#workshopwednesday – Ein Beitrag aus unserem „JuBlog! Workshop zum Bloggen im Öffentlichen Recht“
Von ENNIO FRIEDEMANN
Die zulässige Regelhöchstgeschwindigkeit von 50 km/h innerhalb von Ortschaften ist eine seit 1957 unangetastete Größe des deutschen Verkehrsrechts. Doch nun fordern einige Städte eine zumindest probeweise Reduktion auf 30 km/h: Sie wollen damit die Rechtslage vereinfachen, zur Sicherheit und Umweltfreundlichkeit des Stadtverkehrs beitragen und die Städte lebenswerter machen. Das Bundesverkehrsministerium hingegen hat zwar gute Vorsätze, will aber nicht zuständig sein. Seine kompetenziellen Ausflüchte allerdings sind – löchriges – Feigenblatt einer rückwärtsgewandten Verkehrspolitik.
Mit dem Vorschlag, die Regelgeschwindigkeit im gesamten Freiburger Stadtgebiet auf 30 km/h zu reduzieren, stieß der Oberbürgermeister der Stadt, Martin Horn, im Dezember letzten Jahres nicht nur auf Gegenliebe. Sowohl die kritischen Kommentare von Fraktionen im Gemeinderat als auch auf Facebook veranlassten ihn zu einer Klarstellung: Die Stadt Freiburg könne die Reduktion der Regelgeschwindigkeit auf dem gesamten Stadtgebiet nicht selber festlegen, dazu müsse in der StVO eine Ausnahmeregelung für einen Tempo-30-Modellversuch, eine sogenannte „Innovationsklausel“ geschaffen werden. Horn wandte sich deshalb mit einem Brief an den Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, um die Einführung einer solchen Regelung zu beantragen. An dieser ist im Übrigen nicht allein Freiburg interessiert: Coburg und Konstanz haben sich mit der gleichen Bitte an das Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) gewandt, in München, Bonn und Darmstadt wird die Einführung eines flächendeckenden Tempo-30-Limits im gesamten Stadtgebiet im Stadtrat diskutiert, auch der Deutsche Städtetag befürwortet die Idee. Und das aus gutem Grund: Die Einführung flächendeckender Tempolimits in Städten ist zwar gesellschaftlich umstritten, ihre Vorteile sind aber verkehrswissenschaftlich belegbar: Signifikant weniger Verkehrstote, eine deutliche Reduktion des Dauerschall- und Maximalpegels sowie der damit einhergehenden Gesundheitsbelastung durch Lärmstress und schließlich ein verminderter Ausstoß von Luftschadstoffen bei gleichbleibendem oder sogar verbesserten (S. 11) Verkehrsfluss. Entsprechend verärgert reagierten manche Städte, als das BMVI den Antrag mit der Begründung ablehnte, die Einführung eines flächendeckenden Tempo-30-Limits durch einzelne Kommunen sei weder nach derzeitiger Rechtslage zulässig, noch könne eine dies gestattende Innovationsklausel in die StVO eingeführt werden. Die Einschätzung des BMVI zur derzeitigen Rechtslage ist zwar plausibel, die Begründung zur Ablehnung aber steht rechtlich wie tatsächlich auf wackeligen Füßen und wirkt – wieder einmal – innovationshemmend.
Derzeitige Rechtslage: Unübersichtlich bei minimalem Entscheidungsspielraum der Kommunen
Gemäß § 3 StVO liegt die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb von Ortschaften derzeit bei 50 km/h. Ausnahmen hiervon legen gemäß § 44 Abs. 1 in Verbindung mit § 45 StVO die zuständigen Straßenbehörden auf Antrag der Gemeinden fest, wobei die Städte in der Regel selbst Straßenbehörden sind. Dies bedeutet, dass die Einrichtung von Tempo-30-Zonen nach dem derzeitigen Regelungsmodell als Ausnahme begründet werden muss. Zwar liefert der § 45 StVO gleich eine Reihe möglicher Gründe für eine Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h: Neben dem § 45 Abs. 1c StVO, der die Straßenbehörden zur Einrichtung von Tempo-30-Zonen „insbesondere in Wohngebieten und Gebieten mit hoher Fußgänger- und Fahrradverkehrsdichte sowie hohem Querungsbedarf“ ermächtigt, besteht seit der StVO-Novelle 2016 auch eine vereinfachte Möglichkeit, sogenannte „innerörtliche[n] streckenbezogene[n] Geschwindigkeitsbegrenzungen von 30 km/h“ (§ 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 i.V.m. § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO) aus Gründen der Sicherheit des Verkehrs in besonders sensiblen Bereichen, also in unmittelbarer Nähe von Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern, sowie Alten- und Pflegeheimen anzuordnen (Tempo-30-Strecken). Schließlich ist auch die Einführung einer Tempo-30-Zone zum „Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen“ (§ 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVO) denkbar.
Gemein ist diesen Möglichkeiten aber, dass ihre Anwendung durch die Vorgaben der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) oder durch die Intention des Verordnungsgebers eingeschränkt wird. So kommen Tempo-30-Zonen nur dort in Betracht, wo „der Durchgangsverkehr von geringer Bedeutung ist“, bei der Planung der Zonen ist zudem ein „leistungsfähiges“ Vorfahrtstraßennetz sicher zu stellen (VwV-StVO, zu § 45 Abs. 1 bis 1e, Randnummer 37). Da die Einrichtung einer Tempo 30-Zone in Vorfahrtsstraßen aber nicht gestattet ist (§ 45 Abs. 1c Satz 2 StVO), schränkt dies die Möglichkeiten der Städte deutlich ein. Auch der Anwendungsbereich der § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO verkleinert sich merklich, wenn man sich klar macht, dass die Einrichtung von Tempo-30-Strecken nur im „unmittelbaren Bereich“ der geschützten Einrichtungen zulässig ist: Dieser erstreckt sich nach Vorstellung des Verordnungsgebers nämlich bloß über 300 Meter (BR-Drs. 332/16, S. 14).
