von DASDIN DUMAN
Die internationale Rechtsordnung und ihre Verbindlichkeit korrespondiert mit der militärischen und ökonomischen Potenz von Staaten. Macht ist der Faktor, der die internationalen Beziehungen dominiert und sich spätestens mit den israelischen und US-Amerikanischen Angriffen auf den Iran hinter dem Vorhang des Völkerrechts klar zu erkennen gegeben hat. Der Westen sollte im Angesicht dieser Tatsache den Grundsatz „Stärke durch Recht“ durch einen neuen (alten) Grundsatz ersetzen: „Stärke durch Stärke“.
Internationale Anarchie
Der US-Amerikanische Politikwissenschaftler Kenneth Waltz formulierte in seinem Werk „Theory of International Politics“ 1979 das Grundgerüst für den Neorealismus, einer theoretischen Perspektive auf das Verhältnis von Staaten. Waltz erkennt, was viele europäische Völkerrechtler als Abgesang auf die westlich geprägte und noch fortlaufend von ihm dominierte Weltordnung interpretieren und vor dessen Eintritt sie spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine warnen: die internationale Anarchie. Die Zügellosigkeit von staatlicher Gewalt in den internationalen Beziehungen ist allerdings kein Alleinstellungsmerkmal, welches der russischen Seite attestiert werden muss. Wenngleich in der konkreten Gestaltung durchaus eines anderen Charakters, stellt die israelische Militäroperation „Rising Lion“ gegen den Iran ebenfalls das Triumphieren der Macht über das Recht dar, weil sich dieser Angriff nach der gängigen Interpretation des Völkerrechts nicht rechtfertigen lässt.
Rechtliche Ordnungsversuche
Normative Grundlage für die Kategorisierung militärischer Gewalt zwischen Staaten ist die am 26. Juni 1945 unterzeichnete VN-Charta (Charte der Vereinten Nationen). Sie stellt bis heute die nahezu unveränderte vertragliche Grundlage für das einzige universelle „System kollektiver Sicherheit“ dar: den Vereinten Nationen. Das in Art. 2 Nr. 4 VN-Charta normierte Gewaltverbot gebietet die gegenseitige Achtung der territorialen Unversehrtheit anderer Staaten und verbietet die Anwendung oder Androhung von Gewalt. In Fortsetzung zum 1928 vereinbarten Briand-Kellog-Pakt wird der (zweite) Versuch gewagt, die internationalen Beziehungen zu verrechtlichen und damit endgültig das Zeitalter einzuläuten, in dem das Primat des Rechts vor der Macht gilt. Doch die Transformation nationaler Außenpolitik, die Abkehr imperialen Gebarens, ist nur rudimentär erfolgt. Während die Zahl zwischenstaatlicher Kriege gesunken ist, blieb der Clausewitzsche Grundsatz, dass Krieg die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln ist, im Grunde bestehen. Das Gewaltverbot hat zwar zu höheren politischen Kriegskosten geführt, doch ein ernsthaftes „System kollektiver Sicherheit“ im Sinne einer austarierten Rechtsordnung, die Verstöße nicht nur benennt, sondern direkt sanktioniert, um ihre Einhaltung auch gegen den Willen einzelner Akteure aufrechtzuerhalten, hat es nicht schaffen können:
Beispiel Russland
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt einen eklatanten Bruch des Gewaltverbots dar und lässt sich auch nicht mit dem Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 VN-Charta rechtfertigen. Doch wird dieser Krieg seit dem Frühjahr 2022 fortgesetzt; gewiss mit höchsten Verlusten auch für die russische Seite. Dennoch findet ein permanenter Bruch des sogenannten „Völkerrechts“ statt, der von einer einst großen, aber zunehmend schwindenden Mehrheit der Staatenwelt in der Generalversammlung der Vereinten Nationen verurteilt wird: Symbolische Verurteilung hier – reale Gewalt dort.
Europäisch-amerikanische Sanktionen haben die russische Wirtschaft hart getroffen, aber zu einer Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen mit der Volksrepublik China und Indien geführt, die trotz bestehender und spürbarer Sekundärsanktionen davon keinen Abstand nehmen. Denn für die neuen Handelspartner ist nicht ausschlaggebend, dass Russland mit seinem anhaltenden Krieg gegen Völkerrecht verstößt, sondern nur, dass es auf die enge Zusammenarbeit mit ihnen angewiesen ist und die eigene Wirtschaft, insbesondere durch günstige Rohstoffimporte, gestärkt wird.
