfassungsbeschwerden zwar nicht gegen die einzelnen Regelungen als solche, sondern vor allem gegen Details der Normen richteten. Darüber hinaus gäbe es zwar inzwischen eine gefestigte Rechtsprechungslinie in Bezug auf Überwachungsbefugnisse, die jeweiligen Fälle hätten indes überwiegend polizeiliche und nicht nachrichtendienstliche Befugnisse zum Gegenstand gehabt. Eine schlichte Übertragung der Anforderungen sei fraglich. Anknüpfungspunkte fänden sich in der Rechtsprechung des Gerichts hauptsächlich in den Entscheidungen zur Online-Durchsuchung (BVerfGE 120, 274) und zum BND-Gesetz (BVerfGE 154, 152).
In der Sache wurden verschiedene Einzelprobleme diskutiert, von denen einige hier ebenfalls aufgeworfen werden sollen.
1. Verstöße gegen das Bestimmtheitsgebot?
Schon in seinem Eingangsstatement wies der Prozessvertreter der Beschwerdeführer, Matthias Bäcker, darauf hin, dass viele der Normen unklar ausgestaltet seien. Dies sah der Senat offenbar ähnlich und so wurde insbesondere diskutiert, was unter dem Begriff der „schwerwiegenden Gefahr“, der gleich in mehreren Normen des BayVSG auffindbar ist, zu verstehen sei. Ist dieser im Sinne der polizeirechtlichen Gefahr zu interpretieren oder müsse er speziell verfassungsschutzrechtlich (dies bejahend der Prozessvertreter der Bayerischen Staatsregierung, Franz Josef Lindner) ausgelegt werden?
Ist ferner die Befugnis zum Abruf von Vorratsdaten gem. Art. 15 Abs. 3 hinreichend klar und bestimmt ausgestaltet, wenn sie pauschal ins Telekommunikationsgesetz (TKG) verweist (und darüber hinaus auf eine inzwischen falsche Norm verwiesen wird)? Das TKG ermächtigt nämlich nur Gefahrenabwehrbehörden – nicht aber Nachrichtendienstbehörden – und diese überdies nur zur Abwehr einer konkreten Gefahr zum Abruf von Vorratsdaten. Ist schließlich Art. 15 Abs. 1a hinreichend klar ausgestaltet, wenn die Norm pauschal die Übermittlung von Informationen durch den Nachrichtendienst an öffentliche und nicht-öffentliche Stellen in Mitgliedstaaten der Europäischen Union erlaubt? Wer sich nun fragt, ob damit nicht im Wesentlichen alle Stellen in der EU gemeint seien, dem ist zu erwidern: Völlig richtig! In der Praxis (so Verfassungsschutzpräsident Burkhardt Körner) gäbe indes der Nachrichtendienst Informationen nur an andere Nachrichtendienste weiter. Keineswegs werde also der rechtliche Rahmen vollständig ausgenutzt. Ob es darauf bei einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde insgesamt ankommen kann, darf man jedoch (ebenso wie auch Matthias Bäcker während der Verhandlung) bezweifeln.
2. Hinreichende Eingriffsschwellen?
In Bezug auf einige Befugnisse wurde kritisch diskutiert, ob der Gesetzgeber hinreichende Eingriffsschwellen normiert hat. So erlaubt das BayVSG in den Art. 18 und 19 den Einsatz von verdeckten Ermittlern und Vertrauenspersonen (Personen, von denen der Dienst Informationen kauft, die aber selbst keine Angestellten des Dienstes sind), sobald und sofern der sachliche Zuständigkeitsbereich des Dienstes eröffnet ist. Dies ist bei einer Verfassungsschutzbehörde allerdings naturgemäß sehr früh der Fall. Der Einsatz einer solchen Quelle kann jedoch – insbesondere, wenn sie eine Vertrauensbeziehung zur ausgehorchten Person aufbaut – ein hohes Eingriffsgewicht aufweisen.
