von DEBORAH PETERS
Während Staaten bei der Verhandlung von völkerrechtlichen Verträgen jedes Wort auf die Goldwaage legen, erwecken die Übersetzungen ins Deutsche den Eindruck, dass es an diesem Feingefühl fehlt. Schließlich spiegeln zahlreiche deutsche Sprachfassungen nicht den originären Wortlaut der Verträge wider. Dieser Beitrag soll anhand des Beispiels des Art. 24 der UN-Behindertenrechtskonvention für diese Problematik sensibilisieren, die Ursachen anhand des Übersetzungsprozesses untersuchen sowie konkrete Lösungsansätze erarbeiten.
Hintergrund: Integration gleich Inklusion?
Wirft man einen Blick in die offizielle englische Fassung des Art. 24 Abs. 2 lit. b UN-Behindertenrechtskonvention [UN-BRK] liest man dort „Persons with disabilities can access an inclusive, quality and free primary education and secondary education” (Hervorhebung durch die Verfasserin). In der amtlichen gemeinsamen Übersetzung von Deutschland, Österreich, Schweiz und Liechtenstein heißt es hingegen, dass die Vertragsstaaten sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen „Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht“ haben (Hervorhebung durch die Verfasserin).
Während Integration laut Bundesregierung „die Eingliederung von Menschen mit Behinderungen in eine unveränderte Umgebung“ beschreibt, bedeutet für sie Inklusion „dass Menschen mit und ohne Behinderungen von Anfang an gleichberechtigt und selbstbestimmt in allen Lebensbereichen teilhaben können“. Integration im Hinblick auf Schulbildung meint also, dass Personen mit Behinderungen sich in ein unangepasstes Schulsystem eingliedern müssen. Hingegen bedeutet Inklusion, dass Personen mit Behinderungen in das Schulsystem vollständig und gleichberechtigt eingebunden werden. Leser:innen der deutschen Sprachfassung der UN-BRK müssen also davon ausgehen, dass Deutschland nur dazu verpflichtet sei, ein integratives Schulsystem zu etablieren.
Allerdings ist dieses Phänomen nicht neu. Bereits 1994 wurde in der Übersetzung des Salamanca Statement and Framework for Action on Special Needs Education der Begriff „inclusion“ als „Integration“ übersetzt. Doch woher kommt diese terminologische Nachlässigkeit? Eine Ursache könnte hierfür sein, dass es früher das Konzept der Inklusion in Deutschland nicht gab und der Begriff Inklusion erst später geprägt wurde. Aus einer Fachtagung im Jahre 2003 mit dem Titel „Inklusive Pädagogik verwirklichen“, ging jedoch bereits ein Jahr später ein Buch zu inklusiver Pädagogik hervor. Folglich liegt es nicht an der Unbekanntheit des Konzepts der Inklusion, dass der Begriff in der Übersetzung der UN-BRK aus dem Jahre 2008 als „integrativ“ übersetzt wurde. Umso erstaunlicher ist es, dass die Bundesregierung bis heute keine Korrektur vorgenommen hat.
Entstehung amtlicher Übersetzungen
Um Ursachen für diese Ungenauigkeiten zu identifizieren, bietet sich ein Blick in die Übersetzungsverfahren an. Gem. § 72 Abs. 6 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien, gelten „[f]ür die Fassung völkerrechtlicher Verträge […] die vom Auswärtigen Amt herausgegebenen Richtlinien für die Behandlung völkerrechtlicher Verträge“. Diese regeln Sprachenfragen bzw. Übersetzungen multilateraler Verträge in § 23 Abs. 2 der Richtlinien für die Behandlung völkerrechtlicher Verträge [RvV]. Sofern die deutsche Sprache nicht Vertragssprache ist, fertigt der Sprachendienst des jeweiligen Fachressorts die Übersetzung ins Deutsche an, vgl. § 23 Abs. 2 S. 2 RvV.
Dann prüft der Sprachendienst des Auswärtigen Amtes die „Übereinstimmung mit den Formerfordernissen der deutschen Vertragssprache sowie die terminologische und phraseologische Kongruenz mit den amtlichen Übersetzungen etwaiger Vorläufertexte und sonstiger einschlägiger Übereinkünfte“ (§ 23 Abs. 2 lit. b S. 2, S. 3 RvV). Somit könnte der Fehler der Übersetzung dadurch entstanden sein, dass bereits vorher die Terminologie Integration für den Begriff Inklusion verwendet wurde (s.o.).
Nach der Korrektur erhält das zuständige Referat des Fachressorts die korrigierte Version zurück und prüft ob die sprachlichen Änderungen auch fachlich korrekt sind, vgl. § 23 Abs. 2 lit. c RvV. Falls nicht, erfolgt eine erneute „Korrekturschleife“. Schließlich wird der deutsche Text an die Fachressorts der anderen deutschsprachigen Vertragsstaaten weitergeleitet und als Grundlage für die Abstimmung der verbindlichen deutschen Sprachfassung oder einer einheitlichen amtlichen deutschen Übersetzung verwendet, § 23 Abs. 2 lit. d S. 1 RvV. Entweder erfolgt die Abstimmung schriftlich oder es wird eine Übersetzungskonferenz einberufen, § 23 Abs. 2 lit. d RvV.
