von JUWISS-REDAKTION
Ein gutes Gespräch entwickelt eine eigene Dynamik – und so werden aus ursprünglich sechs Fragen gerne auch einige mehr.
Anknüpfend an den ersten Teil unseres Interviews mit Prof. Dr. Andreas Paulus, Richter des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, im Anschluss an die Podiumsdiskussion zum Thema „Europa – Verirrt auf dem Pfad der Integration?“ im Rahmen der 56. Assistententagung Öffentliches Recht 2016 veröffentlichen wir heute dessen Fortsetzung, die sich mit Fragen der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, der Relevanz staatlicher Akquieszenz im Völkerrecht und dem Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention befasst.
Im Hinblick auf die von Ihnen angesprochenen Differenzierung bei gemischten Abkommen: Wäre der deutsche Gesetzgeber beispielsweise im Rahmen von CETA mit Blick auf die einheitliche Außenvertretung der Europäischen Union daran gehindert, die in die nationale Zuständigkeit fallenden Teile später abweichend zu regeln?
Auch hier ist die Frage des Könnens und des Dürfens zu unterscheiden: Wenn es einer mitgliedstaatlichen Zustimmung unterliegt und in den mitgliedstaatlichen Bereich fällt, was bei CETA geregelt wird, dann gilt an sich erstmal die lex posterior-Regel und dann könnte dies durch ein späteres Parlamentsgesetz modifiziert werden. Aber eben auch nur in dem Bereich, in dem Deutschland frei und nicht europarechtlich gebunden ist. Das dürfte wenn dann nur ein kleiner Bereich sein. Deswegen muss es sich das Parlament sehr genau überlegen, ob es dem Vertrag zustimmt. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei einem gemischten Abkommen der Vertrag mit der Zustimmung des Parlaments steht oder fällt. Dementsprechend könnte das Parlament später auch ein gegenteiliges Gesetz beschließen, müsste aber auch die Folgen der Entscheidung tragen.
Kürzlich wurde für das CETA eine Einigung über die Einrichtung einer Schiedsgerichtsbarkeit und die Einrichtung eines permanenten CETA-Schiedsgerichtshofs erzielt. Welche Herausforderungen ergeben sich Ihrer Ansicht nach für den europäischen (Verfassungs-)Gerichtsverbund aus der nunmehr vorgesehenen Einrichtung eines ständigen Investitionsgerichts im Rahmen des CETA?
Aus unionsrechtlicher Sicht ergibt sich zunächst die Frage, ob der Gerichtshof der EU ein solches Gericht überhaupt dulden wird. Wenn er seiner bisherigen Rechtsprechung treu bleibt, dann wird er es nur dann akzeptieren, wenn es nicht selbst über die Gültigkeit von Europarecht entscheiden kann und dies auch nicht inzident tut. Das Argument, dass es ja nur um Schadensersatz- und Geldforderungen geht und nicht um die unmittelbare Durchführung, gilt erstmal nur zum Teil, weil dies im Enteignungsbereich so gar nicht stimmt. Zweitens wird dadurch aber auch ein Druck ausgeübt, bestimmte Regelungen zu treffen. Wenn es hingegen um Fragen der zwischenstaatlichen Anwendung geht, die nicht europarechtlich determiniert sind oder werden können, dann dürfte der Gerichtshof aus meiner Sicht damit weniger Probleme haben. Aber da lassen wir uns überraschen, auch das Gutachten zum Beitritt zur EMRK hat ja einige überraschende Aussagen bereitgehalten.
