Von NICOLAS HARDING
In der Debatte um die von der Berliner Versammlungsbehörde verhängten Untersagungen für die geplanten Corona-Demonstrationen haben sich verschiedene Amtsträger und Politiker in die Diskussion eingebracht (ein guter Überblick findet sich im Tagesspiegel). Die Äußerungen des Berliner Innensenators Andreas Geisel stachen besonders heraus. Der Kopf der Berliner Polizei und Versammlungsbehörde sagte zum einen, dass es sich bei der behördlichen Untersagung nicht um eine Entscheidung gegen die Versammlungsfreiheit, sondern vielmehr um eine Entscheidung für den Infektionsschutz handele. Zum anderen sei er nicht bereit hinzunehmen, „dass Berlin als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird.“ Während die erste Aussage – damit werden sich Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht allerdings zeitnah beschäftigen müssen – auf den ersten Blick einen sachlichen Untersagungsgrund zum Inhalt hat, tritt er mit seinen Befürchtungen eines Missbrauchs in ein rechtsstaatliches Fettnäpfchen. Der einzige Trost für Geisel kann nur sein, dass er bei weitem nicht der erste ist.
Schwesig, Wanka, Seehofer und DÜGIDA
Auf den ersten Blick haben Manuela Schwesig, Johanna Wanka und Horst Seehofer nur eines gemein: Sie bekleiden oder bekleideten allesamt ein Regierungsamt auf Bundesebene. Betrachtet man ihre politische und regierungsamtliche Aktivität etwas genauer, fällt auf, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit kritischen Äußerungen aller drei auseinanderzusetzen hatte. In den Fällen Wanka und Seehofer stellte das Gericht sogar fest, dass die Äußerungen bzw. deren ministerielle Verbreitung mit der parteipolitischen Neutralität ihres Amtes nicht vereinbar und damit rechtswidrig waren. Allerdings – und das könnte Geisels Motivation gewesen sein – stellte das bereits 1977 ausdrücklich fest, dass es von Verfassungs wegen her nicht verboten, sondern vielmehr geboten sei, dass Hoheitsträger Öffentlichkeitsarbeit und Bürgerinformation betreiben. Der mündige Bürger muss die Beweggründe amtlicher Entscheidungen kennen. Dies gilt auch für die Untersagung einzelner Versammlungen. An dieser Stelle unterscheidet sich die „Causa Geisel“ von den oben genannten Fällen. Dort ging es um parteipolitische Neutralität, hier geht es um Versammlungsfreiheit. Insofern erinnert der Sachverhalt ein wenig an den der sog. DÜGIDA-Entscheidung des zugrundeliegenden Sachverhalt, in dem sich der Düsseldorfer Oberbürgermeister – seines Zeichens Namensvetter Geisels – gegen eine DÜGIDA-Demonstration stellte und zu einer Gegendemonstration aufrief. Wenngleich es vor Gericht primär um die Frage der Einhaltung des Sachlichkeitsgebots ging, war auch dort die Versammlungsfreiheit von Bedeutung.
Grundrechtsbindung für jegliche Form staatlichen Handelns
Der Innensenator Berlins war bei seinen als amtlich zu qualifizierenden Äußerungen an das Grundgesetz und die darin enthaltenen Grundrechte gebunden. Dies ergibt sich aus Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes und im konkreten Fall zusätzlich aus Art. 36 der Berliner Landesverfassung. Dass sich die Grundrechtsbindung nicht auf rechtsförmiges Handeln von Hoheitsträgern beschränkt, steht im Hinblick auf die Vielseitigkeit hoheitlicher Erscheinungsformen mittlerweile weitestgehend unbestritten fest. Ist der Schutzbereich eines Grundrechts eröffnet, kann in kritischen Äußerungen eines Hoheitsträgers daher ein Grundrechtseingriff zu sehen sein. Wann dies der Fall ist, richtet sich im Einzelfall nach der Finalität und Intensität der getroffenen Äußerungen sowie nach dem in Rede stehenden Grundrecht. Vorliegend gilt es dabei zu berücksichtigen, dass die Versammlungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen besonders hohen Stellenwert hat und vom Bundesverfassungsgericht dank seiner Verflechtung mit der Meinungsäußerungsfreiheit als „schlechthin konstituierend für die freiheitlich demokratische Grundordnung“ qualifiziert wird.
