#workshopwednesday – Ein Beitrag aus unserem „JuBlog! Workshop zum Bloggen im Öffentlichen Recht“
Mit dem am 08.10.2020 mit der Mehrheit der Regierungskoalition beschlossenen Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes schien die seit Jahren andauernde Odyssee im Wahlrecht vorerst ein Ende gefunden zu haben. Dem ist mitnichten so. Warum nämlich das von FDP, Linke und Grünen nun angestrengte abstrakte Normenkontrollverfahren Aussicht auf Erfolg hat und wie eine Entscheidung über den gleichzeitig eingereichten Antrag auf einstweilige Verfügung ausfallen könnte, zeigt der folgende Beitrag.
Mit einer Veränderung des Wahlrechts an drei Stellen versucht die Reform, ohne einen breiten überparteilichen Konsens erzielt zu haben, ein weiteres Anwachsen des Bundestages auf möglicherweise sogar über 800 Abgeordnete nach der nächsten Wahl zu verhindern. Schon jetzt leistet sich Deutschland mit 709 Sitzen nach China das zweitgrößte Parlament der Welt und riskiert eine Beeinträchtigung von dessen Arbeits- und Funktionsfähigkeit (S. 8 f.) sowie der gesellschaftlichen Akzeptanz, wenn nicht wenigstens weitere Zuwächse verhindert werden. Die nun beschlossene Übergangslösung ist dazu jedoch ungeeignet und zudem als verfassungsrechtlich nicht unproblematisch einzustufen.
Verringerung der Anzahl der Wahlkreise
Das unerwünschte Ansteigen der Sitzzahl über die in § 1 I 1 BWG vorgesehene Anzahl von 598 hinaus kommt hauptsächlich durch den in § 6 V BWG a.F. vorgeschriebenen vollständigen Ausgleich von Überhangmandaten zustande. Zur Vermeidung von Überhangmandaten kann entweder die Zahl der Sitze erhöht werden, was aber gerade zu einer Vergrößerung führt, oder eine Reduktion der anzurechnenden Direktmandate erfolgen.
Eine effektive Begrenzung des Mandatsaufwuchses ist, vergangene Wahlergebnisse und aktuelle Umfragedaten betrachtend, durch eine Senkung des Anteils der Direktmandate auf etwa vierzig Prozent zu erreichen (240 statt 299). Der gemeinsame Gesetzentwurf der Beschwerdeführer sah eine Reduzierung in diesem Verhältnis vor (S. 6). Die nun beschlossene Änderung enthält jedoch nur eine Senkung auf 280. Dies zudem erst ab dem 1. Januar 2024.
Verfassungsrechtlich bewegt sich die Wahlkreisreduzierung innerhalb des Beurteilungsspielraums des Gesetzgebers (S. 3). Dem vorgetragenen Aspekt, dass durch eine Verringerung der Wahlkreise die demokratische Repräsentation leide, da eine zu weitreichende Reduzierung die Möglichkeit des Kontakts zwischen WählerInnen und KandidatInnen erschwere und so den Zweck der im Rahmen der Verhältniswahl realisierten Elemente der Personenwahl beschädige, hat nur geringes Gewicht. Eine Wahlkreisanzahl ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben. Die Grenze verläuft erst dort, wo eine Verringerung zu einer Vergrößerung der Wahlkreise führt, die die mit der Mehrheitswahl verbundenen Zwecke nicht mehr hinreichend zulässt (vgl. 71 f.). Dies ist bei einer Verringerung um lediglich etwa 6% nicht ersichtlich. Dem Problem räumlich übergroßer Wahlkreise im ländlichen Raum muss durch einen entsprechenden Zuschnitt der Wahlkreise begegnet werden.
Anrechnung von Wahlkreismandaten auf Listenmandate der gleichen Partei in anderen Ländern (Kompensation)
Die zweite Änderung soll Ausgleichsmandate verringern, indem Überhangmandate, die eine Partei in einem Bundesland erzielt hat, mit ihren Listenmandaten in einem anderen Land, in dem weniger Direktmandate errungen wurden, verrechnet werden. Um jedoch zu verhindern, dass die auf eine Landesliste entfallenden Stimmen ohne den föderal angemessenen Erfolg bleiben, steht lediglich die Hälfte der Listenmandate zur Verrechnung zur Verfügung. Zwar wird nun ein föderal unterschiedlicher Erfolgswert bewusst in Kauf genommen, jedoch stellt dies in Bezug auf die in Art. 38 I 1 GG garantierte Erfolgswertgleichheit kein verfassungsrechtliches Problem dar. Für diese ist der bundesweite Proporz maßgeblich (S. 5). Problematisch erscheint diese Änderung der parteiinternen föderalen Sitzverteilung jedoch im Hinblick auf das Gebot der Chancengleichheit der Parteien (S. 4). In Ermangelung einer zweiten Liste kommt eine solche Verrechnung z.B. für die CSU nämlich nicht in Betracht.
Dieser Versuch einer verständlichen Erklärung nur eines Reformaspektes macht auch ein weiteres Problem besonders deutlich: Die zunehmende Komplexität des Wahlrechts entwickelt einen entdemokratisierenden Effekt, weil ein Großteil der BürgerInnen nicht mehr nachvollziehen kann, was ihre Stimmen bewirken. Die beschlossene Reform verstärkt diesen Effekt schon ohne, dass dem Wähler Problematiken im Hinblick auf das Gebot der Normenklarheit (S. 4 f.), die selbst Fachexperten nachhaltig beschäftigen, bewusst sind.
