von ANDREJ LANG
Der EuGH hat sein Urteil in der Rs. Achmea gefällt: Die Investor-Staat-Streitbeilegung in bilateralen Investitionsschutzverträgen zwischen den Mitgliedstaaten (sog. Intra-EU-BITs) beeinträchtigt die Autonomie des Unionsrechts und ist damit unionsrechtswidrig. Das Urteil hat die investitionsschutzrechtliche Szene in einen Schockzustand versetzt. In der rechtswissenschaftlichen Blogosphäre wird kontrovers über die Konsequenzen des Urteils diskutiert (siehe nur Thym, Hindelang, Niemelä, Szilágyi und Hess). Dieser Beitrag setzt sich näher mit der Urteilsbegründung des Gerichtshofs auseinander, in der der Belang der Autonomiewahrung über allem steht, während die völkerrechtlichen Bindungen der Mitgliedstaaten, die Rechte der Investoren und die Rechtsunsicherheiten hinsichtlich der Abwicklung der 196 bestehenden Intra-EU-BITs sowie der Fortführung der gegenwärtig auf der Grundlage von Intra-EU-BITs anhängigen Investitionsschutzverfahren im Urteil nicht einmal Erwähnung finden.
Der Fall
Der Rechtsstreit, der in Achmea verhandelt wurde, beruht auf einem BIT zwischen den Niederlanden und der Tschechoslowakei, in das die Slowakei als Rechtsnachfolgerin eintrat. Auf Grundlage dieses BIT beantragte der niederländische Investor Achmea die Einsetzung eines Schiedsgerichts nach Art. 8 des BIT und klagte wegen Verletzung der Verpflichtung auf faire und gerechte Behandlung. Das nach den UNICITRAL Arbitration Rules zusammengesetzte Schiedsgericht verwarf die von der Slowakei und von der Europäischen Kommission im Verfahren geltend gemachten Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht und verurteilte die Slowakei zur Zahlung von Schadensersatz. Daraufhin beantragte die Slowakei zunächst vor dem OLG Frankfurt und dann vor dem BGH die Aufhebung des Schiedsspruchs wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung. Der BGH legte dem EuGH im Rahmen des Vorlageverfahrens drei Fragen zur Vereinbarkeit des Art. 8 des BITs mit den Artikeln 344, 267 und 18 AEUV vor.
Zwei Lager im Widerstreit: Investitionsschutzfreundlichkeit vs. Unionszentriertheit
Noch vor der Verkündung des Achmea-Urteils des EuGH hatten sich zwei konkurrierende Lager zum Umgang der EU mit Intra-EU-BITs herauskristallisiert: Auf der einen Seite das investitionsschutzfreundliche Lager, repräsentiert durch das OLG Frankfurt, den BGH und Generalanwalt Wathelet, auf der anderen Seite die Europäische Kommission mit einem unionszentrierten Ansatz (dazu von Krause/Quintard). Kristallisationspunkt der Debatte aus dogmatischer Sicht ist die Auslegung des Art. 344 AEUV, in dem die Mitgliedstaaten sich verpflichten, „Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung der Verträge nicht anders als hierin vorgesehen zu regeln“. Nach Auffassung des investitionsschutzfreundlichen Lagers fällt die Investor-Staat-Schiedsgerichtsbarkeit selbst in der Sonderkonstellation der Intra-EU-BITs nicht unter das Verbot alternativer Streitbeilegung aus Art. 344 AEUV: Erstens entscheide diese nicht über Streitigkeiten zwischen Mitgliedstaaten, sondern zwischen einem Investor und einem Mitgliedstaat, zweitens prüfe sie nicht die Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts, sondern die Vereinbarkeit von Handlungen des Mitgliedstaats mit den Schutzstandards des BIT, die mit den Normen des Unionsrechts nicht identisch seien. Im Ergebnis sind der internationale Investitionsschutz und das Unionsrecht aus der investitionsschutzfreundlichen Perspektive zwei parallel existierende Rechtsregime mit unterschiedlichen Normbeständen, die sich nicht gegenseitig in die Quere kommen. Generalanwalt Wathelet schlägt in seinen Schlussanträgen sogar eine engere Verzahnung zwischen dem internationalen Investitionsschutz und dem Unionsrecht vor, indem Investitionsschiedsgerichte als vorlageberechtigtes „Gericht eines Mitgliedstaats“ im Sinne von Art. 267 AEUV eingestuft werden (Rn. 131).
