Aktuell bieten Fachgerichte einen einzigartigen Service der Justiz in Presseeilverfahren an: ein Expressticket nach Karlsruhe. Auf Grund der rechtlichen Ausgestaltung des Eilrechtsschutzes und der Verfassungsrechtsprechung landen presserechtliche Eilverfahren vorzüglichst gerne beim BVerfG, für dessen Anrufung der Rechtsweg entweder nicht auszuschöpfen (BVerfG, Beschl. v. 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 10 f.) oder schnell ausgeschöpft ist. Der Direktweg nach Karlsruhe rechtfertigt sich des Öfteren durch die Angewohnheit der Pressegerichte, im Eilrechtsschutz die prozessuale Waffengleichheit zu verletzen. Zuletzt traf es erneut das Landgericht Hamburg. Daher scheint die Zeit geboten, bevor einstweilige Anordnungen des BVerfG die Spruchkörperamtsstuben fluten, diesen Prozessökonomie-Highperformern mit einem Kurzbeitrag abzuhelfen, in der Hoffnung, dass der Grundsatz der Waffengleichheit seltener „bewusst und systematisch“ übergangen wird.
Waffengleichheit im Presserecht und § 937 ZPO
Schnelligkeit prägt das Presserecht. Der Umstand, dass eine Nachricht schnell an Aktualität verliert, prägt die Medienrechtspraxis (BVerfG, Urt. v. 08.02.1983 – 1 BvL 20/81, Rn. 34). Medien und Medienbetroffene sind auf zeitgemäße Klärung ihrer Rechtsverhältnisse angewiesen. Wie der EMGR es bereits sagte: news is a perishable commodity. Das Prozessrecht eröffnet in §§ 937 Abs. 2, 922 ZPO die Möglichkeit zu der begehrten Schnellentscheidung ohne Verhandlung durch Beschluss, insbesondere für den Fall der besonderen Dringlichkeit. Diese Dringlichkeit wird angenommen, wenn die zeitlichen Gegebenheiten drängen, dass auch die kurzzeitige Terminanberaumung nicht mehr abgewartet werden kann und der Zweck einer einstweiligen Verfügung die Inkaufnahme der Konfrontation der Gegenseite mit der gerichtlichen Entscheidung einfordert.
Aus dieser Presserechtsrasanz ergeben sich Verfahrenseigenheiten. Zu diesen zählt sowohl die übliche Abmahnung zuzüglich deren Ablehnung vor Einreichung des Verfügungsantrages, als auch die Möglichkeit der Präventivverteidigung durch eine Schutzschrift und ebenso die Urkundenzustellung von Anwalt zu Anwalt als Ausdruck rascher Entscheidungsumsetzung. In absoluten und daher streng begrenzten Ausnahmefällen kann sogar eine Anhörung der Gegenseite generell wegfallen (BVerfG, Beschl. v. 10.11.2022 – 1 BvR 1941/22, Rn. 20). Die presserechtstypischen Ansprüche wie der Gegendarstellungsanspruch, oder der quasinegatorische Unterlassungs- oder Beseitigungsanspruch zeichnen sich ebenso durch einen schnellen Verfahrensgang aus – so ist beim spezialgesetzlich normierten Gegendarstellungsanspruch die Eilentscheidung endgültig (so bspw. § 20 Abs. 3 S. 4 MStV, oder § 11 Abs. 4 S. 5 LPG NRW).
Dieses Schnellverfahrensgebaren steht unter dem Vorbehalt des Waffengleichheitsprinzips, welches aus Art. 20 Abs. 3, 3 Abs. 1 GG gewonnen wird. Die Waffengleichheit steht im Zusammenhang mit dem Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG und verpflichtet das Gericht, die Möglichkeit einzuräumen, alles Entscheidungserhebliche vorzutragen und Verteidigungsmittel geltend zu machen (BVerfG, Beschl. v. 15.06.2023 – 1 BvR 1011/23, Rn. 24). Maßgeblicherweise muss den Parteien die Argumentationsgelegenheit gewährt worden sein, um die bevorstehende Entscheidung zu beeinflussen (BVerfG, Beschl. v. 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 16). Eine Partei darf nicht „überrascht“ werden. Entsprechend der fairen Verfahrensführung muss das Gericht signalisieren, dass es sich mit dem Vortrag befasst und erklären, warum und wie es Verfahrensnormen gebraucht (BVerfG, Beschl. v. 12.03.2024 – 1 BvR 605/24, Rn. 21). Ein Verfahren darf weder eine Nabelschau des Antragsstellers bzw. (Verfügungs-)Klägers sein, noch eine reine Selbstbeschäftigungstherapie des Gerichtes. Die Waffengleichheit gewährleistet die Gleichwertigkeit parteilicher Prozessstellungen (BVerfG, Beschl. v. 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 14).
Der aufmerksame Leser wird erahnen, dass die im Presseeilverfahren erlaubte Schnellentscheidung zwar mit den Zeitrealitäten des Presserechts konform geht, jedoch bei der wortlautgemäßen Anwendung die gegenparteiliche Stellung und damit die Waffengleichheit zu verkümmern drohen. Zwar ist das Presserecht von einer Eilbedürftigkeit gekennzeichnet, zumal es auf Grund des Internets und seinen Verbreitungsmöglichkeiten im Sinne des effektiven Rechtsschutzes sogar geboten sein kann, Persönlichkeitsschutzansprüche in unmittelbarer Zeitnähe zur Berichterstattung durchzusetzen (BVerfG, Beschl. v. 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 19). Diese tretmühlenartig wiederholte Medienrasanz darf die Waffengleichheit jedoch nicht aushöhlen. Das regelmäßig auf Antragsgegnerseite stehende ach so mächtige und zunehmend mit boulevardesken Methoden agierende einschüchterungswürdige Medienunternehmen darf nicht einem Geheimverfahren ausgesetzt sein (BVerfG, Beschl. v. 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 19), auch wenn sonst auf eine mündliche Verhandlung verzichtet wird (BVerfG, Beschl. v. 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 21). Ein Verfahren unter (faktischem) Ausschluss darf insoweit nicht stattfinden. Nur in absoluten Ausnahmefällen (BVerfG, Beschl. v. 10.11.2022 – 1 BvR 1941/22, Rn. 20, s.o.) ist eine Anhörung entbehrlich.