Beispiel Israel
Auch Israels Angriffe auf den Iran, unterstützt durch die Vereinigten Staaten, stellten ein Verstoß gegen das Gewaltverbot dar. Versuche einzelner Völkerrechtler, mit dem Konstrukt der präventiven Selbstverteidigung die US-Amerikanischen Sicherheitsstrategie aus dem Jahre 2002 zu kopieren und die reine Bedrohung eines Angriffs bei Ausbleiben einer gesicherten Wahrscheinlichkeitsprognose zur Voraussetzung des Selbstverteidigungsrechts zu machen, belegen die These dieses Beitrags: Denn wenn Recht zur beliebig formbaren Auslegungsmasse verkommt und die ihm unterworfenen Subjekte (die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen) in unterschiedlichen Rechtswirklichkeiten leben und agieren, verliert es seine Eignung, verbindliche Regeln des zwischenstaatlichen Umgangs festzusetzen. Die Verbindlichkeit beginnt da, wo ein allgemeiner Konsens über die Bedeutung der Norm besteht und endet, wo sich verschiedene Lager auftun.
Zwar folgten kurz nach Bekanntwerden der israelischen Operation „Rising Lion“ Reaktionen einzelner westlicher Staats- und Regierungschefs, die allesamt ihre Solidarität mit dem Staat Israel ausdrückten, vor der Bedrohungslage einer atomaren Bewaffnung des Iran warnten und alle Konfliktparteien zur Zurückhaltung aufriefen. Einen Völkerrechtsbruch will der Großteil des Westens nicht erkennen, stellt doch die potentielle „nukleare Wende“ des Iran, die durch den israelischen und US-Amerikanischen Militärschlag nachhaltig gestört worden sei, auch eine Bedrohung der eigenen Interessen in der Region dar.
Doch kann es in einer internationalen Rechtsordnung nicht nur auf die westlichen Stimmen ankommen, da die Zeit von dessen imperialer Vorherrschaft mit der Entkolonialisierung beendet wurde. Entfernt man sich also aus dem eigenen Dunstkreis und berücksichtigt die Rechtsauffassungen anderer Staaten und Staatengruppen, zeigt sich ein anderes Bild. Zahlreiche arabische Staaten, aber auch die Afrikanische Union verurteilen Israels Angriff auf den Iran oder sehen darin eine ernsthafte Bedrohung für den globalen Frieden.
Grenzen westlicher Macht
Die Qualifizierung völkerrechtswidrigen Verhaltens als vom Völkerrecht in Gestalt des Selbstverteidigungsrechts gedeckt, führt zu einer Überdehnung des eigenen Geltungsanspruchs in der internationalen Rechtsordnung. Solange die militärische und ökonomische Potenz der Welt in den Händen des Westens lag, ist dieses Vorgehen auf kaum ernstzunehmenden Widerstand gestoßen. Doch tektonische Machtverschiebungen schwächen die westliche Stellung in der Welt zugunsten von Staaten des Globalen Südens oder solcher, die sich diesem aus politischen Opportunitätsgründen heraus vermeintlich weiterhin zugehörig fühlen. Die an formalisierte Willkür grenzende strategisch motivierte Auslegung des Völkerrechts durch einzelne Völkerrechtler kann Vorbildfunktion für ein neues, möglicherweise sogar chinesisch geprägtes Völkerrechtsverständnis einnehmen. Dass dies nicht im Interesse des Westens sein kann, liegt auf der Hand.
Der Überlebende
Gleichzeitig besteht in einer Welt im Übergang von der US-Amerikanischen Hegemonie hin zu einer neuen Ordnung, weiterhin der Staat als wohl auch im „neuen Völkerrecht“ wesentlicher Akteur des internationalen Geschehens fort. Wenn das, was weiterhin als „Völkerrechtsordnung“ beschrieben wird, seinem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht werden kann, die territoriale Integrität eines Staates zu bewahren und damit der Fundamentalnorm des Gewaltverbotes aus Art. 2 Nr. 4 VN-Charta Geltung zu verleihen, stellt sich die Frage, ob die Kapitulation dieser Ordnung auch den Staat zum Kapitulanten machen muss.
