VON CHRISTIAN DJEFFAL
Die Einheit von Wissenschaft und Lehre bedeutet für die junge Wissenschaft im öffentlichen Recht oft, jungen Studierenden die Grundlagen der juristischen Falllösungstechnik beizubringen. Neben einigen „Gutachtenstilblüten“ liest man dabei immer wieder einen gemeinen Fehler, der es nicht selten auch in Examensklausuren schafft: Nachdem ein Rechtsproblem gesehen und verschiedene Rechtsansichten zu diesem Thema referiert wurden, wird eine Ansicht zur herrschenden Meinung erklärt und ohne weitere Diskussion zu Grunde gelegt. Neben der Abwesenheit jeglicher Argumentation kommt es nicht selten vor, dass überhaupt nicht nachvollziehbar ist, ob es sich überhaupt um die herrschende Meinung handelt.
Die ganze Tragik offenbart sich darin, dass Studierende zwar ein Rechtsproblem richtig erkennen und sogar oft noch verschiedene Lösungsmöglichkeiten parat haben. Statt sich aber selbständig irgendein naheliegendes Argument zu überlegen, werden die guten Ansätze in ihr Gegenteil verkehrt, indem das aufgeworfene Rechtsproblem einfach übergangen wird. Das liest sich nicht selten als würde das eigene Unwissen auf dem Präsentierteller serviert. Was Studierende zu einer solchen selbstverletzenden Taktik bewegt, habe ich bis heute nicht verstanden; dann werden Zweifel geweckt, ob der/die AutorIn „das Recht mit Verständnis erfassen und anwenden kann“, was z.B. § 2 II JAG NRW als Ausbildungsziel für die erste juristische Prüfung formuliert.
Oft entfährt den KorrektorInnen, die sich Haare raufend den Rotstift zücken, der Satz: „Die herrschende Meinung ist kein Argument!“ Diese Aussage geht aber nach meinem Dafürhalten wieder etwas zu weit. Daher möchte ich einige Thesen und Überlegungen, die ich in einem didaktischen Artikel erarbeitet habe, hier zur Diskussion stellen (alle Belege finden sich im verlinkten Artikel).
1. Die herrschende Meinung ist ein Argument.
Von einer herrschenden Meinung kann man dann sprechen, wenn eine Meinung von einer deutlichen Mehrheit in Literatur und Rechtsprechung nicht nur vertreten, sondern auch als grundsätzlich richtig angenommen wird, und andere Stimmen nur am Rande wahrgenommen werden. Häufig entspricht dann die herrschende Meinung der aktuellen Rechtslage, so dass ihre Konsequenzen schon hinreichend bekannt sind. Das könnte auch durch den Status-quo-Effekt erklärt werden: der bezeichnet, dass Menschen disproportional oft den bisher erreichten Zustand perpetuieren und seltener für Änderungen plädieren, auch wenn es Grund für Veränderungen gibt. Beim Schreiben muss dem/der Argumentierenden klar sein, dass die Leser in der Mehrheit also dieser Meinung anhängen. Das reicht für sich genommen zwar nicht aus um einen Meinungsstreit zu entscheiden, es kann die Argumentation aber wesentlich beeinflussen: Wer sich auf die herrschende Meinung beruft, kann in der Regel damit rechnen, dass er mit geringem Argumentationsaufwand zu einer vertretbaren Lösung kommt, da die Argumente oft hinlänglich bekannt und akzeptiert sind.
Wer gegen die herrschende Meinung argumentiert, wird mehr Aufwand betreiben müssen um die gängigen Argumente zu entkräften und mit eigenen zu überzeugen. Wenn man von einer herrschenden und einer Mindermeinung sprechen kann, ist das also zumindest ein Indiz für die Verteilung der Argumentationslast. Natürlich kann man sich auch gegen die herrschende Meinung stellen, sich manchmal sogar besonders dadurch auszeichnen, sicher geglaubtes Wissen zu erschüttern. Dabei sollte man aber auf seine zeitlichen und argumentativen Ressourcen achten und große Sprünge nur im entsprechenden Publikationsformat wagen. Einer unbestätigten Legende zufolge hat Claus Roxin seine äußerst einflussreiche und berühmte Tatherrschaftslehre im Rahmen einer Klausur entwickelt und erstmalig vertreten, jedoch zum Missfallen seines Korrektors.
2. Schon die Feststellung der herrschenden Meinung ist ein wertender Prozess.
Herrschende Meinungen sind nicht in Stein gemeißelt. Sie können zu allgemeinen Meinungen aufsteigen, wenn der Widerstand aufgegeben wird, oder abnehmen und zur überwiegenden oder sogar zur Mindermeinung absteigen. Ob allerdings eine herrschende Meinung vorliegt, dafür gibt es keine festen Kriterien. Abgestellt wird auf das quantitative Verhältnis der Äußerungen und qualitative Kriterien wie die Autorität des Autors oder der Publikationsform. Eine Rolle spielen kann auch, wie lange die entsprechenden Äußerungen zurückliegen. Ob eine bestimmte Meinung herrschend ist, ist das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses. Der Umstand kann durchaus umstritten sein. Die Darstellung des Diskussionsstands in einer bestimmten Weise wirkt aber noch weiter als bloß auf die argumentative Gewichtung des Meinungsstreits.
