Ein kleiner Rechtsvergleich zur Frage des Geschlechts in Deutschland und Frankreich

von FRANZISKA BRACHTHÄUSER

Foto_Franziska_Brachthauser_003Am 20. August gab es durch das Urteil des Tribunal de Grande Instance (TGI) in Tours (im deutschen Recht vergleichbar mit einem Landgericht) eine première française: Zum ersten Mal ist durch Urteil eines Gerichts anerkannt worden, dass nach dem französischen Personenstandsrecht auch das sexe neutre, das neutrale Geschlecht, zulässig sein soll. Eine 64-jährige intergeschlechtliche Person hatte vor dem Tribunal geklagt, um ihren als männlich eingetragenen Personenstand nach den Vorschriften von Artikel 99 des französischen Code Civil korrigieren zu lassen. Anerkannt wurde dadurch etwas, was in Deutschland bereits seit dem 1. November 2013 gesetzlich vorgesehen ist: Die Existenz einer dritten Option außerhalb des binären Geschlechtersystems (§ 22 Abs. 3 PStG). Das Urteil soll als Anlass dienen, die Rechtslage zum Geschlecht in beiden Ländern in Ansätzen zu vergleichen.

Die Geschlechtskategorie im Recht

Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland schreibt das Gesetz vor, dass das Geschlecht der Bürger_innen von Geburt an erfasst werden soll. In Deutschland wird dies durch die Regeln des Personenstandsgesetzes vorgeschrieben – in Frankreich durch Artikel 57 des Code Civil.

In französischen Medien wird Deutschland vielfach als Vorreiter in Bezug auf die Rechtslage nach dem Urteil zitiert. Die Rechtslage ist in den beiden Ländern aber unterschiedlich. Nach dem Wortlaut des deutschen Gesetzes ist anstatt einer Eintragung von „männlich“ und „weiblich“ der Geschlechtseintrag im Personenstand offen zu lassen, wenn „das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden [kann]“. Dadurch entsteht keine konkrete neue Kategorie – vielmehr benennt die Norm als dritte Option quasi ein Nicht-Geschlecht. Anders das Urteil des TGI Tours: Es erklärt die Zuteilung eines intergeschlechtlichen Menschen zu einem Geschlecht als einen Akt der Unmöglichkeit. Ein zugeteiltes Geschlecht erscheint wie eine pure fiction, ein Widerspruch zu dem Recht auf Identität, die aus Art. 8 EMRK resultiert. Als neue Kategoire führt das Gericht das sexe neutre ein. Das klingt zumindest in diesem Begründungszusammenhang schon einmal ganz anders als der Wortlaut des § 22 Abs. 3 PStG.

Einen zentralen Unterschied gibt es aber auch in der Qualität der Rechtsakte: In Deutschland handelt es sich um ein vom Parlament erlassenes Gesetz; in Frankreich um ein bloßes Urteil bezogen auf den Einzelfall. Nach Artikel 5 des Code Civil obliegt es nicht der französischen Rechtsprechung, allgemeine und generelle Rechtsakte aufzustellen – klassischer Ausdruck der Gewaltenteilung. Dennoch hat die französische jurisprudence als Richterrecht faktisch den Stellenwert und die Funktion einer Rechtsquelle entwickelt. Es bleibt für das Urteil des TGI Tours allerdings abzuwarten, ob es Bestand haben kann: Berufung wurde bereits beim Cour d’Appel d’Orléans eingelegt. Es kann also gut sein, dass dem Urteil in nächster Instanz widersprochen wird. In dem Fall wird allerdings auf nächster Stufe der Cour de Cassation angerufen – und wenn dieser die Notwendigkeit des sexe neutre bestätigt, hat sich das französische Recht eine Stufe weiterentwickelt. Eine Initiative des Parlaments ist noch nicht in Sicht. Es bleibt also zu schließen: In seinem Wortlaut durchaus progressiv, steht das Urteil des TGI Tours auf wackeligen Beinen. Es zeigt den Weg auf zu einer Rechtsänderung, leistet sie aber selbst noch nicht.

