Zwangsweise Untersuchung möglicher Träger von Infektionskrankheiten – (k)eine Besonderheit?

von JOHANNA DECHER

Johanna DecherIm Februar 2013 beschloss der Landtag des Landes Sachsen-Anhalt eine Vielzahl von Änderungen des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (SOG LSA). Dabei wurde auch § 41 Abs. 6 SOG LSA eingefügt, der eine Ermächtigung für die zwangsweise Untersuchung auf „besonders gefährliche Krankheitserreger“ enthält. Bereits bei Bekanntwerden des Gesetzentwurfs 2012 war diese Vorschrift in der Öffentlichkeit heftig kritisiert worden. Am 11. November entschied nun das Landesverfassungsgericht über die Norm. Die Entscheidung überzeugt im Ergebnis, lässt aber eine ausreichende Begründung und eine detaillierte Auseinandersetzung mit allen Problemen vermissen.

Angesichts dessen, dass ähnliche Vorschriften zu diesem Zeitpunkt in einigen anderen Bundesländern bereits in Kraft waren, erstaunt die heftige Reaktion, die die (geplante) Einführung in Sachsen-Anhalt hervorrief, zunächst. Wie bereits im Vorfeld angekündigt, stellten die Abgeordneten der Oppositionsfraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen einen gemeinsamen Normenkontrollantrag beim Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt.

Nachträgliche Überprüfung der Infektionswahrscheinlichkeit

Bevor die materielle Prüfung durch das LVerfG nachvollzogen werden soll, lohnt sich ein genauerer Blick darauf, welchen Zweck § 41 Abs. 6 SOG LSA verfolgt und wie dieser erreicht werden soll. Die Vorschrift soll ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs dem Schutz von Personen dienen, die einer besonderen Infektionsgefahr ausgesetzt waren, bspw. Polizeivollzugsbeamte und Rettungshelfer aber auch Opfer von Gewalt- und Sexualstraftaten. Die Vorschrift hat dabei insbesondere den Fall vor Augen, dass Polizisten bei der Festnahme einer Person von dieser gebissen werden oder sich Rettungshelfer an gebrauchtem Drogenbesteck verletzen. In diesen Situationen besteht die Gefahr einer Ansteckung mit besonders gefährlichen Infektionskrankheiten wie HIV, Hepatitis B oder Hepatitis C, wenn der Angreifer bzw. der Drogenkonsument damit infiziert ist.

Bei einer HIV-Infektion besteht in den ersten 24-72 Stunden nach dem Kontakt mit dem Erreger die Möglichkeit einer Postexpositionsprophylaxe (PEP) durch Einnahme spezieller Medikamente. Diese kann die Infektionsgefahr verringern oder den Verlauf der Krankheit erheblich abmildern, ist aber mit sehr starken Nebenwirkungen verbunden. Bei einem potentiellen Kontakt mit dem Erreger ist daher die Kenntnis des Betroffenen, ob eine Infektion mit HIV möglich war, relevant, um ggf. die PEP einzuleiten, da eine Infektion im eigenen Körper erst nach 12 Wochen nachweisbar und es zu diesem Zeitpunkt für prophylaktische Maßnahmen bereits zu spät ist. Ähnlich verhält es sich mit Hepatitis B, wo eine nachträgliche Impfung erfolgen kann.

Nach bisheriger Rechtslage waren die durch § 41 Abs. 6 SOG LSA geschützten Personen für die Einschätzung der Infektionswahrscheinlichkeit auf die freiwillige Mitwirkung des potentiell Infizierten angewiesen. Wenn dieser eine Untersuchung auf gefährliche Krankheitserreger ablehnte, blieb der Betroffene im Unklaren über die Möglichkeit einer Ansteckung. Er konnte daher die eigene medizinische Behandlung nicht einleiten, ohne dabei unnötige Gesundheitsbelastungen in Kauf zu nehmen. Hier setzt § 41 Abs. 6 SOG LSA an, indem die Vorschrift die zwangsweise körperliche Untersuchung einer Person ermöglicht, um ihren Infektionsstatus festzustellen.

