Kopftuch revisited – Karlsruhe ebnet Weg für religiöse Vielfalt in der Schule

von MICHAEL WRASE

Michael WraseIn einem heute veröffentlichten Beschluss vom 27. Januar 2015 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass ein generelles Verbot des Tragens eines muslimischen Kopftuchs im Schuldienst die Glaubensfreiheit der Lehrperson verletzt. Für ein solches Verbot sei in verfassungskonformer Auslegung der schulgesetzlichen Bestimmungen im Einzelfall eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens erforderlich. Zugleich erklärte das Gericht die Regelung des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes, wonach die „Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte“ von dem Verbot religiöser Bekundungen ausgenommen sind, für mit Art. 3 Abs. 3 S. 1, 33 Abs. 3 GG unvereinbar und nichtig.

Vorgeschichte I: Das Ludin-Urteil des Zweiten Senats aus dem Jahr 2003

Um die Bedeutung der Entscheidung des Ersten Senats zu verstehen, muss man die Vorgeschichte betrachten. Vor über zwölf Jahren sorgte das Verfahren um die baden-württembergische Lehramtsanwärterin Fereshta Ludin, die auf ihr muslimisches Kopftuch im Schuldienst nicht verzichten wollte, für großes Aufsehen und heftige Kontroversen. Die 2003 auf Verfassungsbeschwerde von Ludin hin mit äußerst knapper Mehrheit von 5 zu 3 Stimmen ergangene Entscheidung des Zweiten Senats blieb im staatsrechtlichen Schrifttum heftig umstritten.

Der „Clou“ der Mehrheit im Zweiten Senat damals lag drin, die eigentliche Entscheidung für oder gegen das Kopftuch einer Lehrerin an die Landesgesetzgeber zu delegieren. Der Senat zeigte zwei Möglichkeiten auf, zwischen denen sich die Länder entscheiden konnten: Die Schule sei ein Ort, an dem ein tolerantes Miteinander eingeübt und ein Beitrag im Bemühen um Integration geleistet werden könne. Entscheide sich der Gesetzgeber für einen toleranten Umgang, so könne er auch den Lehrkräften das Tragen religiöser Kleidungsstücke als Ausdruck ihrer Persönlichkeit nicht untersagen.

Auf der anderen Seite bestehe die zumindest abstrakte Gefahr, dass ein vermehrtes Auftreten religiöser Symbole und Einflüsse in der Schule zu Konflikten führe. Insofern könne es gute Gründe dafür geben, die staatliche Neutralitätspflicht in öffentlichen Schulen zu verstärken und von den Lehrkräften Distanz von religiösen Bekenntnissen insgesamt zu fordern. Ein Verbot religiöser Symbole und Kleidungsstücke für Lehrkräfte, so meinte die damalige Richtermehrheit, ließe sich dann auf eine abstrakte Gefahr stützen. Entscheide sich die Politik im Sinne einer solchen strikten Neutralitätslösung, so müsse der Gesetzgeber dafür aber eine ausdrückliche Regelung schaffen, nach der Angehörige unterschiedlicher Religionsgemeinschaften strikt gleich behandelt werden.

Vorgeschichte II: Landesgesetzgebung und höchstrichterliche Rechtsprechung

Möglicherweise war die Mehrheit im Zweiten Senat davon ausgegangen, dass der Umgang mit dem Kopftuch in den Bundesländern nicht einheitlich ablehnend, sondern pluralistisch sein würde. Jedoch erließen die Bundesländer nun nach und nach Gesetze, die Lehrkräften die religiöse oder weltanschauliche „Symbole“, „Kleidungsstücke“ oder „Bekundungen“ untersagten. Insgesamt haben acht Bundesländer, darunter mit Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen die mit Abstand bevölkerungsstärksten, entsprechende Verbotsgesetze verabschiedet. Zugleich hat die Mehrzahl der Verbotsländer die „Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte“ vom jeweiligen Verbot explizit ausgenommen; lediglich Niedersachsen, Berlin und Bremen haben auf eine solche Privilegierung christlich-abendländischer Darstellungen verzichtet.

