Res publica res populi (est) – Der Staat ist Gegenstand oder Sache des Volkes. So definierte Cicero einst einprägsam den Staat, bevor mit der modernen Staatlichkeit auch der heutige Begriff Einzug hielt. Doch was ist dieser Staat? Ist er ein Leviathan, der durch das Recht gefesselt wird, oder ist er mit der Rechtsordnung ident? Die Antwort auf diese Frage hat schwerwiegende Folgen: Sie führt zu jenen verschiedenen „archimedischen Punkten“ in Deutschland und Österreich, die Ewald Wiederin als entscheidenden Unterschied zwischen der Staatsrechtslehre beider Länder erkannte – ein Graben, der bis heute nicht gänzlich überwunden ist. Will man die Natur des Staates in der europäischen Verbundkonstruktion erfassen, entkommt man der Frage nach dem Verhältnis von Staat und Recht nicht.
Die Herausforderung
Aus beiden Perspektiven ist jene Transformation von Staatlichkeit unverkennbar, die im öffentlichen Recht ihren deutlichsten Ausdruck findet: Das Verwaltungsrecht wandelte mit den Worten Sabino Casseses von einer „last enclave(.) of nationalism” zum Element eines Verwaltungsverbundes, für den eine intensive Kooperation und Koordination von Unionsorganen und Organen verschiedener Mitgliedstaaten eine conditio sine qua non darstellt. Nationales Verfassungsrecht konnte sich dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts zwar nicht entziehen, zeigt aber immer noch die Grenzen „offener Staatlichkeit“ auf. Die Verfassungsgerichte entwickeln dabei im Verfassungsgerichtsverbund eine neue, europäisierte Identität. Das öffentliche Recht der Mitgliedstaaten und der Union präsentiert sich so zunehmend als Teil eines neuen Ganzen, des europäischen Rechtsraums. Darin kann ein Verlust des Staates als Angelpunkt des öffentlichen Rechts betrachtet werden. Trifft dies zu, so wird der Staat so dadurch nicht nur transformiert, sondern sein Selbstverständnis in fundamentaler Weise in Frage gestellt. Verliert die Staatsrechtslehre gar den Gegenstand ihrer Untersuchung? Wird er durch den europäischen Rechtsraum ersetzt, der durch tradierte Konzeptionen von Staatenbund und Bundesstaat nach wie vor nicht erfasst werden kann?
Die Europäische Union als Substitut?
Dies führt zur Frage, inwieweit der Europäischen Union Elemente von Staatlichkeit zugesprochen werden können. Hier ist an das Scheitern des Verfassungsvertrages zu erinnern: Der Widerstand rührte nicht zuletzt von der symbolischen Kraft von Begriffen her, die regelmäßig mit Staatlichkeit assoziiert werden. Selbst die Frage nach der Existenz eines europäischen Volkes wurde zum Gegenstand eines intensiven rechtswissenschaftlichen Diskurses. Knüpft man das Volk an die Bürgerschaft, fällt das Ergebnis freilich eindeutig aus: Ein österreichischer Staatsbürger ist dann als Unionsbürger ebenso Teil des Unionsvolkes wie er als Tiroler Landesbürger per constitutionem Teil des Tiroler Landesvolkes ist. Das Ergebnis des Zusammenspiels von Union, Mitgliedstaaten und einer gestuften Bürgerschaft kann als neue res publica europaea betrachtet werden, welche res populi ac populorum ist: Eine Sache des Unionsvolkes und der Völker auf Ebene der Mitgliedstaaten sowie deren Gliedstaaten und Länder. Es handelt sich demnach um ein komplexes Gemeinwesen neuer Art. Doch kann darin wirklich eine neue Form von Staatlichkeit erkannt werden oder doch nur das Ergebnis eines freiwilligen Verbundes souveräner Staaten? Liegt eventuell eine res publica nach antiker, nicht aber ein Staat nach moderner Definition vor?
Wechselt man perspektivisch von Cicero zu Kelsen, verliert die Frage nach dem Volk für die Frage nach der Staatlichkeit an Relevanz. Die Definition des Staates als Rechtsordnung führt aber zu neuen Problemen: die Einordnung der Europäischen Union als Staat wird zwar denkmöglich, doch nicht jede Rechtsordnung ist nach Kelsen bereits ein Staat. Kelsen selbst gab darauf hinsichtlich der europäischen Integration keine Antwort, die Frage bleibt letztlich offen. Seine Ausführungen zur Souveränität und zu Staatenverbindungen gewinnen hier neue Relevanz. Auch dieser Ansatz birgt folglich zwar Potential, aber keine eindeutigen Antworten.
Das Potential der Assistententagung
Soll die von der 54. Assistententagung aufgeworfene Frage beantwortet werden, bedarf es neuer Konzeptualisierungen und Systematisierungen. Neben verschiedenen neueren Ansätzen geben auch frühere Konzeptionen von Cicero bis Kelsen geben dabei wichtige Denkanstöße. Soll Staatlichkeit in einem Gemeinwesen neuer Art, wie es im europäischen Rechtsraum erkannt werden kann, erfasst werden, bedarf es jedoch neuer Ideen. Die bevorstehende Assistententagung in Graz bietet einer neuen Generation angehender Staatsrechtslehrerinnen und Staatsrechtslehrer die Gelegenheit, sich dieser rechtswissenschaftlichen Aufgabe zu stellen. Ein Forum, welches seit Jahrzehnten Vertreterinnen und Vertreter der deutschsprachigen Rechtsordnungen in Vielfalt vereint, lässt auf interessante Antworten auf eine ebenso alte wie brisante Frage der Staatsrechtslehre hoffen.
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„Der Staat ist Gegenstand oder Sache des Volkes. So definierte Cicero einst einprägsam den Staat“
Mit Bezug auf diese Definition und generell kann die Frage: „Doch was ist (dieser) Staat?“, beliebig beantwortet werden – wie der Artikel beweist.
Cicero müsste also gefragt werden, was der Gegenstand oder die Sache des Volkes ist, welche er als Staat versteht und mit diesem Wort bezeichnet
Denn mit (in) dieser Frage wird das Wort Staat als Begriff verwendet. Mit ihr wird nach etwas Existierendes gefragt, das als Staat bezeichnet ist, aber nicht, was mit dem Wort Staat zu bezeichnen sei.
Dass das Wort Staat deshalb beliebig begriffen und somit auch unterschiedlich als Begriff verwendet wird, kommt auch in der Aussage „Völker auf Ebene der Mitgliedstaaten sowie deren Gliedstaaten und Länder“ zum Ausdruck.
Möglich ist, das BVerfG zu befragen und zwar konkreter als Cicero:
„Die deutsche Staatsgewalt einschließlich der verfassungsgebenden Gewalt ist in ihrer Substanz geschützt (aa), das deutsche Staatsgebiet bleibt allein der Bundesrepublik Deutschland als Rechtssubjekt zugewiesen (bb), am Fortbestand des deutschen Staatsvolks bestehen keine Zweifel (cc). (BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 298)“