Von PAUL PETTERSSON
Die Entscheidung des EuGH vom 19.11.2020 hat Wellen geschlagen. Sie betrifft die Frage, wann eine Bestrafung wegen Militärdienstverweigerung zur Flüchtlingseigenschaft führt und wurde dem Gericht im Rahmen einer der großen Streitfragen der asylrechtlichen Rechtsprechung der letzten Jahre vorgelegt: Ist syrischen Wehrdienstentzieher*innen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen? Die unmittelbare Rezeption der Entscheidung war sehr positiv. Der deutschen Rechtsprechungspraxis, dieser Personengruppe nur den subsidiären Schutz zuzuerkennen, sei jetzt ein Ende gesetzt (hier und hier). Außerdem habe der EuGH den Grundsatz des in dubio pro refugio festgelegt, also einer materiellen Beweislast zugunsten der Antragsteller*in (hier und hier). So weitgehende Wertungen lassen sich der Entscheidung nicht entnehmen. Es spricht vieles dafür, dass der EuGH mit seinen Ausführungen zur Beweislast bloß die formelle Beweislast meint und damit keine generelle Umkehr der materiellen Beweislast ausdrücken wollte.
Kern der Entscheidungen
Der rechtliche Rahmen wurde an anderer Stelle ausführlich beleuchtet und wird hier nur verkürzt wiedergegeben (siehe etwa hier). Syrer*innen haben sich regelmäßig mit ihrer Flucht dem Wehrdienst im Rahmen des Bürgerkriegs entzogen. Ihnen könnte deshalb vom Assad-Regime eine Verfolgung wegen einer unterstellten politischen Oppositionshaltung drohen. Dann wäre ihnen die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen. Art. 9 Abs. 2 lit. e QualiRL (der in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG umgesetzt wurde) trifft hier eine Sonderregelung: Als Verfolgungshandlung kann eine Strafverfolgung wegen der Verweigerung des Militärdienstes gelten, wenn die Rekrut*in sich einem Dienst entzogen hat, in dem sie zu Kriegsverbrechen herangezogen worden wäre. Da im syrischen Bürgerkrieg immer wieder Kriegsverbrechen begangen werden, könnte auch der dortige Wehrdienst solche Verbrechen umfassen. Zu der Sonderregelung für Militärdienstverweigerer*innen klärt der EuGH einige Auslegungsfragen (eine ausführlichere Zusammenfassung hier und hier). Besonders wichtig ist: Auch die Flucht selbst kann Verweigerung sein, diese muss also nicht in einem formalisierten Verfahren zum Ausdruck gebracht werden (Rn. 26-32). Da es in Syrien kein solches Verfahren gibt, dürften auch Syrer*innen mit ihrer Flucht den Wehrdienst verweigert haben.
Der EuGH betont dabei mehrmals, er nehme selbst keine Bewertung der Lage in Syrien vor und überließe dies den nationalen Behörden und Gerichten (Rn. 34, 37 und 61). Das entspricht der Linie des Gerichts, nur über Rechts- nicht aber über Tatsachenfragen zu entscheiden (EuGH Urt. v. 14.11.2013 – C-4/11, Rn. 31; EuGH Urt. v. 24.4.2018 – C-353/16, Rn. 57). Damit kann die Entscheidung bloß die rechtlichen Vorbedingungen für einen Wandel der Entscheidungspraxis in Deutschland schaffen. Sie stellt aber selbst keine Länderleitentscheidung dar, etwa mit dem Inhalt „syrischen Wehrdienstentzieher*innen ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen“ (zu dem Potential einer anderslautenden Bewertung durch deutsche Gerichte hier).
