Die Grenzen der Subjektstellung des Opfers

von BEDIRHAN ERDEM

Eine opferzentrierte Strafjustiz (victim-centered criminal justice) soll vermutlich die Verfahrensgerechtigkeit fördern, könnte aber die Autonomie des Täters tangieren. Diese Gefahr zeigt sich in der jüngsten Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts (tVerfG), das aus der gefestigten Rechtsprechung des EGMR zum Recht auf effektive Strafverfolgung eine allgemeine staatliche Garantie zum Schutz der Gefühle des Opfers ableitete. Die vom tVerfG herangezogene Argumentationslinie des EGMR findet sich bereits im obiter dictum in den Kammerbeschlüssen des BVerfG und wird auch in der deutschen Literatur vielfach vertreten. Angesichts der bereits festzustellenden Tendenz zur Ausweitung der strafprozessualen Opferrechte unter Zugrundelegung der sog. staatlichen Gefühlsschutzgarantie ist es dringend geboten, die Grenzen der Subjektstellung des Opfers im deutschen Strafprozessrecht zu konkretisieren und darüber hinaus klarzustellen, warum eine solche Ausweitung im deutschen Recht nicht begründbar ist.

Worum geht es in der aktuellen Entscheidung des tVerfG?

Am 1. August 2023 hat das tVerfG eine Entscheidung veröffentlicht, in der ein seit mehr als zehn Jahren bestehendes strafprozessuales Institut, die „Aufschiebung der Urteilsverkündung“ mit sehr unterschiedlichen Begründungen für verfassungswidrig erklärt wurde. Aufschiebung der Urteilsverkündung ist mit der vorläufigen Einstellung unter Auflagen nach der Klageerhebung gem. § 153a Abs. 2 StPO zu vergleichen. Die Aufschiebung der Urteilsverkündung sollte die Resozialisierung des Täters fördern und ihn vor einer Stigmatisierung schützen. Dieses strafprozessrechtliche Institut hat das tVerfG unter verschiedenen Gesichtspunkten bezüglich des Rechts auf effektive Strafverfolgung angegriffen, von denen einer jedoch besonders bedenklich ist: In Fällen, in denen die Schuld des Täters feststeht, von der Strafe aber abgesehen werden könnte, soll dem Opfer ein Widerspruchsrecht gegen die Nichtbestrafung des Täters (Vetorecht) zustehen, um die „Perpetuierung seines durch die Tat verursachten emotionalen Schadens“ zu verhindern (vgl. Constitutionality Review 33/23, § 6).

Subjektstellung des Opfers mit dem Fairnessgebot?

Der Ausgangspunkt für das tVerfG war eigentlich die folgende Anforderung des EGMR an die Vertragsstaaten: (…) the domestic judicial authorities must on no account be prepared to let the (…) psychological suffering inflicted go unpunished (Taylan/Türkei, § 43; s. a. Okkali/Türkei, § 65; Derman/Türkei, § 27). Daraufhin hat das tVerfG implizit eine ungewöhnliche Auslegung des Fairnessgebots (Art. 6 Abs. 1 EMRK) nahegelegt, indem es dem Opfer ein Widerspruchsrecht gegen die Aufschiebung des Strafausspruchs zugestanden hat. Es hat die staatliche Rechtsschutzgarantie nicht auf ihrer objektiven Basis, namentlich dem Gewalt- und Anklagemonopol, sondern von der subjektiven Perspektive des Opfers her gestärkt. Aus dieser Subjektivierung konnte das tVerfG einen Anspruch auf ein opferzentriertes Strafverfahren ableiten und darum den Staat dazu verpflichten, das Opfer im türkischen Strafprozessrecht so zu stellen, dass sein emotionaler Schaden durch die ausgesetzte Strafe nicht vergrößert wird (Gefühlsschutzgarantie). Dem Opfer soll im Strafverfahren eine Möglichkeit eröffnet werden, der Aufschiebung oder der Aussetzung der Strafe des Täters endgültig und wirksam zu widersprechen, um ein faires Strafverfahren zu haben, das seinen seelischen Schaden berücksichtigt (Gefühlsschutzgarantie zugunsten des Opfers gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK).

Die sogenannte Gefühlsschutzgarantie zugunsten des Opfers im deutschen Strafprozessrecht

Die staatliche Gefühlsschutzgarantie zugunsten des Opfers im deutschen Strafprozessrecht lässt sich auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts stützen, und die Tendenz, die Rechtsschutzgarantie des Staates nach Art. 19 Abs. 4 GG auf den Schutz der Gefühle des Opfers auszudehnen, ist auch in der deutschen Literatur deutlich erkennbar. Laut dem BVerfG kann „ein Verzicht auf die effektive Verfolgung zu einer Erschütterung des Vertrauens (…) und einem Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen“ (2 BvR 1763/16, Rn. 38). Dieses Klima betrifft vor allem das Opfer selbst, denn eine unterlassene Strafverfolgung in einem Einzelfall kann kaum zum Vertrauensverlust der Allgemeinheit und einem Klima der Rechtsunsicherheit führen. Deutlicher sind die Ansichten in der Literatur, dass der Staat dem Opfer eine Bestrafung schuldet und anhand des Strafprozessrechts „das notwendige gesellschaftliche Mitgefühl für die Unterstützung bei der Traumabewältigung“ gewährleisten soll. Zugleich ist das Persönlichkeitsrecht, dessen Grundlage dem Schutz des Einzelnen vor Eingriffen in seine „immaterielle“ Integrität dient, ein beliebter Bezugspunkt in der deutschen Literatur. Meines Erachtens stößt die Einführung eines Vetorechts in die Struktur der deutschen Strafprozessordnung mit dem Ziel, das Leid des Opfers zu lindern, an die Grenzen der Subjektstellung des Opfers.

