Am 17.10.2020 fanden in Neuseeland Parlamentswahlen statt, bei denen der bisherigen und auch zukünftigen Premierministerin Jacinda Ardern ein Erdrutschsieg gelang. Zudem waren die diesjährigen Parlamentswahlen mit zwei Referenden verbunden, deren Ergebnis in Kürze bekanntgegeben werden soll. Somit stand Neuseelands Demokratie, die sich stets als reformfreudig und modern präsentiert, abermals im Rampenlicht. Doch wird Neuseeland diesem Selbstbild auch in Zukunft gerecht werden und ist Neuseelands Demokratie tatsächlich moderner und vielleicht sogar demokratischer als andere westliche Demokratien?
Mehr Demokratie im Parlament?
Klare Sieger der Wahl sind Ardern und die Labour Party, Neuseelands demokratisch sozialistische Partei, die ca. 49 % der Wählerstimmen bekamen. Dieser beispiellose Sieg ist Medien zufolge auf die Coronapolitik der Regierung unter Ardern zurückzuführen, welche den Wahlen in Neuseeland auch ihren Namen gab: „Covid election“. Die konservative National Party – vormals über Jahre stärkste Partei – verzeichnete hingegen einen erheblichen Stimmenrückgang. Damit stehen der Labour Party in Zukunft mehr als die Hälfte der Sitze im Parlament zu und sie ist nicht mehr – wie bisher – auf die Unterstützung anderer Parteien angewiesen. Eine Mehrheitsregierung ist jedoch – im Vergleich zu einer Koalitionsregierung – meist nicht sonderlich förderlich für den politischen Diskurs und Kompromiss im Parlament. Die im Parlament gelebte Demokratie könnte hierunter leiden.
Im Rückblick: Nach den letzten Parlamentswahlen reichten die Stimmen von Labour bei weitem nicht aus, was zu einer Koalition mit New Zealand First – Neuseelands populistischer und nationalistischer Partei – führte, um schließlich eine Minderheitsregierung zu bilden, die von der Green Party abgesegnet wurde (sog. „convidence and supply“). Aus deutscher Sicht mag dieser politische Zusammenschluss durchaus verwundern. Was die National Party angeht, so ging sie aus der Wahl 2017 als stärkste Partei hervor. Diese politische Konstellation führte etwa bei umweltpolitischen Themen zu aufgeheizten politischen Diskussionen und die hieraus resultierenden Gesetze waren ein Kompromiss zwischen fast allen im Parlament vertretenen Parteien. Derartige Kompromisse wird man in Zukunft wohl nicht mehr sehen. Doch dasselbe Szenario könnte sich bald auch in vielen Demokratien Europas – in welchen derzeit weit überwiegend Koalitionsregierungen amtieren – abspielen, denn in Neuseeland hat sich wohl lediglich bestätigt, was sich Hochrechnungen zufolge etwa auch in Deutschland abzeichnet: Die Coronakrise schafft für die Allgemeinheit neues Vertrauen in die federführenden Politiker.
Dass in Neuseeland alle drei Jahre – und somit häufiger als in fast allen anderen westlichen Demokratien – gewählt wird, dürfte einer etwaigen Verfestigung der Macht Arderns allerdings entgegenwirken. Wünscht man sich eine kürzere Legislaturperiode auch für den deutschen Bundestag, so ist jedoch zu bedenken, dass Neuseeland – v.a. gemessen an seiner Bevölkerung – ein vergleichsweise kleines Land ist, dessen weltpolitischer Einfluss gering ist. Eine kürzere Wahlperiode ist schließlich stets mit einer verminderten Arbeitsfähigkeit der Regierung verbunden, was im föderalistischen Deutschland durchaus problematisch wäre.
Mehr Demokratie durch Referenden?