Bedeutsame Verstöße
Die Waffengleichheitsanforderungen scheinen geklärt, die Spielräume seit 2018 abgesteckt. Und dennoch kommt es häufig zu Fällen, in denen es von verfassungsgerichtlicher Seite notwendig ist, auf deren Wahrung zu pochen. Die „Dauergäste“ des BVerfG hierbei sind die Hanseatischen Pressegerichte und wohlbekannt auch das Landgericht Berlin – letzteres als „permanenter Verletzer“ der Verfahrensrechte. Aber auch andere Gerichte sind nicht unbescholten. Angesichts der Häufung hält es der Verfasser für geboten, eine handliche Liste für bekannte Verstöße zur Hand zu geben. Die Verfassungsrechtsprechung hat in den folgenden Einzelfällen einen Waffengleichheitsverstoß erkannt:
- im Entscheidungsfalle nach § 937 Abs. 2 ZPO ohne die Möglichkeit der Gegenseite, sich vorprozessual gegen ein/e Abdruckverlangen/Abmahnung zu äußern bei fehlender Übereinstimmung mit der schlussendlich eingeforderten Variante (BVerfG, Beschl. v. 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 20 ff.). Es besteht grundsätzlich die Notwendigkeit der Kongruenz des vorprozessualen und prozessualen Begehrens, sodass das Gericht zur Wahrung der Waffengleichheit vorherige Stellungnahmen zu den vorherigen Varianten im Einzelfall in seine Entscheidung miteinbeziehen sollte;
- eine „einseitige“ Hinweiserteilung auf der die spätere Entscheidung beruht, ohne dass die Gegenseite darüber informiert wird (BVerfG, Beschl. v. 30.09.2018 – 1 BvR 2421/17, Rn. 36);
- beim begründungslosen Ausfall der Gegenseitenanhörung bei einem Beschluss nach § 937 Abs. 2 ZPO (BVerfG, Beschl. v. 24.05.2023 – 1 BvR 605/23, Rn. 26 ff.), oder der begründungslose Beschluss des Gerichtes zum Verzicht auf die mündliche Verhandlung, § 937 Abs. 2 ZPO (BVerfG, Beschl. v. 26.04.2023 – 1 BvR 718/23, Rn. 27 ff.). Von den Anforderungen darf wegen der Bedeutung der Waffengleichheit nur in extremen Fällen wie dem Vereiteln der Eilrechtsschutzwirkung abgewichen werden.
- Insbesondere darf der Entscheidungsmodus nicht hinter den einfachgesetzlichen Anforderungen des § 937 ZPO selbst zurückbleiben (BVerfG, Beschl. v. 12.03.2024 – 1 BvR 605/24, Rn. 21). Ein Mehr an Begründung – sowohl beim Verzicht auf die mündliche Verhandlung als auch beim Anhörungsausfall – ist notwendig. Insbesondere eine formelhafte Anhörungsausfallbegründung ist unzulässig (BVerfG, Beschl. v. 26.04.2023 – 1 BvR 718/23, Rn. 27 ff.).
Die Grenzziehung zwischen Verstößen ist einzelfallabhängig, wobei Wechselwirkungen bestehen. So kann eine fehlende Abmahnung der Gegenseite den späteren Waffengleichheitsverstoß begründen, wenn dieser auch im Verfahren eine Stellungnahme, selbst per Mail oder telefonisch, verwehrt wird.
Generell lässt sich mit den Worten des BVerfG und des EGMR sagen: soweit einer Partei die Möglichkeit eingeräumt wird, ihren Fall vor Gericht nur unter Bedingungen zu präsentieren, die für sie einen strukturellen Nachteil im Verhältnis zur Gegnerischen darstellen, wird der Waffengleichheitsverstoß greifbar.
Woran mag es liegen?
Woran könnte es liegen, dass Fachgerichte sich hinsichtlich der Waffengleichheit so gerne selbst kasteien? Man könnte dies auf eine sich jahrzehntelang etablierte Praxis, die eine Überbetonung der Schneidigkeit des Eilrechtsschutzes bewirkte, zurückführen. Diese erscheint auch komfortabel – immerhin kommen Gerichte in den Genuss schnell „durchzuentscheiden“ und als Medienrechtler:in genießt man dabei einen Schnellweg zum Rechtsschutz- und Profilierungsziel. Ebenso könnte der Personalnotstand der Justiz sein Übriges tun. Sollte diese Praxis, die zurecht als presseprozessuales Sonderrecht bezeichnet wird, anhalten, wird auch zukünftig die Finanzierung des Karlsruhe-Expresstickets im Unterschied zu anderen Ticketmodellen nachhaltig gesichert sein.
Zitiervorschlag: Hubig, Marvin Damian, So hört sie doch an! Zur Waffengleichheit im presserechtlichen Eilverfahren, JuWissBlog Nr. 25/2024 v. 18.04.2024, https://www.juwiss.de/25-2024/.
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