Dagegen verfolgt die Europäische Kommission in Hinsicht auf den internationalen Investitionsschutz eine Doppelstrategie: Zum einen setzt sie sich für den Abschluss investitionsschutzrechtlicher Vereinbarungen, einschließlich Investor-Staat-Streitbeilegung mit Drittstaaten ein (sog. Extra-EU BITs). Zum anderen stellt sie sich auf den Standpunkt, dass Intra-EU-BITs deshalb mit dem Unionsrecht unvereinbar sind, weil sie das Entscheidungsmonopol des EuGH für unionsrechtliche Fragen nach Art. 344 AEUV verletzen und Unionsbürger in Verletzung des Art. 18 Abs. 1 AEUV diskriminieren, die sich nicht auf ein Intra-EU BIT berufen können. Dieser Auffassung hat die Kommission dadurch Ausdruck verliehen, dass sie einerseits durch zahlreiche amicus curiae-Stellungnahmen in laufende Investitionsschutzverfahren interveniert hat (dazu González-Bueno/Lozano), andererseits Vertragsverletzungsverfahren gegen fünf Mitgliedstaaten mit dem Ziel der Beendigung der Intra-EU BITs eingeleitet hat.
Das Urteil des Gerichtshofs
In Achmea schlägt sich der EuGH auf die Seite der Kommission und entscheidet, dass die Investor-Staat-Schiedsgerichtsbarkeit im Rahmen von Intra-EU-BITs gegen den Grundsatz der Autonomie des Unionsrechts verstößt. Hinter dem Topos der Autonomie des Unionsrechts steht das Anliegen, die verfassungsrechtlichen Strukturmerkmale sowie das interne institutionelle Gleichgewicht der EU zu wahren und Verschiebungen durch die Einbindung der EU oder ihrer Mitgliedstaaten in Formen institutionalisierter internationaler Kooperation zu verhindern. Dazu zählt der Charakter der Union als Rechtsgemeinschaft, in der die einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts durch die Rechtsprechung des EuGH und durch das Zusammenspiel mit den mitgliedstaatlichen Gerichten im Rahmen des Vorlageverfahrens gesichert wird (EuGH, Achmea, Rn. 32, 35, 37). Die zentrale Frage in Achmea ist, ob die Investor-Staat-Schiedsgerichtsbarkeit in Intra-EU-BITs die einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts beeinträchtigt. Der EuGH legt ein weites Verständnis des Art. 344 AEUV zugrunde: Maßgeblich sei danach nicht, ob ein privater Investor Streitpartei ist, sondern dass die Mitgliedstaaten in einem BIT ein alternatives Streitbeilegungsforum eingerichtet haben (Rn. 56). Darüber hinaus sei es ausreichend, dass sich Streitigkeiten „auf die Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts beziehen können“ (Rn. 39). Der Art. 8 Abs. 6 des BIT aber verpflichtete das Schiedsgericht dazu, das geltende Recht der betroffenen Vertragspartei zu berücksichtigen. In Achmea verweist der EuGH darauf, dass das Unionsrecht „als Teil des in jedem Mitgliedstaat geltenden Rechts“ anzusehen sei (Rn. 41). Auf den Punkt gebracht: Weil ein Schiedsgericht bei der Prüfung, ob ein Verstoß gegen die einschlägigen völkerrechtlichen Schutzstandards des BIT vorliegt, ggf. als Vorfrage das Unionsrecht auslegt, muss die Interpretationshoheit des EuGH gesichert sein; sonst ist die „volle Wirksamkeit des Unionsrechts“ beeinträchtigt (Rn. 56). Das wäre nur dann der Fall, wenn entweder die Investitionsschiedsgerichte oder die den Schiedsspruch vollstreckenden nationalen Gerichte die Befassung des EuGH mittels des Vorlageverfahrens gewährleisten und mithin seine Interpretationshoheit sichern würden. Das sei nach der Auffassung des EuGH nicht der Fall. Investitionsschiedsgerichte seien nicht als ein „Gericht eines Mitgliedstaats“ anzusehen (Rn. 49). Die Gerichtsbarkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten aber könne durch die Wahl des Sitzes des Schiedsgerichts in einem Drittstaat umgangen werden (Rn. 51) und sei ohnehin auf die Frage beschränkt, „ob die Anerkennung und Vollstreckung des Schiedsspruchs die öffentliche Ordnung wahrt“ (Rn. 53).
