Teil 1: Die ratione personae
von FLORIAN WILKSCH
Am 3.12.2015 hatte sich das Bundessozialgericht mit einem Klassiker des Migrationssozialrechts zu befassen. Es war die Frage zu entscheiden, ob Unionsbürger*innen einen Anspruch auf Existenzsicherungsleistungen in Deutschland haben, wenn sie wirtschaftlich inaktiv sind oder sich ihr Aufenthalt allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Eines der drei entschiedenen Verfahren betraf die Klage der Familie Alimanovic, die das Bundessozialgericht im letzten Jahr dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt hatte. Dieser kam in seinem Urteil vom 15.09.2015 zu dem Schluss, dass der in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II geregelte Ausschluss von arbeitssuchenden Unionsbürger*innen von Arbeitslosengeld II-Leistungen mit europäischem Recht vereinbar ist und löste damit das Spannungsverhältnis zwischen europäischem Aufenthalts- und Koordinierungsrecht zulasten Letzerem auf. Dem Bundessozialgericht oblag es nun, die verfassungsrechtlichen Folgen, namentlich im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, zu bestimmen. Der erste Teil dieser Besprechung befasst sich mit den Erwägungen des Bundessozialgerichts zur Bestimmung der anwendbaren Normen für die Gruppen der arbeitssuchenden und wirtschaftlich inaktiven Unionsbürger*innen, wie sie in dem als Medieninformation zur Verfügung gestellten Terminbericht referiert werden.
Immerhin: Existenzsichernde Leistungen für Arbeitssuchende
Das Gericht macht deutlich, dass es keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II hat. Allerdings hindere ein anderweitiges materielles Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU oder AufenthG die Annahme, dass sich der Aufenthalt allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe. Dann trete der Leistungsausschluss nicht ein. Sollte ein anderes Aufenthaltsrecht aber nicht bestehen, könnten Leistungen nach SGB II nicht erbracht werden. Weder die Verfassung noch das Europarecht stünden der getroffenen Regelung entgegen. Auch das Gleichbehandlungsgebot nach Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) sei nicht anwendbar, da ein von der Bundesregierung erklärter Vorbehalt entsprechend Art. 16 b) EFA formell und materiell wirksam sei.
Allerdings sei für diejenigen, die nach SGB II keine Leistungen erhalten, grundsätzlich der Anwendungsbereich des SGB XII eröffnet, was in der Praxis zunächst zu einem Trägerwechsel führt: Anstelle der Jobcenter sind die Städte und Kreise für diese Leistungen zuständig. Dabei sei denen, die ihr Aufenthaltsrecht nur aus der Arbeitssuche ableiten, der Rechtsanspruch nach § 23 Abs. 1 S. 1 SGB XII zwar grundsätzlich durch § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII gleichfalls versperrt. Allerdings sei diese Norm nicht heranzuziehen, weil ihre Anwendung gegen das Gleichbehandlungsgebot des EFA verstieße, da für das SGB XII der Vorbehalt der Bundesregierung allein in einer Bereichsausnahme mit Blick auf die Leistungen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (Achtes Kapitel des SGB XII) besteht. Die laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel müssten indessen diskriminierungsfrei gewährt werden.
Daraus folgt, dass zukünftig Arbeitssuchende unter Berufung auf das EFA existenzsichernde Leistungen durch die Sozialhilfe beanspruchen können. Allerdings bleiben sie insbesondere von den Maßnahmen der Arbeitsmarktintegration nach §§ 14 bis 18e SGB II ausgeschlossen. Dies mutet nicht nur sozialpolitisch seltsam an, sondern ist auch im Hinblick auf das in Art. 29 der EUGrCh festgehaltene Recht auf Zugang zur Arbeitsvermittlung und den, die Erleichterung der internationalen Arbeitssuche zum Ziel der Koordinierung erhebenden, Erwägungsgrund 32 der Koordinierungsverordnung (EU) 883/2004 ein fragwürdiges Ergebnis.
