Ermutigt durch das Verfahren zwischen Peru und Chile, hat Bolivien am 24. April 2013 vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag ebenfalls gegen Chile eine Klage eingereicht. In dem Antrag verlangt Bolivien, dass Chile über einen „fully sovereign access to the Pacific Ocean“ (Rn. 1) verhandelt. Dazu soll der IGH a) die Existenz einer solchen Pflicht bestätigen, b) den Verstoß von Chile gegen diese Pflicht feststellen und c) Chile auftragen, dieser Pflicht nachzukommen (Rn. 2). Materiell geht es also nicht um einen Meereszugang selbst, sondern allein um die Frage, ob Chile dazu verpflichtet ist mit Bolivien darüber zu verhandeln. Wie zu erwarten weist Chile die Vorwürfe von sich.
Der Streit geht zurück auf den Salpeterkrieg von 1879-1884. Nachdem das gesamte Küstengebiet nach dem Krieg zunächst unter chilenische Verwaltung gestellt wurde, schlossen die Nachbarländer 1904 den heute noch gültigen Friedens- und Freundschaftsvertag (spanisches Original, englische Übersetzung), in welchem das Gebiet endgültig Chile zugeschlagen wurde. Bolivien hat sich mit diesem Verlust nie abgefunden: so verfügt das Land bis heute nicht nur über eine Flagge für das verlorenen Departement und eine Marine in Wartestellung auf dem Titicacasee, sondern auch über einen eigenen Feiertag, den Tag des Meeres (Día del Mar), welcher jährlich am 23. März an den verlorenen Meereszugang erinnert.
Zulässig…
Für die Zuständigkeit des IGH bedarf es stets einer besonderen Vereinbarung oder Unterwerfung unter die Jurisdiktion des Gerichtshofes. Bolivien beruft sich auf den Bogotá-Pakt vom 30.4.1948. Danach erkennen verschiedene amerikanische Staaten, darunter auch Chile und Bolivien, den IGH in Art. XXXI lit. b) für “Any question of international law” an. Damit auch Bolivien sich auf diese Vorschrift berufen kann, hat Präsident Evo Morales 3 Wochen vor Einreichung der Klage noch schnell einen Vorbehalt zurückgenommen (Annex 3). Aber liegt eine solche das Völkerrecht betreffende Frage überhaupt vor? Auf dem völkerrechtlichen Blog Opinio Juris wurde die Klage bereits „ridiculously weak“ genannt, weil Bolivien das Bestehen einer solchen Pflicht bislang nur behauptet habe, ohne sich dabei auf eine Rechtsgrundlage zu berufen. Obwohl die Kritik in der Sache berechtigt ist, hat dies keine Auswirkungen auf die Zulässigkeit: sobald Chile der bolivianischen Behauptung, es existiere eine Pflicht zu verhandeln, widerspricht, besteht zwischen den Parteien ein Streit, der Fragen des Völkerrechts berührt. Der IGH hat an dieser Stelle in der Vergangenheit stets sehr niedrige Anforderungen gestellt.1
… aber in der Sache nicht erfolgreich
Anders sieht die Begründetheit aus. Im Statement of Facts legt Bolivien umfangreich dar, woraus sich die Verhandlungspflicht ergeben soll. Das Problem: viele der dort vorgestellten Dokumente entfalten keine völkerrechtliche Bindungswirkung. Die einseitige Aufforderung des Präsidenten von Bolivien an Chile in der Generalversammlung der Vereinten Nationen „to resolve its maritime confinement“ (Rn. 29), vermag keine völkerrechtliche Pflicht gegenüber dem Nachbarn zu begründen. Auch das chilenische Angebot in einer diplomatischen Note von 1950 (“(…) my government (…) is willing to formally enter into direct negotiation aiming at finding a formula which would make it possible to grant Bolivia an own and sovereign access to the Pacific Ocean (…)”, Rn. 18) ist als Absichtserklärung zu verstehen, ohne dass Chile sich dadurch zu Verhandlungen verpflichtet.
Bei den völkerrechtlich relevanten Dokumenten beruft sich Bolivien in erster Linie auf einen Vertrag mit Chile aus dem Jahr 1895 (Annex 6). Aus der Präambel geht hervor, dass „the future development and commercial prosperity of Bolivia require its free and natural access to the sea”. In dem Vertrag selbst ging es jedoch um die zukünftige Verteilung des im Krieg durch Chile eroberten Gebiets. Dessen Status wurde durch den Friedens- und Freundschaftsvertrag von 1904 umfassend geklärt. Damit ist der Vertrag von 1895 eigentlich hinfällig geworden. Ohne dies direkt anzusprechen, beruft sich Bolivien im Antrag aber wenig überzeugend auf den Vertrag von 1907: „[t]his treaty did not cancel previous Chilean declarations and commitments concerning Bolivia’s sovereign access to the sea.“(Rn. 14).