„Bühne für Corona-Leugner“
Die Äußerungen des Berliner Innensenators sind unter zwei Gesichtspunkten kritisch zu sehen. Zum einen scheint Andreas Geisel seinen Aussagen ein verzerrtes Grundrechts- und Demokratieverständnis zugrunde zu legen. Indem er – unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Untersagung in der Sache – davon spricht, Corona-Leugnern keine Bühne geben zu wollen, beraubt er sie ihrer grundrechtlichen Versammlungsfreiheit. Die auf einer Versammlung vertretenen Ansichten und getätigten Aussagen sind vom Schutzbereich der Freiheit erfasst, sofern dadurch nicht gegen bestehende Gesetze verstoßen wird. Dass die Gerichte dazu bereit sind, diesen Schutz effektiv durchzusetzen, haben ihre Entscheidungen der letzten Jahre zu sog. Flashmobs gezeigt. Eine Versammlung zu untersagen, weil dort objektiv falsche und bei gesundem Menschenverstand nicht nachvollziehbare Ansichten vertreten werden, ist mithin schlichtweg rechtswidrig und äußerst kritisch zu sehen. Nicht ohne Grund schützt Art. 5 Abs. 1 Satz 3 des Grundgesetzes ausdrücklich vor staatlicher Zensur. Die Aussagen des Innensenators bewegen sich in diese Richtung.
Die innere Versammlungsfreiheit
Zum anderen gilt es, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur sog. inneren Versammlungsfreiheit zu berücksichtigen. Diese beschreibt die innere Komponente der Versammlungsfreiheit, die sich am ehesten mit der individuellen Motivation, an einer Versammlung teilzunehmen, beschreiben lässt. Sie hat eine Ausstrahlungswirkung in das Vorbereitungsstadium, sodass der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit bereits im Vorfeld einer Versammlung eröffnet sein kann. Wird staatlicherseits auf die Teilnahme der Versammlung eingewirkt, indem Überwachungs- oder Einschüchterungsmaßnahmen vorgenommen werden, kann ein Eingriff in die innere Versammlungsfreiheit potenzieller Versammlungsteilnehmer gegeben sein (eindrücklichstes Beispiel dafür ist wohl der als Eingriff gewertete Flug eines Kampfjets über eine stattfindende Versammlung). Konsequenterweise muss dies auch für Äußerungen gelten, die von einem Hoheitsträger im Vorfeld einer Versammlung getätigt werden. Ihnen kann im Einzelfall durch die Rezeption in der Bevölkerung eine diffamierende Wirkung zukommen, die als mittelbar-faktischer Eingriff zu werten ist. Auch hier ist die neben der Eingriffsintensität auch die Finalität des Informationshandelns von Bedeutung. Wird der Einzelne dazu gezwungen, seine Teilnahme an der Versammlung zu überdenken, weil er staatlicherseits bewusst als Corona-Leugner oder gar Reichsbürger eingestuft wird und befürchten muss in der Bevölkerung zurückgewiesen zu werden, ist von einem Eingriff in die innere Versammlungsfreiheit auszugehen, der keiner Rechtfertigung zugänglich ist.
Auch wenn im Hinblick auf das Verbot der Demonstration das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, steht fest, dass die Äußerungen des Innensenators den Bereich des rechtlich Zulässigen verlassen haben.
Zitiervorschlag: Harding, Nicolas,Geisels Äußerungen: Zwischen Kurzschluss und Zensur, JuWissBlog Nr. 111/2020 v. 29.8.2020, https://www.juwiss.de/111-2020/.
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3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Man wünscht dem Autor, dass er ein wenig mehr Christoph Möller lesen würde und sich die Gegenmeinungen zu diesem strengen Verständnis staatlicher Öffentlichkeitsarbeit mal anhören würde.
Mir sind die Beiträge von Herrn Möllers durchaus bekannt und ich würde sogar behaupten, dass ich ihm in vielerlei Hinsicht zustimme. Hinsichtlich dieses Beitrages erkenne ich jedoch nicht ganz, worin Sie ein „strenges Verständnis“ erkennen wollen. Die innere Versammlungsfreiheit hat das BVerfG im Zusammenhang mit anderen informellen Handlungsformen der Verwaltung entwickelt und ich habe mich lediglich dafür ausgesprochen, dies auf Äußerungen im Vorfeld von Versammlungen zu übertragen. Der zweite Kritikpunkt hat m.E. ebenfalls wenig mit Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zu tun: Dass sich auch „Querdenker“ auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit stützen können, wird meines Wissens nach von niemandem bestritten – es gerät nur bisweilen in Vergessenheit…
Lieber Herr Harding,
vielen Dank für Ihren wichtigen Beitrag.
Ich teile Ihre Rechtsauffassung dazu zu 100 % und bin erschrocken darüber, zu welchen Methoden gegriffen wird, um einen notwendigen Diskurs in unserer Gesellschaft vollends zu unterbinden.
Zusätzlich fühle ich mich durch die Aussage Herrn Geisels persönlich angegriffen und beleidigt, da auch ich als Teilnehmerin der Demonstration unter seine Definition „Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten“ falle.
Allerdings bin ich weit entfernt von o.g. Gruppierungen und sehe mich zudem als Anwältin verpflichtet, dem zunehmenden Abbau unseres Rechtsstaats entgegen zu treten.
Bitte weiter so!