Anerkennung der Geschlechtsidentität transgeschlechtlicher Menschen

Nicht im Urteil des TGI angesprochen sind die Rechte transgeschlechtlicher Menschen in Frankreich. Die basieren bis dato auf einer Rechtsprechung des Cour de Cassation aus dem Jahr 1992, die erst auf eine Verurteilung Frankreichs durch den EGMR folgte. Ein Parlamentsgesetz gibt es bislang nicht. Das Urteil des Gerichts sieht vor, dass es transgeschlechtlichen Menschen möglich sein soll, ihr rechtliches Geschlecht zu ändern. Voraussetzung hierfür ist eine operative Geschlechtsumwandlung aus „therapeutischen“ Gründen. Durch einen Runderlass von 2010 wird versucht, die bis dahin uneinheitliche Praxis der Gerichte zur Änderung des rechtlichen Geschlechts anzugleichen: Eine hormonelle Geschlechtsumwandlung wird als zulässig anerkannt, solange die einen „physisch eindeutigen“ und vor allem einen irreversiblen Effekt hat. Eine Fortpflanzungsunfähigkeit, so wie das im deutschen Transsexuellengesetz lange Voraussetzung war, wird nicht gefordert. Regelfall sollen aber die operativen Geschlechtsumwandlungen bleiben. Der Prozess ist lang und teuer: Er erfordert eine Reihe medizinischer und therapeutischer Gutachten und bereitet besonders dann Probleme, wenn er im Ausland vorgenommen wird.

Auch die Änderung des Vornamens nach Artikel 60 des französischen Code Civil wird an die Voraussetzung einer irreversiblen Veränderung der Erscheinung geknüpft. Erst durch ein Dekret von 2010 wird offiziell anerkannt, dass es sich bei Transgeschlechtlichkeit nicht um eine krankhafte Störung handelt. Seitdem hat sich die Rechtslage in gezieltem Bezug auf transgeschlechtliche Menschen nicht weiter entwickelt. Die Einführung der mariage pour tous durch die Gesetzesänderung am 13. Mai 2013 hat aber für verheiratete transgeschlechtliche Personen automatisch den Effekt, dass ihre Ehe auch nach einer Geschlechtsänderung gültig bleibt.

In Deutschland werden die Rechte transgeschlechtlicher Menschen maßgeblich durch das sogenannte Transsexuellengesetz von 1980 bestimmt, das in Folge sechsfach durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde. Zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht durch ein Urteil im Jahr 2011 die Vorschrift kassiert, nach der eine operative Geschlechtsumwandlung für die rechtliche Änderung des Geschlechts obligatorisch war – die Änderung also, auf die in Frankreich noch zu warten bleibt. Bislang ist der entsprechende Paragraph schlicht unanwendbar und eine Gesetzesreform dringend erforderlich. Dennoch ist das deutsche Recht dem französischen, das sich überhaupt nicht auf ein Gesetz, sondern maßgeblich auf ein Urteil aus dem Jahr 1992 stützt, eindeutig einen Schritt voraus.

Gleichgeschlechtliche Ehe und weiter

Ein Gebiet, in dem auch einmal Frankreich Vorreiterin spielen darf, wurde bereits angesprochen: Die mariage pour tous, die gleichgeschlechtliche Ehe, die in Frankreich seit 2013 gesetzlich zulässig ist. Mit ihr einher gehen weitere Änderungen im Familienrecht – etwa das Recht gleichgeschlechtlicher Paare, gemeinsam Kinder zu adoptieren. Weitergehend sah der Gesetzesentwurf Änderungen im Wortlaut anderer Rechtsquellen vor – etwa mari und femme durch époux zu ersetzen. Das Vorhaben ist nicht durchgängig geglückt – an vielen Stellen im französischen Recht ist etwa noch von mère und père die Rede.

Und in Deutschland? Erst am 15. Oktober 2015 gab es eine Debatte zum Thema „Ehe für alle“ im deutschen Bundestag – beschlossen wurde aber gerade keine solche, sondern lediglich weitere graduelle Annäherungen zwischen Ehe und Lebensparter_innenschaft. Gerade das Recht auf Adoption von Kindern ist gleichgeschlechtlichen Paaren noch nicht zugestanden worden: Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2013 ist gerade einmal die Sukzessivadoption zulässig. Auch von der Einführung einer geschlechtssensiblen Sprache in Bezug auf Elternschaft ist das BGB noch weit entfernt. Es besteht also durchaus Handlungsbedarf.

Schluss

Eine Entwicklung in Bezug auf genre, auf Geschlecht, gibt es sowohl in Frankreich als auch in Deutschland. Unklar ist dabei, wieso in den beiden Ländern manche Vorhaben eher möglich erscheinen als andere und welche Konstellationen und Kräfteverhältnisse je dazu führen, dass bestimmte Änderungen gesetzlich, gerichtlich oder überhaupt nicht durchgesetzt werden. In Frankreich wird das Urteil des TGI Tours gerade als französische Premiere und Durchbruch gefeiert, dabei weist es vor allem aber auch auf die Widersprüche hin, die es noch zu beseitigen gilt.

Franziska Brachthäuser ist Studentin der Rechtswissenschaft an der Universität Panthéon-Assas in Paris.

Deutschland, Frankreich, Franziska Brachthäuser, Gender, sexe neutre, Transsexualität
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