Doch dann: Existenzsicherung für wirtschaftlich inaktive Unionsbürger
Mit einem Federstrich erstreckt das Bundessozialgericht seine Erwägungen zur Existenzsicherung der Arbeitssuchenden zugleich auf die wirtschaftlich gänzlich inaktiven Unionsbürger*innen. Dies folge aus einem „Erst-Recht“-Schluss. Der Gesetzgeber habe es planwidrig unterlassen, auch diejenigen in §§ 7 SGB II und 23 SGB XII ausdrücklich von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes auszuschließen, die über keine materielle Freizügigkeitsberechtigung oder sonstiges Aufenthaltsrecht verfügten. Sie seien aber nach der Entstehungsgeschichte der Ausschlussregelung, dem systematischen Zusammenhang und der teleologischen Bedeutung der Norm vom Leistungsausschluss „Erst-Recht“ umschlossen. Das EFA könne auf sie mangels erlaubten Aufenthalts keine Anwendung finden. Dem stünde selbst der Besitz einer Freizügigkeitsbescheinigung/EU nicht entgegen.
Deshalb bestehe weder ein Rechtsanspruch nach SGB II noch nach SGB XII. Indessen gebiete es die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 i.V.m. 20 Abs. 1 GG, den Betroffenen Ermessensleistungen nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII zu gewähren, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt sei. Jedoch sei im Falle eines verfestigten Aufenthalts – von dem man nach sechs Monaten ausgehen könne – das Ermessen in dem Sinne auf Null reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfen zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe (also der Regelbedarf nach § 27 SGB XII) zu erbringen seien.
„Erst-Recht“ oder „Eben-Nicht“?
Diese Ableitung überzeugt schon methodisch nicht. Ein Erst-Recht-Schluss, der eine Rechtsfolge auf einen von der Norm nicht erfassten Lebenssachverhalt überträgt, ist nichts anderes als eine rechtsfortbildende Analogie. Diese setzt eine unbewusste Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenlage voraus. Es bleibt den noch abzusetzenden Entscheidungsgründen vorbehalten, diese beiden Voraussetzungen mit argumentativem Leben zu füllen. Sie sind insbesondere vor dem Hintergrund des Ausnahmecharakters der Leistungsausschlüsse alles andere als naheliegend.
Für die ökonomisch Inaktiven sieht bereits die Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG, in deren Umsetzung § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II und § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII entstanden sind, ein anderes Regelungsregime vor, welches auch in das FreizügG/EU Einzug gefunden hat. Nach Art. 24 Abs. 2 der RL 2004/38/EG bezieht sich der Sozialhilfeausschluss nur innerhalb der ersten drei Monate des Aufenthalts auf inaktive Unionsbürger*innen, darüber hinaus nur auf solche, die ihr Aufenthaltsrecht auf Art. 14 Abs. 4 lit. b) – die Arbeitssuche – stützen. Wäre ein dauerhafter Sozialhilfeausschluss für alle Inaktiven gewollt gewesen, hätte es der Begrenzung auf die ersten drei Monate des Aufenthalts nicht bedurft. Stattdessen kommt dem Aufnahmestaat das Recht zu, die materiell nicht länger Freizügigkeitsberechtigten auszuweisen. Dies ist nach der Rechtsprechung des EuGH, zuletzt in der Rs. Brey, nur nach einer umfassenden Verhältnismäßigkeitsprüfung möglich, wobei der Bezug existenzsichernder Leistungen nur insoweit berücksichtigt werden kann, wie er in der Gesamtschau zu einer unangemessenen Belastung des Aufnahmestaates führt.
Dieser Weg ist in § 5 Abs. 4 FreizügG/EU als sogenannte Verlustfeststellung vorgezeichnet. Danach kann der Verlust des materiellen Aufenthaltsrechts aus § 2 FreizügG/EU festgestellt werden. Die Behörde hat ein Ermessen, in welches sie einerseits die Unangemessenheit der Belastung, andererseits aber auch Erwägungen zu den sozialen Bindungen der Unionsbürger*innen im Aufnahmestaat (Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK) einzustellen hat. Fällt die Entscheidung zu Ungunsten der Betroffenen aus, werden sie nach § 7 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU vollziehbar ausreisepflichtig. Sie erwerben sodann einen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 3 AsylbLG.