Die vor dem Ersten Senat anhängigen Verfassungsbeschwerden

Dem heute veröffentlichten Beschluss des Ersten Senats lagen zwei zur gemeinsamen Entscheidung verbundene Verfassungsbeschwerden zugrunde, die das Verbot religiöser Bekundungen in § 57 Abs. 4 Schulgesetz von Nordrhein-Westfalen (SchulG NRW) betrafen. Bei der einen Beschwerdeführerin handelte es sich um eine angestellte Sozialpädagogin, die ihr Kopftuch nach Inkrafttreten der Verbotsregelung in NRW und Aufforderung der Schulbehörde durch eine rosafarbene Baskenmütze mit Strickbund ersetzte und dennoch eine arbeitsrechtliche Abmahnung erhielt. Ihre auf Entfernung der Abmahnung gerichtete Klage blieb bis zum Bundesarbeitsgericht erfolglos.

In dem anderen Fall wurde der seit 2001 im Schuldienst des Landes tätigen Lehrerin sogar gekündigt, obwohl es wegen ihres Kopftuchs bis zum Inkrafttreten der Verbotsregelung keine nennenswerten Beanstandungen gab. Auch hier stützten die Arbeitsgerichte bis hin zum Bundesarbeitsgericht die Entscheidung der Schulbehörde.

Die Entscheidung des Ersten Senats

Der Erste Senat hat den Verfassungsbeschwerden mit 6 zu 2 Richterstimmen stattgegeben und eine Verletzung der Glaubensfreiheit der Beschwerdeführerinnen durch die arbeitsgerichtlichen Urteile festgestellt. In seiner Begründung wiederholt der Senat zunächst die zur Glaubensfreiheit gefestigten dogmatischen Grundsätze, wonach Art. 4 Abs. 1, 2 GG als einheitliches Grundrecht auszulegen ist und das Recht des Einzelnen umfasst, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten, soweit sich die religiöse Motivation plausibel darlegen lässt. Die Regelung des § 57 Abs. 4 S. 1 SchulG NRW in ihrer Auslegung durch die Fachgerichte, wonach religiöse Bekundungen wie das Kopftuch im Schuldienst per se ausgeschlossen sein sollen, betrachtet der Senat zu Recht als einen „schwerwiegenden Eingriff“ in die Religionsfreiheit der Beschwerdeführerinnen. Diese hätten plausibel dargelegt, dass das Tragen der Kopfbedeckung nach ihrer religiösen Überzeugung zwingend sei. Das strikte Verbot komme daher faktisch einem Berufszugangsverbot nahe (Rn. 96).

Rückkehr zur Verhältnismäßigkeitsprüfung

Entsprechend der herkömmlichen Dogmatik sucht das Gericht infolgedessen nach möglichen Rechtfertigungsgründen für den Eingriff und misst diese am Maßstab der Verhältnismäßigkeit. Als legitimes Ziel des Gesetzgebers erkennt die Senatsmehrheit das Anliegen, den Schulfrieden und die staatliche Neutralität zu wahren, wofür die Verbotsregelung auch geeignet sei. Doch bereits an der Erforderlichkeit hat der Senat erhebliche Zweifel. Denn das Gesetz verlange gerade keine konkrete Gefährdung der genannten Schutzgüter, sondern betrachte religiöse Bekundungen schon abstrakt als gefährlich, greife also auch dort, wo – was im Fall der Beschwerdeführerin zu 2 deutlich wird – überhaupt keine Spannungen aufgetreten sind. Spätestens auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn sieht der Erste Senat für ein solch weitgehendes Verbot ohne jegliche konkrete Anhaltspunkte für Gefährdungen oder Störungen des Schullebens keine tragfähigen Gründe mehr, die einer Abwägung mit dem Grundrechten der Kopftuchträgerinnen standhalten könnten. Damit grenzt er sich klar von den Ausführungen des Zweiten Senats von 2003 ab, der es dem Gesetzgeber explizit freigestellt hatte, bereits eine abstrakte und nicht konkret belegbare Gefährdung des Schulfriedens zum Anlass für eine Verbotsregelung zu nehmen.

