von ANDREAS SCHÜLLER
Am 28. September 2015 wurden der Präsident Ignace M. und der ehemalige Erste Vizepräsident Straton M. der ruandischen Rebellengruppe Forces Démocratiques de Libération du Rwanda (FDLR) zu Haftstrafen von 13 bzw. acht Jahren vom OLG Stuttgart verurteilt (Az.: OLG Stuttgart 5 – 3 StE 6/10). Beide waren angeklagt, für Kriegsverbrechen der FDLR-Milizen, vor allem Massaker an der Zivilbevölkerung im Osten der Demokratischen Republik Kongo, in den Jahren 2008 und 2009 verantwortlich gewesen zu sein. Der 5. Strafsenat verurteilte den FDLR-Präsidenten wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen sowie Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung und den mitangeklagten ehemaligen Vizepräsident ausschließlich wegen letzterem Tatbestand. Nach mehr als vier Jahren Hauptverhandlung gibt es damit nun das erste Urteil eines deutschen Gerichts zu Anklagepunkten aus dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB).
Dieses wurde 2002 eingeführt, um der deutschen Justiz zu ermöglichen, Straftatbestände aus dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) selbst zu verfolgen. Neu waren für alle Beteiligten die Anklagepunkte aus dem VStGB, darunter die Kriegsverbrechen der Tötung von Zivilisten, Vergewaltigungen, sexuellen Versklavung, Rekrutierung von Kindersoldaten oder Plünderungen, der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie insbesondere die Täterschaftsform der Vorgesetztenverantwortlichkeit nach § 4 VStGB. Nicht neu waren zwar die Vorschriften der Strafprozessordnung. Gleichwohl stellte der starke Auslandsbezug alle Prozessbeteiligten vor diverse verfahrensrechtliche Schwierigkeiten. So war es notwendig, zahlreiche Beweismittel zu übersetzen, die Ladung von Auslandszeugen komplizierte sich immer wieder und es fehlte die Handhabe, deren Aussagen zu erzwingen. Die Verteidigung kritisierte zudem den fehlenden Zugang zu Akten und Dokumenten der Vereinten Nationen (UN) und des IStGH, die lediglich die Bundesanwaltschaft einsehen konnte, sowie die fehlende Möglichkeit, selbst entlastende Beweise aus dem Ausland beibringen zu können.
Ein Mammutverfahren mit Herausforderungen und Versäumnissen
Zeuginnen und Zeugen aus aller Welt einzufliegen stellte eine große logistische Herausforderung für die Stuttgarter Justiz dar. Darüber hinaus sei ein Großteil der Zeugenaussagen von eingeschränkter Beweiskraft, so der Vorsitzende Richter in seiner Urteilsbegründung. Ein Teil der Opferzeuginnen sagte vollständig anonymisiert aus. Zeugen aus Reihen der Ex-FDLR Kämpfer wollten sich und ihre ehemaligen Anführer offenbar nicht zu sehr belasten, was in ihren Aussagen deutlich wurde, die zum Teil nur sehr oberflächliche Angaben erhielten. UN-Bedienstete und Mitarbeiter*innen von Human Rights Watch konnten nur vom Hörensagen über ihre Recherchen berichten. All dies führte dazu, dass die Anklage nach und nach zusammenschrumpfte, so dass letztlich eine Verurteilung vor allem aufgrund von Massakern an der Zivilbevölkerung in sechs Fällen stehen blieb. All diese Massaker waren Bestrafungsaktionen gegen Zivilisten im Osten des Kongos, denen die FDLR vorwarf, mit der kongolesischen Armee zu kooperieren. In allen sechs Fällen fielen FDLR-Kämpfer über die Dörfer her, vertrieben die kongolesische Armee, töteten Bewohner, plünderten und brandschatzten. Dabei starben insgesamt weit mehr als 100 Zivilisten, darunter viele Frauen, Kinder und Ältere. Die ursprüngliche Anklage wegen Vergewaltigungen und sexueller Versklavung in Folge dieser Vergeltungsangriffe stellte das Oberlandesgericht im Laufe des Verfahrens ein, da die Aussagen der anonymisierten Opferzeuginnen die einzigen Beweismittel hierfür waren. Damit trat ein Problem zu Tage, das auch aus anderen Verfahren bekannt ist und für das nun verstärkt Lösungswege diskutiert werden müssen.
