Die Bibliotheca juridica als Raum in Zeiten von Corona

Von JEAN MOHAMED

Den juristischen Bibliotheken – auch bekannt als Bibliotheken der juristischen Seminare etwa in Bonn oder Tübingen – haben es als spaces of law in diesen Zeiten nicht leicht. Als Vermittler zwischen den Interessengruppen haben diese ja durchaus mit Emotionen behafteten Orte des Studiums eine sehr lange Erfahrung. Ihre Bestände sind zumeist der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und so ist es ihre Aufgabe geworden, das in ihnen gesammelte Wissen möglichst frei und ungehindert der interessierten und darauf angewiesenen Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Das heutige in der Wissenschaft diskutierte Schlagwort zu Open Access (siehe ein Sonderheft hier) versteht sich auch auf diesen Raum bezogen: den Leserinnen und Lesern wird ein freier Zugang zum gesammelten Wissen angeboten und gleichzeitig der physische Raum gestellt.

Bibliotheken unter dem Mantel des (Staats-)Rechts?

Nun soll hier nicht zwischen Virologie, Epidemiologie, diversen Statistiken unter Zugrundelegung exponentieller Infektionsraten oder dem hellseherischen Blick in die Zauberkugel noch eine grundlegende staatsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung auf den Zustand des Bibliothekswesens und ihrer Benutzer gemünzt werden (zu Grundrechtsabwägungen schon allgemein hier oder stärker zur Besonnenheit mahnend hier). Wie sollte eine solche Prüfung hier auch jetzt schon geschehen, und das tatsächlich vis-à-vis der Gesundheit und dem auf Makroebene betroffenen Gesundheitssystems vorgenommen werden? Vielmehr interessieren hier die Werte und Bedeutungsgrade, den juristische Seminare für uns haben und dabei insbesondere Studierende, Examensgestresste und Forschende in Betreff nehmen.

Gleichwohl dürfte für besonders zu Corona-Zeiten hervortretende Verfassungsrechtsdogmatiker nicht zu verkennen sein, dass die jeweilige Doktrin der subjektiven und objektiven Gewährleistung aus der schillernden „Studierfreiheit“ oder „Wissenschaftsfreiheit“ einen langen Schatten auch auf das Bibliothekswesen werfen kann. Ob man die Studierfreiheit als ein Recht der Studierenden auf freie Gestaltung des Studiums wirklich in den Rang eines durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Grundrechts heben mag, kann man bestreiten (zur Diskussion Glaser, Der Staat 2008, 213, 221 ff.). Jedenfalls schützt die Wissenschaftsfreiheit aber nahezu selbstredend alle, die selbst wissenschaftlich tätig werden (BVerfGE 35, 79, 112), und zwar unabhängig von dem Wissenschaftsrahmen, solange inhaltlich-methodische Anforderungen eingehalten sind. Folge des Ganzen ist zum einen, dass der Staat einen rechtlichen Rahmen für die Hochschulorganisation zu schaffen hat und zum anderen, dass die funktionsfähigen Institutionen für einen freien Wissenschaftsbetrieb zur Verfügung gestellt werden (BVerfGE 35, 79): dies führt wiederum zu personellen Teilhabestrukturen in universitären Bereichen. Für Studierende und deren (reine) Studierfreiheit erwächst schließlich erst aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip die teilhaberechtliche Gewährleistung auf Zugang zu bestehenden Bildungseinrichtungen (BVerfGE 33, 303, 330 ff.). Gemeint ist damit zwar die (curriculare) Zulassung zu den bestehenden Universitätseinrichtungen, doch dürfte immerhin als Reflex – wenn nicht schon eher als eine der Urquellen, sobald man die Zulassung hat – auch das selbstgeschaffene Bibliothekswesen betroffen sein.

Cui bono?

Und was hat das nun mit geschlossenen Bibliotheken zu tun? Das wie auch immer geartete (verfassungs-)rechtliche Konstrukt zur Bereitstellung und dem Zugang zu Bibliotheken erklärt nämlich noch lange nicht den sozialen, gesellschaftlichen Wert dieser spaces. Etwas, was selbstverständlich erscheint – um 07:00 Uhr öffnet die Bibliothek –, bedarf in der Retrospektive nicht selten besonderer Würdigung.

Der digitale (Bibliotheks-)Raum

Die Schließung der Bibliotheken beeinträchtigt das Lernen und Forschen massiv – daran besteht kein Zweifel und die Universitäten haben dies auch bereits kundgetan sowie auf besondere digitale Medienbestände hingewiesen (siehe nur Schreiben der Universität Hamburg oder LMU München oder HHU Düsseldorf). Erweiterte Zugänge zu E-Ressourcen helfen in puncto Literaturrecherche und erlauben es schon seit längerem über den VPN-Dienst der Universitäten sich in die jeweiligen Netze zu schalten, um E-Books, E-Journals, Datenbanken, etc. zu nutzen. Zudem haben in Zeiten von COVID-19 mehrere Verlage und Datenbanken ihr Online-Kontingent stark erweitert bzw. zugänglich gemacht, genannt seien nur Nomos eLibrary, Wolters Kluwer Online oder international Cambridge University Press textbooks.

Einige Juristinnen und Juristen arbeiten jedoch nach wie vor (zumindest gelegentlich) bevorzugt mit gedruckten Werken und fühlen sich mit der haptischen Komponente wohler. Vielleicht braucht man auch mal spontan mehrere Quellen nebeneinander (und verfügt nicht über zwei oder drei Bildschirme). Schließlich sind auch (noch) nicht alle Quellen, nicht alle Bücher „digital“ verfügbar. Manche Erkenntnisse werden eine Zeit lang daher wohl nicht gewinnbar sein. Fast schon resignierend kann man dazu sagen: das ist vorerst dann nun mal so.