Keine Ausnahme vom Richtervorbehalt

Das LVerfG bejaht die Verhältnismäßigkeit der Vorschrift in Bezug auf das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Datenschutzgrundrecht mit Verweis auf den für die Anordnung der Untersuchung geltenden Richtervorbehalt. Die Vorschrift sei nur insofern unverhältnismäßig, als nach § 41 Abs. 6 S. 2 i.V.m. § 41 Abs. 5 S. 4 SOG LSA bei Gefahr im Verzug eine Anordnung durch die Polizei ermöglicht werde. Die Verweisung auf § 41 Abs. 5 S. 4 SOG LSA sei daher verfassungswidrig und nichtig.

Diesem Ergebnis ist zuzustimmen, wenngleich das Urteil eine ausführliche Begründung vermissen lässt. Der Person, die sich ggf. infiziert haben könnte, ermöglicht die Untersuchung eine rasche Einleitung der erforderlichen Therapiemaßnahmen. Der grundsätzlich geltende Richtervorbehalt sorgt dabei für eine unabhängige und neutrale Kontrolle durch eine außenstehende Instanz. Zwar besteht in der Praxis nur eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass die von § 41 Abs. 6 SOG LSA geschützten Personen tatsächlich mit infizierten Personen in Kontakt treten, da bspw. die Anzahl der mit HIV infizierten Personen in Sachsen-Anhalt verschwindend gering ist. So ging das Robert-Koch-Institut 2013 von 1200 Infektionen aus, das entspricht etwa 0,05 % der Bevölkerung. Die kleine Zahl möglicher Anwendungsfälle spricht aber nicht grundsätzlich gegen die Angemessenheit der Norm. Zu beachten ist zusätzlich, dass § 41 Abs. 6 S. 1 SOG LSA den Zustand des möglichen Krankheitsüberträgers in die Abwägungsentscheidung einbezieht, um dessen Gesundheit nicht zu gefährden, und so auch dessen Belange berücksichtigt. Angesichts dessen, dass die geschützten Personengruppen, insbesondere Polizisten und Sanitäter, sich des Infektionsrisikos bewusst sein und entsprechende Vorsicht walten lassen sollten, erscheint die Regelung aber relativ weitgreifend. Hinzu kommt, dass § 41 Abs. 6 SOG LSA nicht voraussetzt, dass der Betroffene die Ansteckungsgefahr durch aktives Tun verursacht haben muss, sondern vielmehr auch bei Unfallopfern anwendbar ist. Angesichts der weitreichenden Eingriffsbefugnis ist daher die Anordnung durch den Richter zwingend geboten, um eine verfahrensmäßige Absicherung zu gewährleisten. Die Polizei ist dadurch gezwungen, die Gründe, die für die Anordnung sprechen, in einem gerichtlichen Verfahren vorzutragen. Aufgrund des Zeitfensters, das bspw. bei einer möglichen Infektion mit HIV für die Einleitung der PEP verbleibt, ist auch nicht ersichtlich, weshalb es notwendig sein sollte, der Polizei eine Eilkompetenz zuzugestehen, da rechtzeitig eine entsprechende Anordnung durch einen Richter erfolgen kann.

Häufung unbestimmter Rechtsbegriffe

Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe ist im Sicherheits- und Ordnungsrecht keine Seltenheit. Auffällig ist aber ihre Häufung in § 41 Abs. 6 S. 1 SOG LSA. Dies nahmen die Antragsteller zum Anlass, die hinreichende Bestimmtheit der Vorschrift in Frage zu stellen. Das LVerfG ging dabei nur darauf ein, wann „besonders gefährliche Krankheitserreger“ vorlägen, äußerte sich aber nicht dazu, welche „Tatsachen“ die Annahme rechtfertigen könnten, dass es zu einer Übertragung dieser Erreger „gekommen sein kann“.