Die Bindungswirkung des Völkerrechts gliche dann aufgrund der Einseitigkeit einer Fessel und entspräche nicht mehr dem Grundsatz der Reziprozität.
Dies wäre jedenfalls dann der Fall, wenn man beim israelischen Angriff auf den Iran als rechtmäßiges Alternativverhalten eine militärische Zurückhaltung forderte. Zweifelsohne läge dann kein Völkerrechtsbruch vor, doch würde man für den Erhalt des bloß normativen Konstruktes „Völkerrecht“ das auch faktische Konstrukt Staat riskiert. Denn die iranischen Drohungen gegenüber Israel sind alt und beziehen sich auf die Existenz des Staates an sich. Die Bemühungen um ein Atomabkommen zur Eindämmung des iranischen Atomprogramms waren fortlaufender Kritik ausgesetzt, weil sie die Gefahr einer Nuklearisierung des Iran nicht verhinderten, sondern die islamische Republik zu einem Schwellenstaat gemacht haben, der sich in die Lage versetzten konnte, Atommacht zu werden. Diese Quasilegalisierung des Atomprogramms ist Ausdruck der Dysfunktionalität der Völkerrechtsordnung gewesen, auf die der Staat Israel mit Unterwerfung oder mit Selbstbestimmung und letztlich Souveränität reagieren konnte. Israel hat sich für letzteres entschieden, denn der Versuch, Macht auf internationaler Ebene mit rechtlichen Kategorien zu bändigen, kommt an seine Grenzen, wenn es um das Überleben eines Staates geht
Insofern hat Kenneth Waltz erkannt, dass hinter dem Vorhang des Völkerrechts der Faktor Macht den Faktor Recht immer übertrumpft hat und übertrumpfen wird. Die Welt in der wir leben, lässt sich eher mit dem Begriff der Scheinordnung beschreiben, denn mit dem der Anarchie, wie Waltz es tut. Verstecken wir uns doch hinter Begriffen wie „Gewalt“, „Präventiv“ oder „Präemptiv“, um das offensichtliche nicht aussprechen zu müssen: Völkerrechtsbrüche begeht nicht nur die „Achse des Bösen“, sondern auch die „Achse des Guten“.
Das neue Paradigma
Die Völkerrechtsordnung steht unter Druck, weil sie ihre eigenen Grenzen nicht bereit ist anzuerkennen und Konfliktherde versucht in ihrer normativen Sprache zu beschreiben. Zwischen Geltungsanspruch des Völkerrechts und (macht-)politischer Wirklichkeit sollte der Westen, zuvorderst Europa, bisweilen die Waltzsche Theorie zur Grundlage eigenen Handelns machen. In dessen Neorealismus gilt das Primat des Selbsterhaltungstriebs, des Überlebens von Staaten. Insofern das „Recht auf territoriale Unversehrtheit“ in Gestalt des Gewaltverbots im Fall der Fälle einer unverbindlichen Absichtserklärung gleicht, muss das Recht der Wirklichkeit und der Grundsatz „Stärke durch Recht“ dem bekannten Grundsatz „Stärke durch Stärke“ weichen.
Zitiervorschlag: Duman, Dasdin, Vom Spiel von Recht und Macht – Völkerrecht im Schatten des Neorealismus, JuWissBlog Nr. 63/2025 v. 15.07.2025, https://www.juwiss.de/63-2025/
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VÖLKERRECHT – Gedicht
Völkerrecht ist klares Recht,
kein undurchdringliches Geflecht.
Man sollte hier nicht taktieren
mit diversen Treueschwüren.
Freund oder Feind, völlig egal,
Völkerrecht ist universal.
Es gilt für Staaten und Armeen,
jegliches Regierungssystem.
Ob Zwergstaat oder Supermacht,
das Recht ist nicht zu verbiegen.
Amis und Russen aufgewacht,
die Gerechtigkeit muss siegen.
Angriffskriege sind zu ächten,
Verletzung von Menschenrechten.
Wo immer ein Flächenbrand droht,
ist Frieden oberstes Gebot.
Dem Blutvergießen ein Ende,
Völker reichen sich die Hände.
Allen Menschen Gerechtigkeit,
Leben in Frieden und Freiheit.
Rainer Kirmse , Altenburg
Herzliche Grüße aus Thüringen