Auch im Falle der längerfristigen Observation gem. Art. 19 rügten die Beschwerdeführer, dass keine hinreichenden Eingriffsschwellen normiert worden seien. Zwar sei im Gegensatz zu den eben genannten Normen immerhin überhaupt eine Eingriffsschwelle eingefügt worden. Da aber die längerfristige Observation im Einzelfall in ihrer Eingriffsintensität einer Wohnraumüberwachung nahekommen könne, sei die Eingriffsschwelle nicht ausreichend und müsse verschärft werden.
3. Fehlende unabhängige Kontrolle?
Nachrichtendienste mögen unabhängige Kontrollen nicht sonderlich gerne. Das ist nachvollziehbar, da sie die Arbeit behindern und verschleppen (können). Sie sind aber rechtsstaatlich unumgänglich und so rügten die Beschwerdeführer insbesondere, dass keine hinreichenden Vorabkontrollen zur Sicherung grundrechtlicher Freiheiten normiert seien. Dabei wurden u.a. zwei Probleme identifiziert:
Verfassungswidrig sei erstens, dass es für die Durchführung von Maßnahmen nach Art. 18 und 19 (siehe soeben) überhaupt keine unabhängige Vorabkontrolle gibt.
Zweitens stellt die Praxis der Online-Durchsuchung den Senat vor rechtliche Probleme im Hinblick auf den Kernbereichsschutz. Diese beschrieb Verfassungsschutzpräsident Burkhardt Körner wie folgt: Nach einer erfolgten Online-Durchsuchung würden die gewonnenen Daten nicht zunächst einer unabhängigen Stelle vorgelegt, welche prüft, ob einzelne Kernbereichsdaten gelöscht werden müssten. Stattdessen identifizierten Mitarbeiter des Dienstes Kernbereichsdaten und löschten diese. Treten hierbei Zweifelsfälle auf, würden die fraglichen Daten einer unabhängigen Stelle zur Entscheidung vorgelegt. Dieses Vorgehen sah der Senat kritisch und warf die Frage auf, ob dieses Verfahren nicht verändert werden könne. Eine vollständige, präventive Sichtung aller erhobenen Daten sei indes praktisch kaum umsetzbar, da erstens der Umfang der Daten schlicht zu groß sei, um von einzelnen Personen gesichtet zu werden und zweitens die Auswertung regelmäßig durch Informatiker und nicht von technischen Laien durchgeführt würde, argumentierte Körner.
III. Ausblick
Die mündliche Verhandlung war geprägt von Detailfragen. Wie kann und darf dieses und jenes Wort ausgelegt werden? Genügt diese oder jene Eingriffsschwelle? Ist die Kontrolle des Dienstes hinreichend ausgestaltet?
Das zugrunde liegende Problem ist aber, dass verfassungsgerichtlich entwickelte, übergreifende Maßstäbe für die Überwachungstätigkeit durch (Inlands-)Nachrichtendienste bislang kaum ersichtlich sind. Die Maßstäbe, die für die polizeiliche Tätigkeit insbesondere in der Entscheidung zum BKAG (BVerfGE 141, 220) entwickelt worden sind, dürften wegen der Andersartigkeit der nachrichtendienstlichen Tätigkeit nicht eins zu eins auf den vorliegenden Fall übertragbar sein. Das Gericht kann also das vorliegende Verfahren nutzen, um Maßstäbe für die nachrichtendienstliche Tätigkeit zu entwickeln. Es sollte diese Chance nutzen und Rechtssicherheit schaffen, damit in Zukunft nicht immer wieder derselbe Song gespielt werden muss.
Zitiervorschlag: Christian Benz, Neues Gesetz, bekannte Probleme – die mündliche Verhandlung des BVerfG zum BayVSG vom 14.12.2021, JuWissBlog Nr. 114/2021 v. 15.12.2021, https://www.juwiss.de/114-2021/.
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[…] in meinem Beitrag vom 15.12.2021 habe ich hervorgehoben, dass insbesondere die Probleme um die Normierung von hinreichenden […]