«L’espace physique»

Kommen wir nun aber zu den Räumen der Bibliothek. Das Argument, dass Studierende nun manchmal entweder hören oder sich sogar selbst im inner circle zurufen, geht in die Richtung, dass man doch einfach zu Hause lernen könne (oder andere ggfs. „forschen“). Dagegen lässt sich zum einen die schon angedeutete Quellenthematik anbringen. Examenskandidatinnen und -kandidaten stehen ohnehin vor einer nahezu ausufernden Literaturauswahl, blättern durch mehrere Lehr- und Lernbücher, mancherlei Aufsätze, vielleicht sogar in einem Studienkommentar und mehr. Zum anderen kann man nicht davon ausgehen, dass es der Regel entspricht eine Wohnung mit Büro zu haben oder insgesamt genügend privaten „Raum“, um die Bibliotheksgegebenheiten des jeweiligen Platzes zu Hause zu spiegeln. Der Raum ist damit ein faktisch-soziales Thema.

Wer ist damit – „wie“ – betroffen? Bei „Forschern“ und „Forschungstätigkeiten“ lässt sich noch eine two-tier-Absicherung anbringen: entweder sie verfügen über eigene Büros zu denen über besondere Eingangsmodi in den Fakultäten, etc. weiterhin Eintritt verschafft werden kann; das «problème de place» stellt sich dann nicht. Oder man sieht im Grenzfalle fehlender papierbasierter Quellen schlichtweg ein, dass die Resultate der eigenen Forschung eine Zeitlang zurückstehen müssen.

Problematischer erscheint mir die Lage bei Studierenden und insbesondere den „eigentlich“ für die nächsten Monate aufgerufenen Examenskandidatinnen und -kandidaten. Man versuche sich doch nur auf den Referenzpunkt Null derjenigen zu besinnen, die vor solch großen Prüfungen stehen. Um nicht falsch verstanden zu werden: aufgrund der allseits bekannten Lage haben die Justizprüfungsämter – um bei unserer juristischen Ausbildung zu bleiben – die für April geplanten Aufsichtsarbeiten reihenweise verschoben, teilweise voraussichtlich um einen Monat (NRW) oder für Juni (Hamburg) und später. Man wird nun sehen, wie es sich bei den darauffolgenden Terminen verhalten wird. Nur was bringt die Zeit, wenn der Lernraum und die -möglichkeiten fehlen? Quellenvielfalt, soziale Motivation durch das kollegiale oder gar kompetitive Umfeld auf der alma mater und der oftmals großzügig geschnittene Bibliotheksraum sind zu Hause (wohl meist) entweder gar nicht oder kaum zu ersetzen. Nehme ich einem all‘ dies weg – und sei es vernünftigerweise auch nur temporär –, so stürzt dieser space für das Studium ein.

In einem grosso modo von Abschlussnoten und Rankings getriebenen Studium wie z.B. dem unseren (allgemein hierzu in RuP Heft 3 [2018] oder hier), frage ich mich dann schon, ob man einen für die nähere Zukunft gerichteten fairen Wettbewerb ausrichten kann, wenn die Einrichtungen weiterhin geschlossen oder nur sehr beschränkt zugänglich sein sollten und die Lernumstände sich dermaßen erschweren. Oder heißt es bald: „unter Bedingungen des COVID-19 die juristische Prüfung abgelegt“ (?) – und würde der Markt das überhaupt berücksichtigen? Oder verwelken diese Begleitumstände mit der Zeit und man hat kurzum „Pech gehabt“?

Open End

Die Debatte um (gefürchtete) „Null-Semester“ oder doch „flexible Semester“ ist bekanntlich schon längst entbrannt und um dem zuvorzukommen bzw. vielmehr ein flexibles Studium zu ermöglichen, können Verlegungen der Klausuren auf digitale Plattformen durchaus eine Möglichkeit sein (siehe etwa hier oder ohnehin als takehome-exam international vorgezeichnet; doch wird die Digitalisierung für die staatlichen Pflichtfachprüfungen kaum als nächstes passieren). Digital kriegt man einiges in den Griff. Die E-Bibliothek nimmt ja schon seit Jahren Konturen an und nunmehr folgen die Online-Vorlesungen. Doch, et ceterum censeo, der E-Raum ist nicht physischer Lernraum, er kann es nicht sein und er kann diesen zwingenden und den (allen) Studierenden oder Forschenden gemeinsamen Raum nicht ersetzen. Vielleicht hat sich das Ganze auch bald erledigt und es wird ein (beschränkter?) Zugang kurz nach dem 20. April herum wieder geschaffen. Bestenfalls mag der hiesige Ruf dann aber zu einem bisher wenig erörterten Aspekt lenken und dazu ermuntern, dem Mikrokosmos unserer Bibliotheca juridica etwas mehr Bedeutung zukommen zu lassen: diesen space brauchen wir.

 

Zitiervorschlag: Jean Mohamad, Die Bibliotheca juridica als Raum in Zeiten von Corona, JuWissBlog Nr. 54/2020 v. 09.04.2020, https://www.juwiss.de/54-2020/

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Bibliotheken, COVID-19, Jean Mohamed, Lernen, Open Access, Wissenschaft
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