von DOMINIK ELSER
Die Schweiz hat am vergangenen Sonntag zum vierten Mal in diesem Jahr abgestimmt. Drei brisante Volksinitiativen lagen vor: eine Zuwanderungsquote, die Abschaffung eines Steuerrabatts für wohlhabende Ausländer_innen und verpflichtende Goldreserven für die Zentralbank. Nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative am 9. Februar 2014 schien die direkte Demokratie in einer Krise; symbolische Wutbürger-Entscheide schienen jederzeit möglich (Rafael Häcki und ich hatten auf dem JuWissBlog darüber diskutiert). Am 30. November kehrte so etwas wie Ruhe ein: Alle drei Vorlagen wurden deutlich abgelehnt.
Die JuWissBlog-Serie zu den Schweizer Abstimmungen berichtet wie immer über staatsrechtliche Eigenheiten und Pirouetten – dieses Mal: Wie sich der Gebrauch von Volksinitiativen verändert hat und was das für die schweizerische Demokratie heisst. Und warum man das Anliegen einer Volksinitiative mit „Weniger Menschen“ zusammenfassen musste, um es überhaupt für gültig zu erklären.
Die drei Vorlagen
Die Volksinitiative „Schluss mit den Steuerprivilegien für Millionäre (Abschaffung der Pauschalbesteuerung)“ wurde mit 59.2 % der Stimmen abgelehnt. Sie wollte den Art. 127 der Bundesverfassung (BV) über die Grundsätze der Besteuerung ergänzen um folgenden Passus: „Steuerprivilegien für natürliche Personen sind unzulässig. Die Besteuerung nach dem Aufwand ist untersagt.“ Aufwandbesteuerung heisst, dass die Lebenshaltungskosten und nicht das Erwerbseinkommen relevant sind. Die Pauschalbesteuerung greift ab einem „Aufwand“ von 400‘000 Franken. Die Ablehnung der Initiative heisst, dass es weiterhin den Kantonen überlassen ist, ob sie in ihrem Gebiet diese Steuerart vorsehen wollen oder nicht. Zur Zeit tun dies 21 Kantone.
Am meisten zu reden gab die sogenannte Ecopop-Initiative: Sie wollte die Zuwanderung in die Schweiz stark einschränken und das weltweite Bevölkerungswachstum bremsen, indem die Entwicklungshilfe stärker auf Familienplanung fokussiert. Der Initiative wurden intakte Chancen zugerechnet, weil sie die schwelende Zuwanderungsangst mit Umweltschutz und Wachstumskritik verband. Eine grosse, koordinierte Nein-Kampagne führte zu einem deutlichen Nein von 74.1 %. Dieses Ergebnis bedeutet nicht, dass die Schweizer Stimmbevölkerung ihren immigrationsskeptischen Kurs in Richtung internationaler Isolation aufgegeben hätte. Bedeutender als ein möglicher Meinungsumschwung dürfte gewesen sein, dass die SVP gegen die Initiative eintrat – wohl aus taktischen Überlegungen, um ihre im Februar angenommene Masseneinwanderungsinitiative als die vernünftige Variante der Zuwanderungsbeschränkung darstellen zu können.
Die dritte Vorlage „Rettet unser Schweizer Gold (Gold-Initiative)“ verlangte eine radikale Änderung der Schweizer Geldpolitik. Ein neuer Artikel 99a BV sollte festschreiben, dass die Zentralbank (Schweizerische Nationalbank SNB) mindestens 20 % ihrer Aktiven in Gold halten muss, und dass diese Goldreserven in der Schweiz zu lagern und unverkäuflich seien. Auch diese Initiative wurde abgelehnt, sehr deutlich sogar: Nur gerade 22.7 % stimmten für diesen Vorschlag.
