von FABIAN BÜNNEMANN
„Europa ist nicht für alles zuständig“ – so brachte es Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker kürzlich auf den Punkt. In erster Linie seien die Nationalstaaten gefordert. Zwar ist das in dieser Aussage zum Ausdruck kommende Subsidiaritätsprinzip seit vielen Jahren im Unionsrecht verankert und in politischen Sonntagsreden allgegenwärtig, doch wird stets die fehlende Umsetzung beklagt. So stellt sich seit Jahr und Tag die Frage, wie das Prinzip vernünftigerweise durchgesetzt werden kann. Das wohl wichtigste Instrument – die Subsidiaritätsrüge – bedarf insofern noch einiger Weiterentwicklung, um seine Wirkung entfalten zu können
Das Subsidiaritätsprinzip im Unionsrecht
Das europarechtliche Subsidiaritätsprinzip findet seine Grundlage in Art. 5 Abs. 3 EUV. Danach wird die EU in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. Ein derartiges Prinzip ist aber nur von Wert, wenn seine Einhaltung hinreichend und effektiv kontrolliert wird. Die Aufgabe der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips soll nach dem Willen der Mitgliedsstaaten vor allem von den nationalen Parlamenten nach dem im sog. Subsidiaritätsprotokoll vorgesehenen Verfahren ausgeübt werden.
Die Subsidiaritätsrüge als Frühwarnmechanismus
Das Rügeverfahren ist als „Frühwarnmechanismus“ ausgestaltet und ermöglicht – im Gegensatz zur Subsidiaritätsklage – eine ex-ante Kontrolle. Dabei wird eine Rüge durch sog. „begründete Stellungnahmen“ zum Ausdruck gebracht (Art. 6 des Subsidiaritätsprotokolls). So haben die nationalen Parlamente, wenn Sie die Subsidiaritätsrüge erheben wollen, binnen acht Wochen nach Übermittlung des Entwurfs eines Gesetzgebungsakts (vgl. dazu Art. 3 des Protokolls Nr. 1 zum EUV) darzulegen, weshalb der Entwurf ihres Erachtens nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist (Art. 6 des Subsidiaritätsprotokolls). Jeder Mitgliedsstaat verfügt über zwei Stimmen, die in Zwei-Kammer-Systemen entsprechend auf die Kammern aufgeteilt werden (Art. 7 des Subsidiaritätsprotokolls). Als Rechtsfolgen sind in Art. 7 und 8 des Subsidiaritätsprotokolls dreierlei vorgesehen: Erstens ist grundsätzlich jede begründete Stellungnahme zu berücksichtigen, was zumindest ein „ernsthaftes Überdenken“ beinhalten dürfte. Wird zweitens ein Quorum von 1/3 der Stimmen erreicht – bei bestimmten Vorhaben lediglich 1/4 der Stimmen –, so muss die Kommission den Gesetzgebungsvorschlag „ergebnisoffen“ überprüfen (sog. „gelbe Karte“). Nach Abschluss der Überprüfung kann sie allerdings an dem Entwurf festhalten, was jedoch begründungspflichtig ist. Wird schließlich – bei einem Vorschlag im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren – das Quorum der einfachen Mehrheit erreicht, so hat die Kommission eine Stellungnahme abzugeben und die Unterlagen sodann an den EU-Gesetzgeber weiterzuleiten. Nehmen sodann 55% der Mitglieder des Rates bzw. die einfache Mehrheit des EU-Parlaments ebenfalls eine Unvereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip an, so ist der Vorschlag gescheitert (sog. „orangefarbene Karte“). Wenngleich das Subsidiaritätsprinzip im Primärrecht normiert ist, ist in Ermangelung einer einheitlichen Definition sowie zugrunde zu legender Kriterien das Zählen der begründeten Stellungnahmen gewissermaßen eine Art Hilfskonstrukt, dessen sich die Vertragsparteien bedient haben, um die Durchsetzung des Prinzips zu fördern.