Menschenwürde des Täters als unüberwindbare Schranke im deutschen Strafprozessrecht

Die Aufwertung der Subjektstellung des Opfers mittels staatlicher Gefühlsschutzgarantie gefährdet die strukturellen Grundlagen des deutschen Strafprozessrechts. Dies betrifft jedoch nur indirekt die Fälle, in denen die StA im Ermittlungsverfahren die Schuld des Täters für die Einstellung des Verfahrens prognostizieren oder das Gericht die Schuld im Hauptverfahren für den Schuldspruch feststellen konnte. Das Problem liegt hauptsächlich in der Beeinträchtigung der Autonomie des Beschuldigten, die aus seiner Menschenwürde gem. Art. 1 I GG folgt.

Die Einführung des Vetorechts in das Gefüge der StPO unter Zugrundelegung des Fairnessgebots zur verfassungsrechtlichen Etablierung eines opferzentrierten Strafverfahrens würde im deutschen Recht bedeuten, dass für die Anwendung solcher strafprozessualen Institute, die grundsätzlich zur Strafmilderung (§ 257c StPO), zur Strafaussetzung (§ 56 StGB) oder zum Absehen von Strafe (§§ 153 ff. StPO) führen können, die Mitwirkung durch Zustimmung des Opfers erforderlich wäre. Dies wäre jedoch nicht möglich, ohne die Menschenwürde des Täters zu verletzen. Die Anerkennung des Vetorechts instrumentalisiert den Täter, indem sie seine Fähigkeit untergräbt, die Folgen seiner Tat in seine Lebensplanung einzubeziehen und sich daran zu orientieren. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob der Täter die Folgen einer Tat hinnimmt, die vom Staat festgelegt wurden oder die Folgen einer Tat, die vom Opfer bestimmt und vom Täter nicht anerkannt werden. Ersteres kann der Täter in seinem Lebensplan antizipieren und sich daran anpassen, letzteres bedeutet, den Täter zum Werkzeug des Willens eines anderen zu machen. Ein solcher Opferzentrismus vermindert erheblich die Autonomie des Beschuldigten, sich durch prozessuale Handlungen wie etwa Verzicht auf Verfahrensrechte und Geständnis im Falle einer Verständigung (§ 257c StPO) den konkreten Prozess wirksam zu gestalten, als auch die Fähigkeit, sich nach der Tat freiwillig in die Gesellschaft zu resozialisieren (§56 StGB oder §153ff. StPO), ohne erzieherischer Einwirkung durch staatliche Strafinstitutionen (JVA) ausgesetzt zu sein. Das endgültige Vetorecht des Opfers verhindert im ersten Fall, dass sich der Täter prozessual nach seinen autonomen Entscheidungen ex-ante positionieren kann, es unterwirft ihn den emotionalen Bedürfnissen des Opfers. Im zweiten Fall entzieht es dem Täter die Möglichkeit, sich durch eigenes Handeln autonom in die Gesellschaft zu resozialisieren und verleiht dem Opfer die Macht, über die Zukunft des Täters zu verfügen. Die Begehung einer Straftat könnte als Einwilligung des Täters in seine Bestrafung angesehen werden, aber sie lässt sich nicht vom Staat in eine staatliche Pflicht, sei es zum Rechts- oder Gefühlsschutz, erweitern, den Täter der Willkür des Opfers zu unterwerfen. Ferner ist das Vetorecht des Opfers keineswegs mit dem Klageerzwingungsrecht des Verletzten (§ 172 Abs. 1 StPO) oder dem Rechtsmittelrecht des Nebenklägers (§ 401 Abs. 1 StPO) gleichzusetzen. Es unterscheidet sich dadurch, dass dort die Entscheidungsmacht beim Staat liegt, während sie beim Vetorecht beim Opfer liegt.

Fazit

Die Subjektstellung des Opfers durch eine Gefühlsschutzgarantie des Staates zu begründen, greift in die Menschenwürde des Täters ein. Weder aus dem Grundgesetz noch aus der EMRK lässt sich eine staatliche Verpflichtung ableiten, den Täter zum bloßen Objekt der Entscheidung des Opfers zu machen. Sobald sich der Staat strafprozessual schützend und fördernd vor die emotionellen Bedürfnisse des Opfers stellt und somit das Opfer unter Verweis auf Art. 6 Abs. 1 EMRK in die Lage versetzt, an der Gerichtsentscheidung oder der Einstellung des Verfahrens von der StA endgültig und ausschlaggebend mitzuwirken, dann ist die Instrumentalisierung des Täters im Interesse des Opfers die unvermeidbare Konsequenz – gleichgültig, ob der Täter sich tatsächlich schuldig gemacht hat oder nicht. Die Subjektstellung des Opfers im Strafprozess endet, sobald man den Täter für das Opfer zu instrumentalisieren beginnt. Das ist der Endpunkt der Subjektstellung des Opfers im Strafprozessrecht!

Zitiervorschlag: Erdem, Bedirhan, Die Grenzen der Subjektstellung des Opfers, JuWissBlog Nr. 56/2023 v. 14.09.2023, https://www.juwiss.de/56-2023/.

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Bedirhan Erdem, Fairnessgebot, Gefühlsschutzgarantie, Menschenwürde, Opferrechte, victim-centered criminal justice
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