Ist das EFA doch anwendbar? Oder: Der feine Unterschied zwischen materiellem Aufenthaltsrecht und erlaubtem Aufenthalt
Vor der behördlichen Feststellung des Verlustes der Freizügigkeitsberechtigung besteht zwar gegebenenfalls kein materielles Aufenthaltsrecht mehr. Der Aufenthalt ist aber dennoch rechtmäßig; eine Aufenthaltsbeendigung kann nicht vollzogen werden. Dieser rechtmäßige Aufenthalt genügt wiederum, um den Gleichbehandlungsgrundsatz des EFA zu eröffnen. Die Bundesrepublik ist nach Art. 1 EFA an die Gleichbehandlung der Angehörigen der Vertragsstaaten (und wegen des Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Art. 18 AEUV im Sinne der Gottardo-Rechtsprechung des EuGH auch aller anderen EU-Mitgliedsstaaten) gebunden, wenn diese sich erlaubt im Bundesgebiet aufhalten. Art. 11 a) EFA definiert sodann, was „erlaubt“ im Sinne des Abkommens bedeutet: Der Aufenthalt gilt solange als erlaubt, als der Beteiligte im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis oder einer anderen in den Rechtsvorschriften des betreffenden Staates vorgesehenen Erlaubnis ist, auf Grund welcher ihm der Aufenthalt in diesem Gebiet gestattet ist. Die verbindlichen englischen und französischen Sprachfassungen stellen auch allein auf die Gültigkeit („so long as there is in force in his case a permit“ und „tant que l’intéressé possède une autorisation de séjour valable“), nicht aber die fortbestehende Rechtmäßigkeit der Erlaubnis ab. Annex III als nach Art. 19 konstitutiver Bestandteil des EFA regelt sodann ausdrücklich, dass der Besitz einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne des AufenthG/EWG als Beweis für einen erlaubten Aufenthalt dient. Nachdem das FreizügigG/EU das AufenthG/EWG und die Freizügigkeitsbescheinigung/EU dessen Aufenthaltserlaubnis/EWG (§ 1 Abs. 4 AufenthG/EWG) ersetzt hat, ist es in besonderem Maße erklärungsbedürftig, warum das EFA bei vorgelegter Freizügigkeitsbescheinigung/EU unanwendbar sein soll und warum dies die analoge Anwendung des § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII ermöglicht. Aus dem Terminbericht geht das jedenfalls nicht hervor.
Auch die Abschaffung der Freizügigkeitsbescheinigung/EU im Jahre 2013 führt nicht zu einer Schlechterstellung der Unionsbürger*innen. Für sie streitet die aus §§ 5 Abs. 4 und 7 Abs. 1 FreizügG/EU abzuleitende allgemeine Freizügigkeitsvermutung, deren Rechtsschein – auch ohne Rechtsscheinträger – erst durch die behördliche Feststellung des Nicht(mehr)bestehens des Aufenthaltsrechts zerstört wird. Bis dahin bleibt der Aufenthalt erlaubt und das EFA anwendbar.
Fazit zum ersten Teil
Nach alledem wären damit auch den inaktiven Unionsbürger*innen umfassend, nämlich wie Inländern, Leistungen nach SGB XII (mit der Ausnahme der Leistungen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten) zuzusprechen gewesen. Soweit das Bundessozialgericht mit seiner Entscheidung den Zweck der Verhinderung der (angeblichen) Armutsmigration verfolgt haben sollte, heiligt dies jedenfalls nicht das Mittel einer Analogie, deren Voraussetzungen nicht vorliegen. Durch jene werden die sozialen Rechte der Betroffenen in unzulässiger Weise verkürzt. Wie im zweiten Teil zu zeigen sein wird, ist die Gewährleistung des Rechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum für sie nicht länger sichergestellt.