Schließlich fordert Bolivien einen „fully sovereign access“ (Rn. 1, 17), während die Präambel des Friedens- und Freundschaftsvertrages von 1904 nur von einem „free and natural access to the sea“ spricht. Bolivien verfügt durch den Friedensvertrag von 1904 aber bereits über eine Freihandelszone im Hafen von Arica (Art. 7) und die Möglichkeit, Waren von dort zollfrei über Land nach Bolivien zu transportieren (Art. 6). Somit lässt sich gut argumentieren, dass Bolivien bereits einen Zugang zum Meer hat.
Die rechtlichen Ausführungen stechen in erster Linie durch ihre Kürze – der Umfang erschöpft sich in einer einzigen Randnummer – hervor (Rn. 31). Zudem fehlt jegliche Auseinandersetzung mit dem Pulp Mills Case, wo sich der IGH zuletzt mit einer vertraglichen obligation to negotiate beschäftigte.
Bolivien wird ein Binnenstaat bleiben
Die Klage wird Bolivien außer Kosten – wenigstens die eigene Vertretung dürfte günstig sein, schließlich lässt sich das Land von seinem ehemaligen Präsidenten Eduardo Rodríguez Veltzé vertreten – wohl nichts bringen. Chile hat sich taktisch klug, wenn auch nicht ganz fair verhalten: nach der Eroberung der Küstengebiete hat das Land seinen landumschlossenen Nachbarn durch eine grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft jahrzehntelang hingehalten. Durch die Länge dieser Verhandlungen verfestigte sich der für Chile vorteilhafte status quo. Seit 2010 scheint Chile seine Strategie geändert zu haben. Während man früher (ergebnislos) verhandelte, wird der erkaltete Streit einfach ignoriert (Rn. 26-29). Weitere Verhandlungen lehnt nun Chile ab. Damit hat das Land das letzte bisschen bolivianische Hoffnung zerstört. Mit der Klage will Bolivien seinen Nachbarn wieder an den Verhandlungstisch zwingen. Daneben kann der Gang nach Den Haag auch mit innenpolitischem Druck erklärt werden, schließlich führt Bolivien seine schlechte wirtschaftliche Situation auf den fehlenden Meereszugang zurück2.
Selbst wenn der IGH eine Verhandlungspflicht findet, so kann sich Chile darauf berufen, bereits mehrfach mit Bolivien verhandelt zu haben. Sollte die bisherige Verhandlung dieser Pflicht nicht genügen, so könnte der IGH Chile höchstens dazu verurteilen, weiter mit dem Nachbarland zu verhandeln. Ein Verhandlungsergebnis ist dadurch aber auch nicht garantiert.3
Zum Tag des Meeres sagte der chilenische Außenminister in diesem Jahr: “They can celebrate whatever they want to celebrate, including what they don’t have.” Leider wird der Tag auch in Zukunft wohl nicht an einem bolivianischen Strand gefeiert werden können.
- So zu Art. XXXI des Bogotá-Paktes: Territorial and Maritime Dispute (Nicaragua v. Colombia), Preliminary Objections, Judgment, ICJ Reports 2007, Rn. 53-59. Vielen Dank für diesen Hinweis an Daniel. [↩]
- The Maritime Claim of Bolivia, S. 55-73 [↩]
- Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Judgment, ICJ Reports 2010, para. 150. [↩]
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Hallo Sebastian, einen tollen und gewinnbringenden Beitrag hast Du da verfasst.
Ich wollte fragen, ob bei dem Streit auch die Art. 124 ff. des SRÜ eine Rollen spielen. Denn darin wird ja festgelegt, dass Binnenstaaten gegenüber Transitstaaten ein Recht auf Zugang zum Meer haben gem. Art. 125 Abs. 1. Und da Bolivien und Chile beide Vertragsparteien des SRÜ sind, müsste die Norm doch eigentlich anwendbar sein.
Wenn nicht, weißt Du, warum Bolivien sich nicht darauf bezogen hat?
Beste Grüße
Lieber Oliver,
soweit ich weiß spielt das Transitrecht aus dem SRÜ in diesem Streit keine Rolle. Dies liegt wohl daran, dass Bolivien bereits vor dem SRÜ aufgrund von bilateralen Verträgen Zugangsrechte zu chilenischen Häfen hatte (darauf hat Boliven bei seiner Unterschrift zum SRÜ hingewiesen). Letzendlich will Bolivien aber einen souveränen Zugang zum Meer i.S.v. eigenem Land. Dabei helfen die Art. 124 ff SRÜ leider nicht weiter.
Beste Grüße aus Hamburg,
Sebastian