Gültigkeit der Ecopop-Initiative: In dubio pro populo, aber gegen mehr Menschen
Die drei Volksinitiativen vom letzten Sonntag waren zwar politisch brisant, aber staatsrechtlich eher unproblematisch. Bis auf eine Ausnahme: Bei der Ecopop-Initiative gab die Gültigerklärung zu reden. Doch war nicht wie in letzter Zeit häufig die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht oder den Menschenrechten problematisch, sondern die Einheit der Materie (vgl. Art. 194 Abs. 2 BV). Diese Voraussetzung fliesst aus den politischen Rechten, die gemäss Art. 34 Abs. 2 BV „die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe“ schützen. Die Einheit der Materie ist verletzt, wenn verschiedene Bestandteile einer Vorlage in keinem genügenden sachlichen Zusammenhang zueinander stehen. Wenn jemand eine Teilfrage befürworten und eine andere ablehnen möchte, behindert dies die Äusserung des politischen Willens.
Über die Gültigkeit von Volksinitiativen befindet das Parlament (Art. 173 Abs. 1 und Art. 139 Abs. 3 BV). Es entscheidet alleine und letztverbindlich – die Gültigerklärung wird so von einer juristischen zur politischen Frage. Und jede Entscheidung, die als demokratiefeindlich angesehen werden könnte, wäre politisches Gift. Die Rechtsprechung hat diese Haltung in die Hilfsprämisse In dubio pro populo gegossen.
Wie war das bei der Ecopop-Initiative? Sie schlug einen Art. 73a BV vor, der zwei materielle Forderungen enthielt: „Die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz darf infolge Zuwanderung im dreijährigen Durchschnitt nicht um mehr als 0,2 Prozent pro Jahr wachsen.“ Und: „Der Bund investiert mindestens 10 Prozent seiner in die internationale Entwicklungshilfe fliessenden Mittel in Massnahmen zur Förderung der freiwilligen Familienplanung.“ Der sachliche Zusammenhang zwischen diesen Teilen ist zumindest auf die ersten paar Blicke nicht ersichtlich.
Worauf kommt es an? Initiativen können verschiedene Bestandteile erhalten; diese können in einer Zweck-Mittel-Beziehung stehen oder es können verschiedene Mittel sein, die demselben Ziel dienen. Diesen zweiten Fall bejahte die Bundesversammlung denn auch (siehe die Beratungsprotokolle des Ständerats und des Nationalrats). Das Ziel der Initiative sei es, das Bevölkerungswachstum einzuschränken – in der Schweiz wie in der ganzen Welt. Die Initiative machte in ihrem ersten Absatz denn auch eine Verbindung zwischen Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und der Einwohnerzahl und weitete diese Zahl auch auf andere Länder aus. Der Bundesversammlung reichte diese Verknüpfung. Sie befand sinngemäss, dass die zwei Teile der Initiative einem gemeinsam Ziel dienten: „weniger Menschen“.
Immer diese Initiativen…
Volksinitiativen sind nicht das einzige, was die direkte Demokratie der Schweiz ausmacht. Ebenso wichtige Instrumente sind die Referenden: die obligatorischen bei Verfassungsänderungen und die fakultativen bei einfachem Gesetzesrecht (siehe das Glossar). Doch in letzter Zeit sind die Volksinitiativen geradezu prägend. Es gibt immer mehr davon, und sie werden häufiger angenommen als auch schon: Seit 1891 das Initiativrecht auf Bundesebene eingeführt wurde, kamen 196 Volksinitiativen zur Abstimmung; die Hälfte davon seit 1990. Nur 22 davon wurden je angenommen – doch die Hälfte davon in den letzten 20 Jahren.
Volksinitiativen haben einen schweren Stand – und der vergangene Abstimmungssonntag verdeutlichte dies. Doch je mehr Initiativen zur Abstimmung gelangen, umso mehr werden auch angenommen.