So sehr es zu begrüßen ist, dass diese Taten gegen Kinder und Frauen angeklagt wurden, desto mehr ist es zu bedauern, dass hierzu kein Urteilsspruch ergangen ist. Denn nur dann kann eine juristische Auseinandersetzung fortgeführt werden, die den betroffenen Gruppen zu Gute kommt und dazu beiträgt, die Taten aufzuarbeiten. Diese Chance wurde in diesem Verfahren vertan, zumal es keine Nebenklage gab, die einen stärkeren Fokus hierauf hätte legen können. Auch dass das Gericht den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit nicht als verwirklicht ansah, obwohl die FDLR bei ihren Bestrafungsaktionen vor allem die Zivilbevölkerung angriff und massakrierte, überrascht. Zur abschließenden Bewertung werden die schriftlichen Urteilsgründe abzuwarten sein.
Die Schwierigkeit zu beweisen, dass eine Verantwortlichkeit für eine Mitwirkung an Taten im Osten des Kongos von Deutschland aus besteht, prägte den Prozess und den Umgang mit den verschiedenen Täterschaftformen im deutschen Strafrecht. Die Vorgesetztenverantwortlichkeit (§4 VStGB) ermöglicht es, gegen hochrangige Täter zu ermitteln. Es können diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die an entscheidenden Stellen Massenverbrechen nicht verhindert haben. Hinzu kommen die Straftatbestände der Verletzung der Aufsichtspflicht (§13 VStGB) sowie des Unterlassens der Meldung einer Straftat (§14 VStGB), die sich beide auf die Strafbarkeit von Befehlshabern und Vorgesetzten beziehen. Solche Taten lassen sich in gut organisierten und streng hierarchisch angeordneten staatlichen oder militärischen Täterstrukturen sicherlich oftmals besser aufarbeiten als bei Rebellengruppen, das hat der FDLR-Prozess gezeigt. Die ursprüngliche Anklage gegen beide Beschuldigte wegen Vorgesetztenverantwortlichkeit, da sie unterlassen hätten, die Taten durch ihre Untergebenen verhindert zu haben, endete daher in einem Urteil wegen Beihilfe zu VStGB-Taten bzw. aus der Terrorismusstrafgesetzgebung als Rädelsführer einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Nach Überzeugung des 5. Strafsenats des OLG Stuttgart konnte eine Strafbarkeit aus Vorgesetztenverantwortlichkeit nicht bewiesen werden, weil der angeklagte Präsidenten der FDLR von Deutschland aus keine konkrete Befehls- und Führungsgewalt über den militärischen Arm der FDLR, der FOCA, gehabt habe.
Ein Modell für zukünftige Kriegsverbrechensfälle?
Trotz aller rechtlichen und faktischen Schwierigkeiten, Einschränkungen und Mängel dieses Verfahrens ist eines insgesamt sehr zu begrüßen: Die deutsche Justiz hat sich in der Lage gezeigt, Kriegsverbrecherprozesse auch nach dem VStGB zu verhandeln und zum Abschluss zu bringen. Zwar haben deutsche Gerichte bereits zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien und ebenso nach dem Völkermord in Ruanda vereinzelt Fälle verhandelt, doch lag diesen Prozessen lediglich das Strafgesetzbuch zu Grunde – Taten wie die Rekrutierung von Kindersoldaten oder Vergewaltigungen konnten nicht angeklagt werden, vor allem aber ging es nicht um die Vorgesetztenverantwortlichkeit, die die Personen in Führungspositionen in Staat, Militär oder Rebellengruppen für die Taten ihrer Untergebenen in den strafrechtlichen Fokus rückt.