Eine alte Bekannte: Die Gefahr des negativen Stimmgewichts
Die dritte Änderung sieht eine Tolerierung von drei unausgeglichen Überhangmandaten vor, die nicht unerhebliche verfassungsrechtliche Bedenken hervorruft. Eine Verletzung der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien liegt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts zwar erst dann vor, wenn das ausgleichslose Anfallen von Überhangmandaten in einem Umfang erfolgt, der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufhebt. Dieser Charakter sei dann noch gewahrt, wenn die Zahl der Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten (15) nicht überschreite. Ein bereits 2008 vom Gericht gerügtes negatives Stimmgewicht, d.h. ein Mandatszugewinn trotz eines Verlustes an Zweitstimmen oder ein Mandatsverlust trotz Stimmzugewinns, erscheint jedoch durch die beschriebene Änderung, unabhängig von dieser Grenze, nicht unwahrscheinlich (S. 7 f.). Diese Möglichkeit widersinniger Ergebnisse verletzt die Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie die Chancengleichheit der Parteien.
Als problematisch erscheint zudem die Institutionalisierung dieser unausgeglichenen Überhangmandate. Die erwähnte Entscheidung aus 2012 bezog sich auf wahlsystembedingte Nebenfolgen (Rn. 85), also ungewollte und unausweichliche Überhangmandate und nicht auf bewusst politisch in Kauf genommene (S. 6). Selbst wenn das Gericht also an der recht arbiträren Zahl (vgl. Rn. 144) von 15 festhält, verletzt der bewusste Einsatz, als willkürliche Verzerrung des Zweitstimmenproporzes, die Wahlrechtsgleichheit sowie die Chancengleichheit der Parteien (S. 7 f.). Auch das Anliegen, den Bundestag durch eine Verkleinerung funktionsfähig erhalten zu wollen, kann diese erheblichen Eingriffe im Hinblick auf die marginale Wirkung dieser Änderung (S. 67 f.), die möglicherweise nur zu einer Verkleinerung von weniger als zehn Abgeordneten führt, nicht rechtfertigen.
Eile mit Weile
Angesichts der zeitlichen Nähe zur Wahl im Herbst erscheint effektiver Rechtsschutz, trotz der dargestellten Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags, auch im Wege einer teilweisen Vorwegnahme der Hauptsache, nur einstweilig realistisch. Die Bundestagswahl an sich könnte nachträglich ohnehin ausschließlich über ein Wahlprüfungsverfahren angegriffen werden. Als ultima ratio erfolgt in diesem Verfahren die Ungültigkeitserklärung der gesamten Wahl. Dies setzt einen erheblichen Wahlfehler von solchem Gewicht voraus, dass ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich erscheint (Rn. 135). Selbst im unwahrscheinlichen Falle eines solch drastischen Schrittes müsste der auf Grundlage eines ungültigen Wahlgesetzes zusammengesetzte Bundestag für die Wiederholung der Wahl ein neues Bundeswahlgesetz beschließen. Dies stellt mithin keinen ausreichenden Rechtsschutz dar (vgl. S. 62 f.). Daher lohnt ein Blick auf den gleichzeitig eingereichten Antrag, der auf die Außervollzugsetzung der neuen Regelungen noch vor dem 26.09.2021 gerichtet ist.
§ 32 BVerfGG soll nur eine vorläufige Regelung bezwecken. Die erläuterten Erfolgsaussichten in der Hauptsache bleiben im Eilverfahren grundsätzlich unberücksichtigt. Soweit das Hauptsacheverfahren, wie vorliegend, weder offensichtlich unzulässig noch offensichtlich unbegründet ist, kommt es zu einer besonderen Art der Folgenabwägung. Es wird ausschließlich geprüft, in welcher Konstellation die Nachteile überwiegen: Sind die Nachteile größer, wenn einstweiliger Rechtsschutz versagt wird und sich die Hauptsache als begründet herausstellt, oder sind sie größer, wenn Schutz gewährt wird, die Hauptsache aber unbegründet ist. Will man diese Doppelhypothese nun ausfüllen, so bleibt festzuhalten, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung vorliegend deutlich weniger nachteilig ist. Zwar greift das Gericht in die Zuständigkeit des Gesetzgebers ein, dies jedoch nur moderat, da nur die bevorstehende Wahl betroffen wäre. Zudem beziehen sich die angegriffenen Regelungen allein auf die Berechnung des Ergebnisses und nicht auf den organisatorischen Teil im Vorfeld der Wahl oder die Stimmabgabe selbst (S. 66 f.). Ein gegenteiliges Verhalten hingegen könnte das Vertrauen in die Wahl als Kernelement eines demokratisch verfassten Staates erheblich beschädigen (S. 24; S. 65).
Fazit
Diese Reform steht verfassungsrechtlich auf tönernen Füßen und verfehlt zudem ihr Ziel, eine deutliche Verkleinerung des Bundestages herbeizuführen (S. 5). So hätten Tolerierung und Kompensation i.S.d. Reform z.B. bei der Wahl 2017 nur eine Ersparnis von bis zu 27 Abgeordneten gebracht (S. 7). Berechnungen zeigen sogar, dass die Anwendung des reformierten Wahlrechts nun mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sogar zu einer Vergrößerung des Bundestages führen würde (S. 24).
Verlierer dieser teilweise bewusst verzögerten Irrfahrt ist im Ergebnis das Ansehen der Politik und der parlamentarischen Demokratie insgesamt, das sich durch Pandemiewellen ohnehin in unsicherem Fahrwasser befindet. Ein rettender Hafen könnte die nach der Wahl vorgesehen Reformkommission sein.
Zitiervorschlag: Ralf Michael Gitzen, Odyssee im Wahlrecht, JuWissBlog Nr. 51/2021 v. 19.05.2021, https://www.juwiss.de/51-2021/.
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.