Zu Recht, denn die Entscheidung des Zweiten Senats hatte sich in keiner Weise mit der Frage befasst, wie die von ihm vorgeschlagene strenge Neutralitätslösung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Einklang gebracht werden kann. Oder anders ausgedrückt: Nach der damaligen Entscheidung sollte im Fall der Annahme einer abstrakten Gefährlichkeit schlicht und einfach keine Verhältnismäßigkeitsprüfung und Abwägung (mehr) stattfinden, sondern das streng definierte Neutralitätsgebot generellen Vorrang vor den Grundrechten der Lehrerinnen genießen. Grundrechtsdogmatisch stand das schon damals auf tönernen Füßen.

Erforderlich ist eine konkrete, belegbare Gefahr

Vor diesem Hintergrund ist es konsequent, dass der Erste Senat nunmehr die abstrakte Gefahr, die von religiösen Kleidungsstücken ausgehen kann, nicht mehr ausreichen lässt, sondern eine hinreichend belegbare konkrete Gefährdung verlangt: „Das Vorliegen der konkreten Gefahr ist zu belegen und zu begründen“ (Rn. 116). Als Beispiel nennt das Gericht Konflikte, die durch ältere Schüler oder Eltern ausgelöst werden könnten, die eine Kopftuch tragende Lehrerin ablehnten. Doch würde auch dies keine unnachgiebige Durchsetzung des Kopftuchverbots oder eine Entlassung der Lehrperson rechtfertigen, vielmehr sei „zunächst eine anderweitige pädagogische Verwendungsmöglichkeit in Betracht zu ziehen“ (Rn. 113).

Das Bundesverfassungsgericht kehrt in seiner Entscheidung somit wieder zur gängigen Verhältnismäßigkeitsprüfung und damit der Sache nach zum Grundsatz der praktischen Konkordanz zurück. Es betont zugleich die Offenheit der Gemeinschaftsschule für eine Vielzahl religiöser Ausdrucksformen und Bezüge: Die Schule habe offen zu sein „für muslimisch und andere religiöse und weltanschauliche Inhalte und Werte. Dieses Ideal muss im Interesse einer ausgleichenden, effektiven Grundrechtsverwirklichung in der Gemeinschaftsschule auch gelebt werden dürfen“ (Rn. 115). Da die Arbeitsgerichte bei ihrer Anwendung des Schulgesetzes davon ausgegangen waren, dass es auf eine vom Kopftuch ausgehende konkrete Gefahr für den Schulfrieden nicht ankomme, waren die Entscheidungen aufzuheben.

Privilegierung christlich-abendländischer Darstellungen verfassungswidrig

In der Privilegierung einer Darstellung christlich-abendländischer Bildungs- und Kulturwerte sieht der Senat ebenso zu Recht eine gegen Art. 3 Abs. 3 S. 1 und Art. 33 Abs. 3 GG verstoßende Diskriminierung aufgrund der Religion. Einer verfassungskonformen Auslegung erteilt das Bundesverfassungsgericht in seinem neuen Beschluss eine Absage. Denn schon die Fassung des Tatbestands nach § 57 Abs. 4 S. 3 SchulG als Ausnahme zum Bekundungsverbot zeige den klaren Willen des Gesetzgebers, christliche und abendländische Symbole und Kleidungsstücke zu bevorzugen. Demgegenüber ist die Auffassung der dissentierenden Richter Schluckebier und der Richterin Hermanns schwer nachvollziehbar, wenn sie zwar einerseits einräumen, dass § 57 Abs. 4 S. 3 SchulG in der einschränkenden Interpretation der Fachgerichte eigentlich keine Bedeutung mehr habe und sich auch nicht in den Regelungskontext füge, dieses aber „ohne Bedeutung für die Frage“ sei, „ob er verfassungswidrig ist“ (Rn. 24). Eine Norm in einer Weise zu interpretieren, dass sie eigentlich überflüssig wäre, kann eigentlich nicht Ziel der verfassungskonformen Auslegung sein. So merkt die Senatsmehrheit an, dass bei einer so verstandenen verfassungskonformen Auslegung gegebenenfalls eine Norm in Kraft bleibe, die „als Öffnung für eine diskriminierende Verwaltungspraxis verstanden werden könnte und deren diesbezügliche Unschärfe im Gesetzgebungsverfahren bewusst hingenommen wurde“ (Rn. 136).