Aus nationaler Sicht stellt sich in der Tat die Frage, ob wir ein weiteres inter- oder gar supranationales Gericht einrichten wollen, das nach Rechtsgesichtspunkten entscheidet, dessen Entscheidungen aber schwer revidierbar sind und somit, wenn sie so wollen, zu Pfadabhängigkeiten führen. Wenn man eine solche Instanz einrichtet, dann weiß man, dass man die Anwendung und Auslegung des entsprechenden Rechts nicht mehr in der Hand der nationalen oder europäischen Gerichte hat, sondern in diese neuen Strukturen legt. Letztlich ist es leichter für die Mitgliedstaaten, aber auch für die Europäische Union, mit einer Einzelentscheidung auf Zusprechung von Schadensersatz zurechtzukommen, als mit der Entscheidung eines nach Rechtsgesichtspunkten entscheidenden Berufungs- oder Revisionsgerichts, weil letztere, wenn sie für den gesamten nordatlantischen Raum getroffen wird, von einer Parlaments- oder gar Gerichtsentscheidung wenn überhaupt nur unter großen Schwierigkeiten revidiert werden kann.
Ein Beitrag der diesjährigen Assistententagung ging von der Annahme aus, dass staatliches Schweigen den Beginn eines Pfades darstellen könne, von dem die Weiterentwicklung des Völkerrechts abhängig sein kann. Lassen sich – mit Blick auf die Konkurrenz der Prinzipien der territorialen Integrität von Staaten und des Selbstbestimmungsrechts der Völker – entsprechende Pfade für Fragen staatlicher Sezessionen identifizieren?
Die Sezession ist erstmal völkerrechtlich, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen geregelt. Hier wird den Staaten überwiegend Freiheit gelassen und, um es verfassungstheoretisch auszudrücken, dem pouvoir constituant ein breiter Spielraum eingeräumt. Und wenn ein solcher pouvoir constituant die Entscheidung getroffen hat, einen neuen Staat zu gründen, dann wird das in der Tat vom Völkerrecht und den anderen Staaten als neues Faktum betrachtet. Wie im Völkerrecht allgemein ist nicht nur das Handeln der Staaten sondern, wie die Kollegin ganz richtig dargestellt hat, auch die Akquieszenz, also die Hinnahme dieser Tatsache relevant –zivilistisch ausgedrückt gelten eher die Grundsätze des Kaufmännischen Bestätigungsschreibens als die des Verbraucherrechts. Schweigen kann demnach letztlich als Zustimmung gewertet werden. Sicherlich ist auch hier erforderlich, dass jedenfalls einige Staaten positiv handeln, um diese Anerkennung zum Ausdruck zu bringen. Auf diese Weise kann ein Neustaat aus einer Mischung aus aktiver und passiver Akzeptanz zu einem neuen Staat werden, der dann binnen kürzester Zeit allgemein anerkannt ist.
Aber das muss nicht gegenüber jedem anderen Staat funktionieren. Aus Akquieszenz kann die Verpflichtung resultieren, sich nicht selbst widersprüchlich zu verhalten. Aber sie können dadurch selbstverständlich keinen anderen Staat binden. Wenn Sie sich beispielsweise den neuesten europäischen Staat – das Kosovo – anschauen, dann ist er bis heute von Serbien oder Russland nicht akzeptiert. Nur die Staaten sind gebunden, die durch Akquieszenz oder aktives Handeln ihre Zustimmung zum neuen Staat zum Ausdruck gebracht haben.
Welchen Themen, welchen methodischen Herausforderungen sollten sich die auf der Assistententagung versammelten jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Öffentlichen Rechts zuwenden?