Eine neue Dimension der Autonomiewahrung
Im Spannungsfeld zwischen den Belangen der Einbindung in völkerrechtliche Streitbeilegungsmechanismen und der Wahrung der Autonomie des Unionsrechts hat die Rechtsprechung des EuGH in den vergangenen Jahren das Pendel deutlich zugunsten der Autonomiewahrung ausschlagen lassen. Exemplarisch wird dies durch die Gutachten 1/09 und 2/13 verdeutlicht, in denen der Gerichtshof die Einrichtung eines Europäischen Patentgerichts und den Beitritt der EU zur EMRK vereitelt hat. Und dennoch stellt das Achmea-Urteil eine neue Dimension der Autonomiewahrung dar. Denn während in den Gutachten 1/09 und 2/13 rechtlich hochkomplexe Projekte der Integration verschiedener supranationaler Rechtsordnungen verhandelt wurden, die geeignet waren, die Autonomie der Unionsrechtsordnung zu beeinträchtigen, ist das „systemische Risiko“, das von Intra-EU-BITs „für die Einheitlichkeit und Wirksamkeit des Unionsrechts“ ausgeht, gering (vgl. GA Wathelet, Schlussanträge, Rn. 44). Erstens ist der maßgebliche Prüfungsmaßstab für Investitionsschiedsgerichte nicht das Unionsrecht, sondern die Schutzstandards des BIT. Das Unionsrecht spielt für das Schiedsgericht nur als Auslegungskriterium eine Rolle und diese Auslegung des Unionsrechts durch das Schiedsgericht ist weder für die Unionsgerichte noch für die mitgliedstaatlichen Gerichte verbindlich. Unter diesen Umständen ist – nicht zuletzt angesichts des fragmentarischen Charakter der Investitionsschiedsgerichtsbarkeit – schwer vorstellbar, wie eine etablierte schiedsgerichtliche Interpretationspraxis zu Fragen des Unionsrechts entstehen können soll, die in Konkurrenz zum EuGH tritt und so die einheitliche Auslegung des Unionsrechts beeinträchtigt. Zweitens hat Generalanwalt Wathelet ausführlich dargelegt, dass die Interpretationshoheit des EuGH über die in investitionsschiedsgerichtlichen Verfahren auftretenden unionsrechtlichen Fragen in der großen Mehrheit der Fälle dadurch gewährleistet werden kann, dass entweder Schiedsgerichte als nach Art. 267 AEUV vorlageberechtigt eingestuft werden (Rn. 85 ff.) oder nationale Gerichte den EuGH mit der Auslegung des Unionsrechts im Zuge der Überprüfung der Vereinbarkeit des Schiedsspruchs mit der öffentlichen Ordnung befassen (Rn. 238 ff.). Freilich kann die Befassung des EuGH nicht in jedem Fall garantiert werden, weil Investitionsschiedsgerichte nicht zur Vorlage an den EuGH verpflichtet werden können und Schiedssprüche auch in Drittstaaten – unter Umgehung der mitgliedstaatlichen Gerichte – vollstreckt werden können. Diese Lücken genügen dem EuGH, um Intra-EU-BITs als unvereinbar mit der Autonomie des Unionsrechts zu erklären. Für eine minimale Gefährdung der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts fordert der EuGH in Achmea eine maximale rechtliche Absicherung seiner Interpretationshoheit. Das Motto des EuGH lautet: „Autonomie über alles“ (siehe Thym).
Konstruktives Engagement statt Abschottung für den Mehrebenen-Pluralismus
Die maximal autonomiebewahrende Rechtsprechung des EuGH passt nicht in den Mehrebenen-Pluralismus, der die Struktur des Rechts jenseits des Staates prägt. Damit die Koordination der verschiedenen Rechtsordnungen in Abwesenheit einer rechtsordnungsübergreifenden Rangregel funktionieren kann, dürfen Gerichte nicht einen rechtsordnungseigenen Tunnelblick einnehmen und auf Maximalpositionen beharren. Stattdessen sind die grundsätzliche Bereitschaft zur Anpassung der eigenen Positionen und die Berücksichtigung der Belange anderer Rechtsordnungen gefragt. Achmea ist jedoch ein introvertiertes Urteil. Im bekannt apodiktischen Urteilsstil stellt der EuGH die Zukunft der Investor-Staat-Schiedsgerichtsbarkeit in Europa in nur 30 Randnummern in Frage, ohne dass die gegenwärtige Gestalt des internationalen Investitionsschutzes überhaupt reflektiert wird. Dabei bot der Fall mehrere Anknüpfungspunkte, etwa im Rahmen einer Prüfung der Vereinbarkeit der Investor-Staat-Streitbeilegung mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 18 Abs. 1 AEUV oder der Frage, ob ein Investitionsschiedsgericht die Merkmale für ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV erfüllt (vgl. GA Wathelet, Rn. 86-131). Für die Entscheidung des EuGH aber spielen diese Aspekte keine Rolle. Es verstärkt sich der Eindruck, dass die Rechtsprechung des EuGH zu völkerrechtlichen Streitbeilegungsmechanismen angesichts der gegenwärtigen Krise der EU darauf ausgerichtet ist, die Einheit und Kohärenz der Unionsrechtsordnung so weit wie möglich vor potenziellen Störfeuern oder Irritation durch externe Spruchkörper, so geringfügig diese auch sein mögen, zu bewahren.
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