Weiteres und Fazit

Es wäre noch auf vieles in der Begründung des Beschlusses näher einzugehen, vor allem auch auf die Prüfung und Bejahung einer mittelbaren Geschlechterdiskriminierung durch das religiöse Bekundungsverbot, das „in Deutschland faktisch ganz überwiegend muslimische Frauen [betrifft], die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen“ (Rn. 142 ff.). Interessant und neu sind auch die Ausführungen des Senats zur Prüfung des nordrhein-westfälischen Landesgesetzes am Maßstab der Europäischen Menschenrechtskonvention als geltendes Bundesrecht und an den Vorschriften des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (Rn. 147 ff.). Darauf kann hier leider nicht mehr eingegangen werden.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Erste Senat der berechtigten Kritik an der früheren Entscheidung des Zweiten Senats Rechnung getragen hat und mit der neuen Entscheidung auf die herkömmlichen Pfade der Grundrechtsdogmatik zurückgekehrt ist. Zugleich hat das Gericht verfassungsrechtlich den Weg für mehr religiöse Toleranz und Vielfalt in der Schule geebnet.

Zwar könnte man auf den ersten Blick meinen, der Senat hätte, soweit er von den Ausführungen des Zweiten Senats in dessen Ludin-Entscheidung abgewichen ist, die Sache nach § 16 BVerfGG dem Plenum vorlegen müssen (so Heinig). Dass er dies nicht getan hat, wird im Beschluss zwar nicht ausdrücklich begründet. Es erhellt sich aber aus einem Hinweis im abweichenden Votum (Rn. 7). Offenbar ist der Erste Senat nämlich davon ausgegangen, dass die Ausführungen des Zweiten Senats zur Möglichkeit eines generellen religiösen Bekleidungsverbots aufgrund abstrakter Gefahren für seine damalige Entscheidung nicht tragend waren. Das ist m.E. gut vertretbar, denn entscheidend war damals das Fehlen einer gesetzlichen Regelung, nicht deren Ausgestaltung. Auch hier bewegt sich die Senatsmehrheit auf verfassungsdogmatisch tragfähigem Grund.

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4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Lieber Michael,

    vielen Dank auch für diesen wertvollen Beitrag! Ich hätte eine Frage, die Deine Aussage betrifft, das BVerfG habe es in der 2003er Entscheidung „dem Gesetzgeber explizit freigestellt […], bereits eine abstrakte und nicht konkret belegbare Gefährdung des Schulfriedens zum Anlass für eine Verbotsregelung zu nehmen“. Kann man das wirklich so sagen? Oder formuliert das Gericht in BVerfGE 108, 282 ff., insbes. auf S. 310 bis 312, nicht viel vorsichtiger, mit viel „kann“, viel „mag“ und viel Konkunktiv? Ist das entscheidende Stichwort nicht, worauf Stefan Magen schon auf Facebook hingewiesen hat, das der „Einschätzungsprärogative“ hinsichtlich der Beurteilung des Konfliktpotentials religiös kenntlicher Kleidung angesichts gewandelter religionssoziologischer Verhältnisse im jeweiligen Land (S. 311)? Weniger kompliziert formuliert: Sagt das BVerfG 2003 wirklich: Liebe Länder, wenn Ihr Kopftücher etc. für gefährlich oder neutralitätswidrig haltet, dann könnt ihr die gern präventiv verbieten, und wir tragen das auf jeden Fall mit, wenn Ihr’s gesetzlich und gleichmäßig regelt? Ist der Kern der Entscheidung nicht eher die (weniger weitgehende) Aussage, dass das GG präventive Bekleidungsvorgaben weder strikt ver- noch ausnahmslos gebietet?

    Herzliche Grüße aus Bonn!
    Christoph.