Daneben stellt der EuGH fest: Die Verfolgung wegen der Militärdienstverweigerung muss, wie auch sonst bei der Flüchtlingseigenschaft, an einen der fünf Verfolgungsgründe anknüpfen (Rn. 39-44). Dafür, dass Wehrdienstverweigerer*innen eine politische Oppositionshaltung unterstellt wird, bestehe aber eine starke Vermutung. Das Gericht stützt sich dabei unter anderem auf die tatsächliche Annahme, dass in einem Bürgerkrieg ohne formalisierte Verweigerungsmöglichkeit, die hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass der Verfolgerstaat die Verweigerung als Ausdruck politischer Opposition versteht (Rn. 60). Es scheint damit einen allgemeinen Erfahrungssatz aufzustellen (man könnte von einer tatsächlichen Vermutung sprechen), der im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen ist.
In dubio pro refugio?
Als Argument für das Ergebnis „die Bestrafung wegen der Wehrdienstverweigerung muss an einen Verfolgungsgrund anknüpfen“ verwendet das Gericht auch Wertungen des Beweisrechts. Nach Art. 4 Abs. 2 QualiRL müssen die Gründe für den Antrag, die auch eine Verfolgung aus einem der fünf Verfolgungsgründe umfassen, von den Behörden geprüft werden. Würde man nun – so der EuGH – automatisch von einer Anknüpfung ausgehen, liefe diese Prüfung leer (Rn. 53).
Wichtig ist die folgende Passage (Rn. 54ff): Es sei nicht Aufgabe der Antragsteller*in, den Beweis für die Anknüpfung zu erbringen. Eine solche Beweislast liefe Art. 4 QualiRL entgegen. Erstens sei nach dessen Abs. 1 die Aussage der Antragsteller*in nur der Ausgangspunkt, die maßgeblichen Anhaltspunkte müssten von den Behörden geprüft werden. Zweitens sei es für bestimmte subjektive Gesichtspunkte oft schwer einen Beweis zu erbringen, hier reichen nach Art. 4 Abs. 5 QualiRL insbesondere das offenkundige Bemühen für einen Nachweis, Kohärenz und Plausibilität und die generelle Glaubhaftigkeit der Antragsteller*in. Auch in Bezug auf solche subjektiven Umstände muss die Antragsteller*in also nicht zwangsweise Nachweise erbringen.
Diese Aussagen betreffen zunächst die formelle Beweislast. Dabei geht es um die Verantwortung für das Beibringen von Tatsachen. Diese Verantwortung trägt nach Art. 4 Abs. 1 S. 2 QualiRL die Behörde. Es ist also grundsätzlich nicht Aufgabe der Antragsteller*in, Nachweise für die Gefährdung zu erbringen, sie muss hierbei nur mitwirken. Das entspricht dem Untersuchungsgrundsatz des deutschen Verwaltungsrechts, wobei die deutsche Rechtsprechung differenziert: Zu allgemeinen Umständen im Herkunftsland muss die Behörde alle Erkenntnisquellen ausschöpfen. Individuelle Umstände in der Sphäre der Antragsteller*in, etwa ihre religiöse Überzeugung, muss sie dagegen vollständig und widerspruchsfrei selbst darlegen. Wegen der sachtypischen Beweisnot sei für diese individuellen Umstände jedoch ein wohlwollender Blick im Rahmen der Beweiswürdigung erforderlich.
Für den EuGH stellen die „Gründe für die Verweigerung des Militärdienstes und folglich die Strafverfolgung, zu der sie führt“, subjektive Gründe dar, für die ein Nachweis besonders schwer zu erbringen ist. Hier scheint etwas durcheinander geraten zu sein, denn entscheidend sind nicht die subjektiven Motive der Antragsteller*in, sondern was das Assad-Regime den Wehrdienstentzieher*innen unterstellt. Die Einstellung gegenüber Wehrdienstentzieher*innen ist aber ein allgemeiner Umstand, der nicht in der Sphäre der Antragsteller*in liegt. Es ist nach der deutschen Rechtsprechung also ohnehin klar, dass die Verantwortung für das Beibringen dieser Tatsachen (formelle Beweislast) bei der Behörde liegt.