Derzeitiger Stand und Entwicklungsmöglichkeiten
Während im Jahr 2015 lediglich acht Subsidiaritätsrügen bei der Kommission eingingen, waren es im Jahr 2016 nach dem kürzlich veröffentlichten Jahresbericht 2016 der Kommission über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit ganze 65 Rügen. Dies zeigt, dass zwar im vergangenen Jahr vom Instrument der Subsidiaritätsrüge verstärkt Gebrauch gemacht wurde. Dennoch hat sich ihr Einsatz auf wenige Vorschläge konzentriert. Dies dürfte zum einen mit dem Einsatz der Rüge als politischem Instrument zusammenhängen, der höchst unterschiedlich beurteilt wird, dem derzeitigen Verfahren aber immanent ist. Zum anderen ist das Rügeverfahren an sich noch längst nicht ausgereift (vgl. zu den vielfach geäußerten Vorschlägen etwa hier und hier). Immer wieder kritisiert wird etwa das zugrundeliegende Fristenregime. Denn die recht knapp bemessene Frist von acht Wochen stellt vor allem die nationalen Parlamente kleinerer Mitgliedsstaaten vor erhebliche Herausforderungen. So müssen diese über die entsprechenden Ressourcen verfügen, um in angemessener Zeit die seitens der Kommission übersandten Gesetzgebungsvorschläge analysieren und ggf. eine begründete Stellungnahme abgeben zu können. Eine Verlängerung der Frist dürfte die Handlungsfähigkeit der nationalen Parlamente daher enorm verbessern und scheint nicht außerhalb des politisch möglichen zu liegen. Bereits im Februar 2016 war sich der Europäischen Rat – im Rahmen der Absicht, Großbritannien in der EU halten zu wollen – darüber einig geworden, die maßgebliche Frist auf zwölf Wochen zu verlängern. Aufgrund des Ausgangs des „Brexit“-Referendums wurde der Beschluss indes nicht wirksam, womit auch die fortschrittliche Fristenregelung vorerst wieder von der politischen Agenda verschwand.
Oft diskutiert wird auch die Einführung weiterer Rechtsmittel, etwa einer sog. „roten Karte“. Danach soll es den nationalen Parlamenten ermöglicht werden – bei Erreichen eines bestimmten Quorums (der Europäische Rat etwa wollte 55% der Stimmen vorsehen) – einen Gesetzgebungsvorschlag der Kommission von der europäischen Tagesordnung nehmen können. Ein derartiges Veto-Recht der Nationalparlamente würde die Unabhängigkeit der Kommission indes deutlich einschränken, was in den Verträgen nicht vorgesehen ist und den politischen Charakter der Rüge wohl noch vertiefen würde. Wichtiger wäre stattdessen die Erarbeitung einer gemeinsamen Subsidiaritätsdefinition sowie die Festlegung „justitiabler Prüfkriterien“. Diese Maßnahmen würden nicht nur zu einer Stärkung des Rügeverfahrens, sondern auch der bislang recht einflusslosen Subsidiaritätsklage (vgl. etwa hier und hier) dienen.
Schlussbemerkung
Die zunehmende Zahl von Subsidiaritätsrügen macht Hoffnung, dass dem zugrundeliegenden Prinzip auf europäischer Ebene noch einmal Nachdruck verliehen werden kann. Auch Politikerinnen und Politiker aller Couleur betonen gerne – etwa im diesjährigen Bundestagswahlkampf – den großen Wert des Subsidiaritätsprinzips, werden allerdings selten konkret. Dabei sollte das Rügeverfahren zügig weiterentwickelt werden. Verfahrensregelungen, wie die Höhe der Quoren sowie die Länge der Rügefristen, werden weit überwiegend als verbesserungswürdig eingestuft; wichtig wäre aber zudem die Festlegung einer einheitlichen Subsidiaritätsdefinition, um die Subsidiaritätskontrolle auch rechtlich zu stärken. „Europa ist nicht für alles zuständig.“ – so richtig diese Aussage des Kommissionspräsidenten ist, so wichtig ist die Weiterentwicklung der Subsidiaritätskontrolle. Schließlich vermag das Subsidiaritätsprinzip nur Wirkung zu entfalten, wenn es auch hinreichend kontrolliert bzw. durchgesetzt wird. In diesem Sinne ist zu hoffen, dass sich die Politik des Themas nach der Bundestagswahl noch einmal annehmen möge.