Relevanz und Reform amtlicher Übersetzungen
Zwar ist die amtliche deutsche Übersetzung keine authentische Fassung der UN-BRK, vgl. Art. 50 UN-BRK, sodass diese für die völkerrechtliche Auslegung nicht verbindlich ist. Nichtsdestotrotz soll laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Übersetzung den Adressat:innen ermöglichen, von dem Inhalt der Konvention in einer ihnen verständlichen Sprache Kenntnis zu nehmen. Wenn diese jedoch schlichtweg falsch ist, bringt ihnen diese Übersetzung wenig. Schließlich können Adressat:innen sich so nicht auf ihre Rechte berufen und auch für Anwender:innen herrscht Unklarheit.
Dem soll die Seite www.gemeinsam-einfach-machen.de entgegenwirken, auf der aktuelle Dokumente des UN-Fachausschusses zeitgemäß übersetzt und veröffentlicht werden. Diese ist eine erfreuliche Initiative, allerdings müssen Adressat:innen die Seite zunächst finden und ihnen muss auch bewusst sein, dass die amtliche Übersetzung nicht präzise ist. Außerdem wirft es die Frage auf, ob die dafür verwendeten Ressourcen nicht auch in eine Korrektur der offiziellen Übersetzung hätten investiert werden können.
Im Gegensatz zu Deutschland, hat Österreich seit Juni 2016 eine korrigierte eigene amtliche Übersetzung veröffentlicht. Bei dieser wurde unter anderem der Begriff „inklusives Bildungssystem“ anstelle des Begriffs „integratives Bildungssystem“ verwendet. Nach Auffassung der Bundesregierung könnte eine solche Änderung nur durch ein neues Vertragsgesetz erfolgen und würde damit ein zeit- und abstimmungsintensives Gesetzgebungsverfahren erfordern. Obwohl von dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales grundsätzlich anerkannt wird, dass Sprache sich stetig ändert und eine spätere Revision der deutschen Sprachfassung der UN-BRK auch in Betracht gezogen wird, ist eine solche bis heute – 15 Jahre nach in Kraft setzen der UN-BRK in Deutschland – nicht erfolgt.
Strukturelles Problem
Mit zahlreichen ungenauen Übersetzungen von Rechtsbegriffen ist die deutsche Sprachfassung der UN-BRK ein Paradebeispiel für ein weitreichendes strukturelles Problem. Für die UN-BRK gibt es bereits die vierte Auflage einer inoffiziellen korrigierten Fassung der UN-BRK, die sogenannte Schattenübersetzung des Netzwerks Artikel 3 e.V. Ähnliche Bemühungen für andere völkerrechtliche Verträge gibt es nicht. Dabei gibt es viele Verträge, bei denen Rechtsbegriffe ungenau übersetzt wurden.
Zum Beispiel in der Übersetzung von Art. 51 Abs. 5 lit. b des 1. Zusatzprotokolls der Genfer Abkommen wurde „excessive in relation to the […] military advantage“ zu „in keinem Verhältnis zum … militärischen Vorteil“ übersetzt. Dies rief in der Literatur Diskussionen hervor, ob hier der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anzuwenden sei. Schließlich wird dies vom englischen Wortlaut nicht indiziert. In Art. 7 Abs. 1 lit. h des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs wurde „gender“ als „Geschlecht[s]“ übersetzt. Zwar wird dies durch die Definition in Abs.3 konkretisiert, doch führt auch diese Übersetzung zu Verwirrung, ob nun das biologische Geschlecht oder das soziale Konstrukt gemeint sei. Gesetzestexte bedürfen stets der Auslegung. Wie die genannten Beispiele jedoch demonstrieren, können ungenaue Übersetzungen zu einer „Verwässerung“ des Originaltexts führen oder ihm eine völlig andere Bedeutung verleihen.
Reformvorschläge
Damit in Zukunft die deutschen Sprachfassungen völkerrechtlicher Verträge den englischen Wortlaut präziser widerspiegeln, können verschiedene Maßnahmen ergriffen werden. Vorrangig sollte die Zivilgesellschaft durch repräsentative Organisationen an der Übersetzung beteiligt werden und mitbestimmen dürfen. Außerdem sollten Übersetzungen in regelmäßigen Zeitabständen geprüft und verbessert werden. Damit dies nicht zu kosten- und zeitintensiv wird, sollten die aktuellen Mechanismen angepasst werden. Auch an den Überprüfungen sollten Fachexpert:innen sowie Repräsentant:innen der Zivilgesellschaft teilhaben. Die Entstehungsprozesse der Übersetzungen sollten transparenter gestaltet und durch konkretere Vorschriften geregelt werden. Probleme bei den Übersetzungen könnten in Form von Erwägungsgründen, wie es bei europäischen Verordnungen üblich ist, konkret benannt und erläutert werden, um den Adressat:innen ein besseres Verständnis zu ermöglichen.
Fazit
Sprache ist ein machtvolles Instrument, das dem stetigen gesellschaftlichen Wandel unterliegt. Deswegen sollte sie auch mit Sorgfalt und Bedacht nicht nur bei der Verhandlung von völkerrechtlichen Verträgen, sondern auch bei deren Übersetzungen eingesetzt werden.
Zitiervorschlag: Peters, Deborah, Lost in Legal Translations: Ungenaue deutsche Übersetzungen völkerrechtlicher Verträge, JuWissBlog Nr. 56/2024 v. 22.08.2024, https://www.juwiss.de/56-2024/.
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