Als Konsequenz ist eine flächendeckende Einführung von Tempo 30 nach diesen Vorschriften nicht möglich. Verkehrsteilnehmende müssen sich stattdessen durch einen bisweilen schwer überschaubaren Zonendschungel kämpfen. So können sich an einer Durchfahrtsstraße, die sowohl durch ein Wohngebiet als auch an einem oder mehreren „sensiblen Bereichen“ im Sinne des § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO (vorbei-)führt, auf nur einem Straßenkilometer die derzeitige Regelhöchstgeschwindigkeit von 50 km/h, eine – womöglich zeitlich begrenzte – streckenbezogene Geschwindigkeitsbegrenzung an einem sensiblen Bereich von bis zu 300 Metern Länge (s.o.) und eine Tempo-30-Zone aus Gründen des Anwohnerschutzes in beliebiger Reihenfolge abwechseln. Für die Qualität des Verkehrsflusses, insbesondere ein zügiges Vorankommen, ist aber nicht vorrangig die zulässige Höchstgeschwindigkeit entscheidend, sondern ein homogener Verkehrsstrom, der bei Tempo 30 besser (S. 5 ff., 10 f.) erreicht werden kann. Das Argument das BMVI, ein flächendeckendes Tempo 30 wirke sich im Vergleich zur jetzigen Rechtslage negativ auf den Verkehrsfluss aus, erscheint damit doch etwas scheinheilig.
Innovationsklauseln in der StVO – das BMVI als Hemmschuh
Da die derzeitige Innovationsklausel in § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StVO den Städten nach plausibler Auslegung des BMVI nicht weiterhilft, hängt die Möglichkeit der Städte flächendeckende Tempo-30-Zonen zu schaffen, maßgeblich vom Willen des BMVI (und des Bundesrats) ab, eine erweiterte Innovationsklausel in die StVO einzufügen. Hiergegen sträubt es sich allerdings mit rechtlich wie tatsächlich fragwürdigen Argumenten. Auf letztere soll hier nur kurz eingegangen werden: So befürchtet das BMVI einen vermehrten „Schleichverkehr“ in Wohngebieten, vermag aber (aufgrund gegenteiliger Studienlage, S. 17) nicht zu erklären, warum ein Umweg durch ein Wohngebiet mit Tempo 30 für die Verkehrsteilnehmenden attraktiver sein soll, als das Verbleiben auf einer – durch „grüne Wellen“ begünstigten – Hauptverkehrsstraße. Auch um die noch dünne Studienlage zum Zusammenhang von einer Reduktion der Regelhöchstgeschwindigkeit und der Verringerung von Lärm- und Luftschadstoffemissionen zu verbessern, wäre eine – zeitlich begrenzte – Innovationsklausel die richtige Lösung.
In seiner Antwort äußert das BMVI schließlich kompetenzrechtliche „Bedenken“: Die Einführung einer Innovationsklausel, „mit der den Straßenverkehrsbehörden Verkehrsversuche auch unter Abweichung von Regelungen der StVO ermöglicht würden“ stelle „das grundsätzliche Erfordernis bundeseinheitlicher Regelungen und damit die Zuständigkeit des Bundes für das Straßenverkehrsrecht in Frage […]“. Unklar bleibt allerdings, zu welchem Kompetenzproblem die Einführung einer solchen Klausel nach Meinung des BMVI führen könnte. Befürchtet es eine uneinheitliche Regelung der Voraussetzungen, nach denen eine Kommune zur „Modellkommune“ werden kann, durch die Länder? Dies wäre insofern unbedenklich, als dass die derzeitigen Möglichkeiten, Tempo-30-Zonen einzuführen, bestehen blieben: Die Kommunen würden also keine gewichtigen Nachteile dadurch erleiden, dass sie unter den Bedingungen ihres Landes nicht zur Modellkommune werden könnten. Die Bedenken des BMVI könnten sich auch nur auf den Umstand beziehen, dass die Städte von der Möglichkeit, die Regelhöchstgeschwindigkeit auf dem gesamten Stadtgebiet auf 30 km/h abzusenken, in unterschiedlicher Intensität Gebrauch machen. Insofern besteht aber kein Unterschied zur jetzigen Rechts- und tatsächlichen Lage, da auch heute der Anteil der Tempo-30-Zonen an den innerstädtischen Straßen – auch unabhängig von vergleichbaren tatsächlichen Gegebenheiten – stark variiert: Wie sich etwa an einem Vergleich von Berlin und Hamburg zeigt, spielt insbesondere der politische Wille zur Durchsetzung von Tempo-30-Modellprojekten eine entscheidende Rolle. Die Innovationsklausel dürfte also auch bei den Verkehrsteilnehmenden nicht zu mehr Orientierungsschwierigkeiten führen als die bestehenden Regelungen. Die Stadt Bonn hat dementsprechend schon angekündigt, trotz der negativen Antwort dem Freiburger Beispiel folgen zu wollen – auch die Einführung des Tempo 50 dauerte schließlich mehrere Jahre.
Zitiervorschlag: Ennio Friedemann, Tempo 30 in den Städten?!, JuWissBlog Nr. 50/2021 v. 12.05.2021, https://www.juwiss.de/50-2021/.
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