Ein Thema, das mich besonders fasziniert – auch wenn es etwas von der diesjährigen Tagung wegführt –, ist das Nebeneinander von Rechtssystemen, insbesondere im Europa des 21. Jahrhunderts. Wir hatten bereits über die EU gesprochen, wir könnten und müssten auch über die Europäische Menschenrechtskonvention sprechen, wir haben den deutschen Verfassungsraum, so dass die alte Verfassungsidee, in der Verfassungsurkunde ein die gesamte Rechtsordnung umfassendes Dokument zu haben, so nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Aber damit sind die ganz wesentlichen Fragen noch ungeklärt: Wie sieht es aus mit der demokratischen Legitimation nicht aus einer politischen Gemeinschaft stammender Rechtssysteme? Wie steht es mit der Bewahrung rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Standards? Wie steht es mit der gegenseitigen Akzeptanz der einbezogenen Verfassungssysteme? Der Kollege Pernice spricht ja insoweit schon lange von einem Verfassungsverbund. Was hat es für Auswirkungen auf einen Verfassungsverbund, wenn einige Mitgliedstaaten ihre Verfassung in einer Weise ändern, die die anderen als nicht demokratisch und nicht rechtsstaatlich, jedenfalls nicht als verfassungsstaatlich ansehen? All diese Fragen sind zwar schon längere Zeit in der Diskussion und gerade besonders aktuell, haben aber keine klaren und eindeutigen Antworten gefunden. Sie erfordern vielmehr spezielle Antworten für jedes Verhältnis dieser Systeme untereinander. In der Tat bin ich der Überzeugung, dass dies eine Grundsatzfrage für das deutsche und europäische Recht im beginnenden 21. Jahrhundert darstellt.
Es gäbe natürlich auch da, wenn wir von Pfadabhängigkeiten sprechen, eine Alternative, die ein Zurück zum Nationalstaat bedeuten würde. Dass das keine sehr vielversprechende Perspektive in einer globalisierten Welt ist, liegt für mich auf der Hand, ist aber letztlich eine Entscheidung, die demokratisch gefällt werden muss. Es gibt ja in der Europäischen Union mittlerweile ein Austrittsrecht. Das BVerfG hat das schon seit langem geradezu als Voraussetzung für diese Union betrachtet, bevor es im Lissabon-Vertrag eingeführt wurde. Und wir haben zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat ein nicht aussichtsloses Referendum über einen Austritt vor uns. Auch hier die Frage: Wie kann man in einem pluralistischen Europa miteinander umgehen, in dem nicht eine Lösung gleichzeitig für alle gilt, sondern in dem sehr differenzierte Vertragsbeziehungen bestehen. Und was bedeutet das beispielsweise für die Außenverpflichtungen Europas, für die Erfüllbarkeit von gemischten Verträgen? Hier bietet sich ein sehr weites Feld künftiger rechtswissenschaftlicher Forschung gerade auch für die Assistentinnen und Assistenten.
Mit Blick auf das von Ihnen angesprochene Europa der verschiedenen Verfassungsräume und Verfassungsverbünde: Wie bewerten Sie das Gutachten 2/13 des Europäischen Gerichtshofs, in dem er die Autonomie des Unionsrechts bekräftigt und damit den EMRK-Beitritt der EU – vorerst – sperrt?
Der Beitritt zur EMRK war der Versuch, die verschiedenen europäischen Rechtssysteme in ein formales Verhältnis zueinander, in eine formale Hierarchie zu bringen. Durch da Gutachten des EuGH ist zweifelhaft, ob das funktioniert. Ich möchte jetzt nicht im Einzelnen versuchen, den Oberrichter zu spielen und zu sagen, was mir in dem Gutachten gefällt und was weniger. Aber es könnte sich noch als ein Segen erweisen, dass die Idee der Gesamthierarchisierung des europäischen Rechtsystems erstmal gescheitert zu sein scheint. Denn das führt dazu, dass die verschiedenen Rechtssysteme aufeinander Rücksicht nehmen müssen. Es führt dazu, dass so viel größere Spielräume für den EGMR eröffnet sind, die Menschenrechtskonformität von EU-Handlungen zu klären, ohne in ein überformalisiertes Verfahren eingebunden zu sein. Und es heißt nicht zuletzt auch für nationale Gerichte, dass sie, wenn sie mit unter Umständen konfligierende Rechtsanforderungen konfrontiert sind, diese in Einklang bringen müssen, soweit das die anwendbaren Rechtssysteme dies erlauben. In der Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Auslieferung nach Italien sehe ich ein Beispiel dafür.
Herzlichen Dank für das Interview!
Das Gespräch führten Hannes Rathke und Tobias Brings.