3. Die Darstellung eines Meinungsstreits hat Ähnlichkeiten zur Diskursanalyse.
Die Darstellung einer Rechtsfrage anhand von Meinungen und deren Gewichtung als herrschende Meinung und Mindermeinung ist Ausdruck eines gewissen Rechtsverständnisses; sie gleicht insofern einem diskursanalytischen Vorgang. Das Bundesverfassungsgericht definiert den Begriff der Meinung wie folgt: „Tatsachenbehauptungen werden durch die objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Wirklichkeit charakterisiert und sind der Überprüfung mit Mitteln des Beweises zugänglich (vgl. BVerfGE 94, 1 <8>). Meinungen sind dagegen durch das Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt (vgl. BVerfGE 85, 1 <14>).“ (BVerfG, 1 BvR 2979/10 vom 17.9.2012, Absatz-Nr. 25). Damit erfasst das Bundesverfassungsgericht auch den normalen Sprachgebrauch in seinem Kern: Die Kennzeichnung als Meinung relativiert die Aussage, sie hat also gerade keine „objektive Beziehung“ zur „Wirklichkeit“. Wenn wir etwas als Meinung kennzeichnen, drücken wir damit aus, dass keine der Äußerungen einen absoluten Wahrheitsgehalt in sich trägt. Natürlich kann man eine Rechtsfrage auch anders präsentieren und etwa von verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten sprechen um eine Möglichkeit anschließend zur einzig richtigen zu küren. Spricht man aber von Meinungen, dann hat jede und keine Meinung den Anspruch auf Richtigkeit.
Die Meinung wird aber nicht nur als solche bezeichnet, sondern in ein hierarchisches Verhältnis gebracht: eine Meinung herrscht. Darin kann man eine Beobachtung des rechtlichen Diskurses sehen, in der auch die Herrschaftsverhältnisse angegeben werden. Die herrschende Meinung prägt das allgemeine Verständnis, sie – so könnte man sagen – ist paradigmatisch. Bis hierhin hat die Erörterung des Meinungsstreits den Charakter einer Diskursanalyse, wie sie in vielen Geistes- und Sozialwissenschaften angewandt wird. Die verschiedenen Standpunkte werden dargestellt und verglichen. Wenn der Jurist aber entscheidet und selbst argumentativ tätig wird, verlässt er den Status als Beobachter und wird selbst Teil des Diskurses.
Diese schlaglichtartigen Erörterungen, die wie oben erwähnt andernorts ausgeführt und belegt sind, zeigen, dass die Einkleidung einer Rechtsfrage als Meinungsstreit viele Resonanzebenen hat, die über eine bloße kunstgerechte Verwendung im Gutachten hinausgehen. Streitentscheide auf diese Art und Weise darzustellen sagt etwas über das Rechtsverständnis aus. Diese Thesen würde ich hier gerne zur Diskussion stellen.
Christian Djeffal promoviert an der Humboldt-Universität Berlin.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Ja, Christian Djeffal, es ist notwendig, „Gedanken zur herrschenden Meinung“ zu veröffentlichen. Sie führen dann zu einer Auseinandersetzung mit der „herrschenden Meinung“, wenn mit ihnen zu dieser nicht nur „Meinung“ („Ansicht“) geäußert wird.
Eine Auseinandersetzung mit „herrschende Meinung“ setzt voraus ein gleiches Verstehen, was damit bezeichnet wird (gemeint ist). „Meinung“ als ausgedrücktes Verstehen/ Verstandenes.
Das Verstandene „herrscht“ dann, wenn es Verstehen beherrscht, wenn es allgemein („von einer deutlichen Mehrheit“) als Verstandenes gilt, mit diesem Verständnis Wortekonstrukte und Aussagen gebildet werden.
„Die herrschende Meinung prägt“ das Verstehen und herrscht als Verständnis. Eine unabdingbare Notwendigkeit zur Sicherung des Zusammenlebens. Gefährdet aber das herrschende Verständnis das Zusammenleben, wird es damit nicht mehr gesichert, „widerspricht“ die „Wirklichkeit“ ihm, dann muss es überwunden werden.
Eine Auseinandersetzung mit dem herrschenden Verständnis bedingt also eine Auseinandersetzung mit dem Verstehen das, was als „Wirklichkeit“ bezeichnet wird, mit dem Erkenntnis-Widerspruch des herrschenden Verständnisses dazu.
Ihnen wünsche ich Mut zu weiteren Auseinandersetzungen.
Die Kernaussaage zum Thema enthalten die Worte:
„Nachdem ein Rechtsproblem gesehen und verschiedene Rechtsansichten zu diesem Thema referiert wurden, wird eine Ansicht zur herrschenden Meinung erklärt und ohne weitere Diskussion zu Grunde gelegt. Neben der Abwesenheit jeglicher Argumentation kommt es nicht selten vor, dass überhaupt nicht nachvollziehbar ist, ob es sich überhaupt um die herrschende Meinung handelt.“
Mit „herrschende Meinung“ ist eine gefühlte relative Dominanz einer unter den feststellbaren publizierten Meinungen zu dem Thema gemeint.
Da die weitaus meisten Juristen zu den weitaus meisten Themen überhaupt nicht publizieren, macht die Zahl der Autoren, die eine „herrschende“ Meinung tragen, selten mehr als 1 % der relevanten Sachkundigen, nämlich der Juristen, aus.
Mit der mit „herrschend“ reklamierten Dominanz ist also niemals eine demokratischc legitimierende Mehrheit gemeint – falls man denn das Publikationsverhalten der Juristen überhaupt als einen Vorgang demokratischer Meinungsbildung interpretieren wollte.
Die Moral von der Geschicht‘:
Wer in einer juristischen Ausbildung subsumieren gelernt hat, kann und wird seine Meinung unmittelbar aus seiner Subsumtion unter das Gesetz gewinnen.
Wer seine Meinung nicht findet, ohne die Meinung anderer studiert zu haben, ist für juristische Berufe, insbesindere den Richterberuf, ungeeignet. Denn der Richter, der statt des Gesetzes die Fehler seiner Kollegen anwendet, verstößt gegen Art. 20 Abs. 3 GG.