Die Antragsteller greifen hier eine Sorge auf, die maßgeblich dafür verantwortlich war, dass der Gesetzentwurf schon 2012 in die Kritik geriet. Da man insbesondere als medizinischer Laie äußerlich nicht erkennen kann, ob eine Person mit besonders gefährlichen Erregern infiziert ist, birgt die Vorschrift in der Form die Gefahr von Stigmatisierungen. Befürchtet wird insbesondere, dass gegenüber sogenannten „Risikogruppen“, wie Homosexuellen, Drogenabhängigen, Obdachlosen oder Ausländern, im Einzelfall häufiger eine körperliche Untersuchung angeordnet werde, da nach wie vor die Ansicht verbreitet sei, dass insbesondere diese Personengruppen Träger von Infektionskrankheiten seien. Zu befürchten sei daher eine Diskriminierung einzelner Personen, da in der Praxis diskriminierende Kriterien als Tatsachen, die ein Infektionsrisiko indizieren, gewertet würden. Die Begründung des Gesetzentwurfs führt aus, dass von einer Infektion ausgegangen werden könne, wenn „bestimmte Umstände eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit begründen“. Worin diese „bestimmten Umstände“ liegen sollen, wird nicht deutlich. Zwar verbietet das Diskriminierungsverbot des § 6 Abs. 3 SOG LSA eine Anordnung der körperlichen Untersuchung allein aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, es ist aber nicht ersichtlich, anhand welcher Kriterien „von außen“ zu erkennen sein sollte, ob eine Person Träger einer gefährlichen Infektionskrankheit ist. An welchen – äußerlich erkennbaren – „Tatsachen“ die erhöhte Infektionsgefahr festgemacht werden kann, bedarf daher der Konkretisierung durch Verwaltung und Rechtsprechung. In ihrer Offenheit birgt die Ermächtigung sonst die Gefahr faktischer Diskriminierungen aufgrund des äußeren Zustandes einer Person und erinnert damit an das Problem des „racial profiling“ im Rahmen des § 22 Ia BPolG. Warum das LVerfG auf diese Frage nicht eingeht, um die Kriterien, anhand derer eine Infektionswahrscheinlichkeit bestimmt werden soll, festzulegen, ist daher in keiner Weise nachzuvollziehen. Es ist nun Sache der mit Anordnungen nach § 41 Abs. 6 SOG LSA befassten Richter, darauf zu achten, dass die Begründung das Untersuchungsbegehren zu tragen vermag, ohne dabei diskriminierend zu sein.

Sachsen-Anhalt ist kein Einzelfall

Wie bereits angedeutet, steht Sachsen-Anhalt mit der umstrittenen Regelung nicht alleine da. Die Einführung entsprechender Befugnisse wurde bereits auf der Innenministerkonferenz 2004 angeregt, ähnliche Regelungen enthalten bspw. § 53 Abs. 4 SOG M-V oder § 22 Abs. 4 Nds. SOG. Nur wenige Tage, bevor der Gesetzentwurf 2012 in die Kritik geriet, trat in Baden-Württemberg § 60 Abs. 4 PolG BW in Kraft, der die Anordnung einer zwangsweisen Untersuchung in die Zuständigkeit des Polizeivollzugsdienstes legt, ohne einen Richtervorbehalt überhaupt vorzusehen, sodass die Verhältnismäßigkeit der Vorschrift fraglich ist. Weshalb sich bisher kein anderes Landesverfassungsgericht mit der Problematik beschäftigen musste, ist nicht zu verstehen. Auch verwaltungsgerichtliche Entscheidungen zu den genannten Vorschriften sucht man vergeblich. Dies lässt zumindest darauf hoffen, dass sich in der praktischen Anwendung von § 41 Abs. 6 SOG LSA weniger Probleme ergeben als befürchtet.