Und wichtiger noch: Initiativen entfalten auch dann eine Wirkung, wenn sie abgelehnt werden. Sie erlauben das Agenda Setting. Eine eingereichte Initiative muss von Regierung und Parlament behandelt werden. Die Parteien müssen dazu Stellung beziehen. Die Vorlagen müssen zwingend zur Abstimmung gebracht werden. So erlaubt das Initiativrecht, dass Anliegen, die im parteipolitischen und parlamentarischen Prozess zu kurz kommen, in die politische Debatte eingebracht werden können.
Initiativen fordern den politischen Betrieb heraus – die Debattenqualität ist entscheidend
Diese Funktion der Volksinitiative wird gestärkt dadurch, dass ihr alle Sachfragen zugänglich sind. Die Schweizerische Bundesverfassung kennt kaum materielle Schranken, bekanntermassen nur das zwingende Völkerrecht (Art. 194 Abs. 2 BV). Auch Grundfesten der institutionellen Ordnung können hinterfragt werden – dieses Mal etwa hätte die Goldinitiative Stellung und Funktion der Schweizerischen Nationalbank radikal geändert.
Man mag sich darüber beklagen, dass Volksinitiativen immer wieder Umsetzungsprobleme schaffen und auch Systemumbrüche provozieren können. Man könnte sich in der Tat fragen, ob nicht gewisse Sachbereiche unzugänglich sein sollten für direkte Beeinflussung durch Volksbegehren. Oder ob man wenigsten die formellen Voraussetzungen erhöhen könnte – etwa die Anzahl nötiger Unterschriften.
Doch unabhängig davon, wie das Instrument genau aussieht, ist es Aufgabe der politischen Debatte mit Volksinitiativen umzugehen. Das erfordert, dass die Politik der Stimmbevölkerung zutraut, auch komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Dass die Konsequenzen eines Ja oder Neins aufgezeigt werden. Der letzte Sonntag hat gezeigt, dass dies möglich ist. Abstimmungskämpfe mögen viel Geld kosten, aber sie nützen der Demokratie ungemein: Politische Fragen sind Fragen, die alle etwas angehen, und auf die sich alle eine Antwort überlegen müssen. Die regelmässige Auseinandersetzung mit Sachfragen, gerade auch mit grundlegenden Elementen unserer Staatsordnung, fördert die politische Bildung.
[styledbox type=“general shaded“ ]Glossar der staatsrechtlichen Begriffe
Volksinitiative: Kommt zustande wenn 100‘000 Stimmberechtigte per Unterschrift innert 18 Monaten eine Teilrevision der Bundesverfassung verlangen (Art. 139 Abs. 1 BV). Die Initianten legen in der Regel einen ausformulierten Text vor („ausgearbeiteter Entwurf“, Abs. 2). Die zustande gekommene Initiative muss dem Volk unverändert vorgelegt werden; das Parlament empfiehlt sie zur Annahme oder Ablehnung (Abs. 5).
Teilrevision der Bundesverfassung: Kann vom Volk verlangt (siehe Volksinitiative) oder vom Parlament beschlossen werden (Art. 194 Abs. 1 BV). Zieht zwingend eine Abstimmung nach sich.
Obligatorisches Referendum: Zwingende Abstimmung über gewisse Vorlagen (Auflistung in Art. 140 BV). Häufigster Fall ist die vom Parlament beschlossene Teilrevision der Bundesverfassung. In diesem Fall ist ein Doppeltes Mehr nötig.
Fakultatives Referendum: Gewisse Vorlagen (Auflistung in Art. 141 BV) gelangen nicht zwingend zur Abstimmung. Häufigster Fall ist der Erlass bzw. die Änderung von Bundesgesetzen (Abs. 1 Bst. a). Das Referendum kommt zustande, wenn dies 50‘000 Stimmberechtigten innert 100 Tagen seit der amtlichen Veröffentlichung des Erlasses per Unterschrift verlangen; oder, wenn es in der gleichen Frist acht Kantone verlangen.
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