Neben dem Stimmzettel zur Parlamentswahl gab es in Neuseeland diesmal noch einen Stimmzettel zu zwei Referenden („Referendums Voting Paper“), auf welchen die Wahlberechtigten zusätzlich über die Legalisierung des persönlichen Cannabiskonsums, -besitzes und -verkaufs sowie über die Sterbehilfe – bzw. für oder gegen zwei Gesetze zu diesen Themen – abstimmen konnten. Ein solches Mittel der direkten Demokratie wird allseits durchaus als modern wahrgenommen und positiv aufgefasst. Auch als Deutscher fühlt man sich schnell an die Volksentscheide der Schweiz erinnert. In Deutschland selbst hingegen ist ein solches Vorgehen auf Bundesebene nach geltendem Recht nicht möglich. Volksentscheide können hier nur über eine Neugliederung des Bundesgebietes abgehalten werden. Die Reformationsbedürftigkeit dieser Rechtslage ist ein Thema für sich. Jedenfalls lässt auch die kürzlich verabschiedete Wahlrechtsreform eine Integration von Elementen direkter Demokratie vermissen. Vor allem bei sogenannten Gewissensentscheidungen scheint ein Mittel direkter Demokratie den Willen der Bevölkerung besser widerspiegeln zu können, denn hier sind die Abgeordneten im Bundestag ohnehin von ihrer Fraktionsdisziplin befreit.
Doch ob dieser Ansatz im konkreten Fall auch in Neuseeland überzeugen kann, ist fraglich. Zunächst ist zu beachten, dass es um die Abstimmungen zu zwei Gesetzen („End of Life Choice Act 2019“ und „Cannabis Legalisation and Control Bill“) geht. Diese werden wohl nur die wenigsten Wähler tatsächlich gelesen haben. Bei näherer Betrachtung sind die Gesetze mit ihren vielen Einzelheiten und Details durchaus komplex. So ist etwa unter anderem das, was man in Deutschland indirekte Sterbehilfe nennt, bereits erlaubt; somit geht es im „End of Life Choice Act 2019“ nur um solche direkten Eingriffe, die mit der Absicht erfolgen, den Tod zu bringen. Was das Cannabisreferendum angeht, so gibt es mehrere Grenzwerte und Ausnahmen, die sich der Wähler bewusst hätte machen sollen. Hinzu kommt, dass es zur Legalisierung selbst nur wenige empirische Daten anderer Länder gibt, was zu Kritik an den vielen Grauzonen des „Cannabis Legalisation and Control Bill“ führte. Zwar wurde der Konsum von Cannabis etwa bereits 2018 in Kanada legalisiert. Welche Auswirkungen dies auf etwa die Bevölkerung oder den Schwarzmarkt hat, wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Des Weiteren bedarf es wohl einer persönlichen, tieferen Auseinandersetzung mit den Themen, um eine gewissenhafte Entscheidung treffen zu können. Doch inmitten einer Pandemie und einer Parlamentswahl zu Zeiten von Covid-19 scheint eine solche Auseinandersetzung wohl nur schwer möglich gewesen zu sein. Ein Herunterbrechen auf eine Ja-/Nein-Frage wird den komplexen Themen jedenfalls dann nicht gerecht, wenn nicht aktiv in besonderem Maße für Aufklärung gesorgt wird. Die besagten beiden neuseeländischen Gesetze wurden von der Politik jedoch kaum anders an die Öffentlichkeit herangetragen, als andere Gesetze. Zumindest in Sachen Aufklärung ist der deutsche Ansatz hier durchaus zu begrüßen. So wird etwa die gesellschaftliche Debatte über das Recht auf einen selbstbestimmten Tod vom Ethikrat mit öffentlicher Beteiligung (und über Live-Stream) diskutiert.
Schlussbetrachtung
Ob Neuseeland demokratischer ist als andere Demokratien, muss sich wohl in erster Linie daran messen lassen, ob und wie die Demokratie in der Praxis gelebt wird. Im neuseeländischen Parlament selbst stand eine Kompromissfindung unter Einbeziehung aller Parteien an der Tagesordnung. Deren Weiterbestehen ist nach der jetzigen Mächteverschiebung fraglich. Was die Referenden betrifft, so fördern diese die Einbeziehung des Volkes und folglich die Demokratie als Teilhabe des Volkes an der Machtausübung. Die Anwendung im konkreten Fall und zum jetzigen Zeitpunkt muss allerdings kritisch betrachtet werden. Im Ergebnis ist das demokratische System Neuseelands in der Praxis wohl nicht demokratischer als etwa das deutsche.
Zitiervorschlag: Philipp Semmelmayer ,Bessere Demokratie Neuseeland? – Aotearoas Parlamentswahlen und Referenden 2020, JuWissBlog Nr. 125/2020 v. 29.10.2020, https://www.juwiss.de/125-2020/.
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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
Neuseeland ist auf den Demokratieindex auf Platz 2 und wir erschreckender Weise nur auf Platz 16. Wie passt das mit ihren Text zusammen ?