Mit dem FDLR-Prozess erfüllt die deutsche Justiz zum einen die Aufgabe, die ihr im System der internationalen Strafjustiz im Verhältnis zum IStGH zugedacht ist. Denn der IStGH wird nur dann tätig, wenn einzelne Staaten selbst nicht willens oder in der Lage sind, eine Strafverfolgung zu gewährleisten. Damit sollen nicht zuletzt die völkerrechtlich bereits seit langem existierenden Verpflichtungen von Staaten, Völkermord, Kriegsverbrechen und Folter strafrechtlich zu verfolgen, gewährleistet werden, sondern auch der IStGH entlastet werden. Eine Kooperation zwischen der Anklagebehörde aus Den Haag und der Bundesanwaltschaft hilft dabei, in Gebieten fortdauernder bewaffneter Auseinandersetzungen, in denen es eine beiderseitige Zuständigkeit gibt, zu ermitteln. Gleichzeitig handelt die deutsche Justiz in Unterstützung der Justiz des Tatortstaats oder des Herkunftsstaats der Täter, die oftmals mit solchen Verfahren überfordert sind. Im FDLR-Fall hätte Ruanda kein faires Verfahren gewährleisten können, weshalb Deutschland ein Auslieferungsersuchen noch vor Prozessbeginn in Stuttgart zurückgewiesen hatte. Da die beiden Angeklagten seit vielen Jahren in Deutschland leben und von Deutschland aus die Taten der FDLR im Osten der Demokratischen Republik Kongo unterstützten, lag von Anfang an eine territoriale Zuständigkeit der deutschen Strafverfolgungsbehörden vor.
Lektionen aus dem ersten Verfahren
Der FDLR-Prozess sollte am Anfang einer verstärkten Tätigkeit der deutschen Justiz zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit stehen. Diese muss nicht zwangsläufig in Hauptverhandlungen vor deutschen Oberlandesgerichten münden. Auch die Sicherung und der Austausch von Beweismitteln zur Unterstützung anderer Verfahren vor nationalen oder internationalen Gerichte ist ein wichtiger Beitrag zur internationalen Strafjustiz. Zahlreiche Flüchtlinge aus Kriegsgebieten wie etwa Syrien können künftig zu einer Strafverfolgung beitragen, wenn ihre Aussagen aufgenommen, analysiert und mit anderen Staaten ausgetauscht werden. Ermittlungsziele können auch Haftbefehle gegen Tatverdächtige sein. Beispiele hierfür waren Ende der 1990er Jahre die Festnahme des chilenischen Ex-Diktators Augusto Pinochet in London in Folge eines Haftbefehls aus Spanien sowie die Haftbefehle der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth gegen führende Ex-Militärs aus Argentinien. Die Aufnahme und Fortführung von Ermittlungsverfahren – sei es zur Beweismittelsicherung oder mit dem Ziel eines Haftbefehls oder einer Anklageerhebung in konkreten Fällen – , trägt zur Stärkung der internationalen Strafjustiz bei, insbesondere auch bei Konflikten wie dem in Syrien oder Sri Lanka, in denen der IStGH keine Zuständigkeit hat.
Insgesamt ist es dem OLG Stuttgart und allen Verfahrensbeteiligten gelungen, trotz der Schwierigkeiten des starken Auslandsbezugs und der andauernden Konfliktlage im Osten des Kongos den Prozess zu führen und zu einem Urteil zu gelangen. Mit der Erfahrung dieses Prozesses ist zu hoffen, dass die deutsche Justiz weiter versucht, Völkerstraftaten zu ermitteln. Es gibt zahlreiche Ansatzpunkte für solche Ermittlungsverfahren in Deutschland als Teil einer internationalen juristischen Aufarbeitung von schwersten Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht. Das VStGB hat 2002 die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, Justiz und Politik müssen nun nachziehen, dieses erste Verfahren evaluieren und mit diesen Erfahrungen gestärkt zu weiteren Konfliktsituationen staatlichen und nichtstaatlichen Massenverbrechen tätig werden. Die Schwere und das Ausmaß der Verbrechen, die VStGB-Verfahren zu Grunde liege, wie beispielsweise die aktuellen Verbrechen in Syrien, erfordern, dass die deutschen Justiz tätig wird als Teil einer weltweiten Verfolgung von schwersten Menschenrechtsverletzungen und Angriffen auf die Zivilbevölkerung.