Ein in dubio pro refugio beträfe nun nicht die Verantwortung für das Beibringen von Tatsachen, sondern die Überwindung von Unsicherheiten zur Tatsachenlage. Was passiert, wenn alle Erkenntnismittel ausgeschöpft sind, die Behörde oder das Gericht sich aber keine ausreichende Überzeugung von der Verfolgungsgefahr bilden kann? Es läge ein non liquet („es ist nicht klar“) vor. Das ist im Asylrecht wegen der unübersichtlichen und häufig schlechten Informationslage ein wahrscheinliches Szenario und wurde vom OVG Mecklenburg-Vorpommern für die Verfolgung syrischer Wehrdienstentzieher angenommen (OVG MV Urt. v. 21.3.2018 – 2 L 238/1, Rn. 46). Gäbe es einen in dubio pro refugio-Grundsatz, müsste im Zweifel für die Asylbewerber*in entschieden werden. Die Behörde trüge die materielle Beweislast. Das BVerwG hat dagegen die materielle Beweislast ausdrücklich der Antragsteller*in zugeordnet (BVerwG Urt. v. 4.7.2019 – 1 C 33/18, Rn. 26) und beruft sich auf das Günstigkeitsprinzip: Die den Schutzanspruch begründenden Tatsachen sind für die Antragsteller*in positiv, sie trägt also das Risiko, dass sie sich nicht sicher nachweisen lassen (alles lässt sich mit guten Argumenten bestreiten etwa, dass die Ablehnung einen Eingriff darstellt).
Hat der EuGH mit seiner Entscheidung diese Rechtsprechung gekippt? Der EuGH knüpft nicht an die deutsche Dogmatik an und benutzt insbesondere nicht die gleiche Terminologie. Daher ist zu fragen: Ging es ihm mit seinen Aussagen auch um die Überwindung von Unsicherheiten auf Tatsachenebene (materielle Beweislast) oder nur um die Verantwortung für das Beibringen von Tatsachen (formelle Beweislast)? Wie bereits erläutert, betrafen die Aussagen die formelle Beweislast. Der EuGH bekräftigt die Prüfungspflicht der Behörde und die nur geringe Verantwortung der Antragseller*in für die Tatsachengrundlage der Entscheidung. Es geht also nicht um Zweifelsfragen, sondern um die Verantwortung für das Beibringen von Tatsachen.
Einheit von formeller und materieller Beweislast im europäischen Recht?
Eine Umkehr der materiellen Beweislast ist zumindest der aktuellen Entscheidung nicht zu entnehmen. Eine solche Beweislastumkehr wird nach derzeitiger BVerwG-Rechtsprechung für den Widerruf eines Status und bei einer bereits erlittenen Vorverfolgung angenommen. Für diese Situationen gilt also ausnahmsweise ein in dubio pro refugio, was sich aus Art. 4 Abs. 4 und Art. 14 Abs. 2 QualiRL ergebe (BVerwG Urt. v. 4.7.2019 – 1 C 33/18, Rn. 27). In diesen Normen wird aber nicht klar zwischen materieller und formeller Beweislast unterschieden. Die Terminologie entspricht wiederum nicht dem deutschen Recht. Möglicherweise liegt dem europäischen Recht ein grundsätzlich anderes Verständnis zugrunde und es wird doch von der Einheit von formeller und materieller Beweislast ausgegangen. Auch wenn der EuGH mit der hier besprochenen Entscheidung also keinen neuen Grundsatz zur materiellen Beweislast aufgestellt hat, könnte dem europäischen Recht doch ein in dubio pro refugio zugrunde liegen. Das Thema erfordert also weiteres Nachdenken.
Zitiervorschlag: Paul Pettersson, Nicht ganz so eindeutig: Der EuGH zu syrischen Wehrdienstentziehern, JuWissBlog Nr. 142/2020 v. 17.12.2020, https://www.juwiss.de/142-2020/
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