    Antworten
    • Michael Wrase
      14. März 2015 11:48

      Lieber Christoph,

      vielen Dank für den Hinweis. Ich meine aber, dass der Zweite Senat den Konjunktiv verwendet hat, erklärt sich daraus, dass er dem Gesetzgeber bestimmte Möglichkeiten aufzeigt. Also muss er konjunktivisch sprechen. Ich verstehe die Passagen der damaligen Entscheidung nach wie vor so, dass der Zweite Senat ein generelles religiöses Bekleidungsverbot für zulässig gehalten hat unter der Bedingung, dass der Grundsatz strikter Gleichbehandlung der Religionen beachtet wird. Von diesem Verständnis geht ja auch das abweichende Votum von Schluckebier und Hermanns aus. Der Zweite Senat hat auch gerade seine Skepsis gegenüber einzelfallbezogenen Entscheidungen zum Ausdruck gebracht und den Gesetzgeber dazu angehalten, eine generelle Regelung zu schaffen:

      „Schließlich bedarf die Einführung einer Dienstpflicht, die es Lehrern verbietet, in ihrem äußeren Erscheinungsbild ihre Religionszugehörigkeit erkennbar zu machen, auch deshalb einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung, weil eine solche Dienstpflicht in verfassungsmäßiger — unter anderem mit Art. 33 Abs. 3 GG vereinbarer — Weise nur begründet und durchgesetzt werden kann, wenn Angehörige unterschiedlicher Religionsgemeinschaften dabei gleich behandelt werden. Dies ist nicht in gleichem Maße gewährleistet, wenn es den Behörden und Gerichten überlassen bleibt, über das Bestehen und die Reichweite einer solchen Dienstpflicht von Fall zu Fall nach Maßgabe ihrer Prognosen über das Einfluss- und Konfliktpotenzial von Erkennungsmerkmalen der Religionszugehörigkeit im Erscheinungsbild der jeweiligen Lehrkraft zu entscheiden.“

      Gerade auf dieses konkrete Konfliktpotential kommt es aber nach der neuen Entscheidung an, was ja von den Dissentern auch kritisiert wird.

      Beste Grüße
      Michael

      Antworten
  • Der im Sondervotum vorgeschlagenen Lösung kann ich auch einiges abgewinnen. Dort wurde ja vorgeschlagen, bei der ersten Klägerin das Tragen der Wollmütze nicht als religiöses Symbol zu sehen und bei der zweiten Klägerin eine Übergangslösung in Betracht zu ziehen.

    Eine rein tatsächliche Frage habe ich allerdings noch : Ist es wirklich zumutbar (für die Sozialarbeiterin aber auch für die die Sie besuchen) wenn Sie die Wollmütze auch bei sehr heißen Temperaturen trägt ?

    Antworten
  • @Stefan
    Also ich finde die Grenzziehung irgendwie willkürlich. Es gab ja auch mal eine Entscheidung in der das französische Barrett als nicht-neutral gewertet und folglich verboten wurde. In einer anderen wurde ein Kopftuch nach dem Stil von Grace Kelly (mit freiem Hals) nicht akzeptiert (!!). Das muss man sich mal vorstellen! Die Frauen haben extrem viel Geduld und Kompromissbereitschaft an den Tag gelegt. Wie kann man da noch daran zweifeln, dass das Kopftuch aus einer (sehr starken und bewundernswerten) Überzeugung heraus getragen wird? Ich finde der ganze Streit hat mittlerweile eine sehr perfide Dimension angenommen, die den Staat unglaubwürdig und lächerlich macht. Es ging nur noch darum, ob man nun in einem farblich abgestimmten Barett mit Schal (bzw Wollmütze und Pullover) schon eine islamische Bekleidung erkennen könne oder nicht. Kurz: ob eine Frau als Muslimin erkennbar war oder nicht, egal wie. Ich meine, so viele Gedanken macht sich doch kein Schüler. Und wenn ja, dann sollte er lernen, dass das ganz normale Menschen sind. Insofern finde ich es wichtig, dass das BVerfG einen Schlussstrich unter die mittlerweile ein Jahrzehnt lang anhaltende Demütigung gezogen hat. Lasst die Frauen tragen, was sie wollen, solange sie den Kindern gegenüber seriös auftreten und ihnen was gescheites beibringen. Entscheidend ist, was im Kopf ist, nicht was drauf ist.
    I. Ü. hat der Staat doch Sozialarbeiter dringend nötig. Ich finde es schade, wenn Menschen aus solchen Gründen von ihrem Berufswunsch abgehalten werden.

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