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3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Zu § 60 Abs. 4 PolG BW und dem (damals geplanten) § 41 Abs. 6 SOG LSA hatte ich 2012 eine kurze Anmerkung im De-legibus-Blog veröffentlicht: http://blog.delegibus.com/2012/12/03/der-kontakt-des-polizisten-mit-der-nadel/

    Zum Richtervorbehalt: Ohne etwas über das sachsen-anhaltinische Verfassungsrecht sagen zu können, so scheint mir jedenfalls das Bundesverfassungsrecht keinen Richtervorbehalt für Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 GG zu kennen. Deshalb wird ja auch immer wieder diskutiert, den einfachrechtlichen Richtervorbehalt für die BAK-Bestimmung im Straßenverkehr abzuschaffen (in diesem Fall aus dem Gedanken, daß er in der Praxis fast nur eine leere Formalie ist, da Ermittlungsrichter ohnehin fast alles abnicken, was ihnen vorgelegt wird). Auch für die Zwangsuntersuchung durch das Gesundheitsamt sieht § 25 IfSG keinen Richtervorbehalt vor.

    Das LVerfG könnte die Frage der Erforderlichkeit eines nachträglichen Rechtsschutzes mit der des Richtervorbehalts irrtümlich vermischt haben.

    Antworten
  • Constantin Teetzmann
    9. Dezember 2014 13:10

    Liebe Johanna,
    ist nicht das Hauptproblem der Regelung aus Sachsen-Anhalt, dass die Kompetenz fehlt?
    Der Schutz gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten ist nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG konkurrierende Kompetenz, sodass keine Landeskompetenz bestand. Dementsprechend hat Baden-Württemberg auch in seinem § 60 Abs. 4 PolG BW nur die Zuständigkeit für die Anordnung von Untersuchungen nach § 25 Abs. 1 bis 3 IfSG auf den Polizeivollzugsdienst verlagert.
    Das Kompetenzproblem verschärft sich noch dadurch, dass § 41 Abs. 6 S. 2-3 SOG SA Zweckbindung und Löschung der Untersuchungsergebnisse ohne die Meldepflichten des Bundesrechts nach §§ 6 ff IfSG zu beachten.
    War all das nicht Teil der Diskussion in Sachsen-Anhalt?

    Grüße aus Freiburg
    Constantin

    Antworten
    • Johanna Decher
      10. Dezember 2014 17:03

      Lieber Constantin,

      in der Tat hatten die Antragsteller auch die formelle Verfassungsmäßigkeit von § 41 Abs. 6 SOG LSA angezweifelt und sich dabei auf die fehlende Gesetzgebungskompetenz gestützt. Das Landesverfassungsgericht hat dazu ausgeführt, dass das IfSG keine abschließende Regelung enthalte und daher der Landesgesetzgeber zur Normierung der Untersuchungspflicht befugt sei. Obwohl insbesondere §§ 16, 25 IfSG zu einzelfallbezogenen Maßnahmen ermächtigten, habe der Bundesgesetzgeber damit nicht weitere Einzelfallmaßnahmen ausschließen wollen. Das folgert das Landesverfassungsgericht daraus, dass das IfSG im Gegensatz zum Bundesseuchengesetz vor allem auf die Etablierung eines systematischen Informations- und Meldeverfahrens gerichtet sei. Darüber hinaus enthalte das IfSG an mehreren Stellen Rechtsverordnungsermächtigungen zugunsten der Länder, sodass der Bundesgesetzgeber hier erkennbar keine abschließenden Regelungen habe treffen wollen. Maßnahmen, die eine Heilbehandlung einer wahrscheinlich bereits infizierten Person ermöglichen sollen, seien damit erkennbar nicht vom Regelungsansatz des IfSG erfasst und demnach nicht als Regelungsgegenstand der Landesgesetzgeber ausgeschlossen.

      Liebe Grüße,
      Johanna

      Antworten

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