von MELINA REYHER und LUISA WEYERS
Eine Abschaffung von § 218 StGB, dem sogenannten Abtreibungsparagraphen, wurde bereits vor hundert Jahren von Frauenrechtler*innen gefordert. Zwar hat sich die rechtliche Lage hinsichtlich des Verbots von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland im Laufe der Zeit teilweise verbessert, zuletzt durch die Streichung des Werbeverbots in § 219a StGB. Dennoch führt die bestehende Verankerung im Strafgesetzbuch dazu, dass reproduktive Rechte weder gesellschaftlich anerkannt noch ausreichend rechtlich gewährleistet sind. Vor zwei Wochen legte nunmehr die von der Bundesregierung eingesetzte Expert*innenkommission zur reproduktiven Selbstbestimmung ihren Abschlussbericht vor. Darin erkennt sie schwangeren Personen in den ersten Schwangerschaftswochen „von Verfassungs wegen ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch“ an und empfiehlt der Bundesregierung, Schwangerschaftsabbrüche außerhalb des StGB zu regeln.
Historische Betrachtung
Die Einführung des § 218 StGB erfolgte 1871 vor dem Hintergrund der Sicherstellung einer nachkommenden Generation von Arbeiter*innen und Frontkämpfern. Ausnahmeregelungen für das Vorliegen medizinischer Indikationen für Schwangerschaftsabbrüche folgten erst 1927 durch ein Urteil des Reichsgerichts für Strafsachen, das noch bis in die 1970er Jahre als Ersatz für eine gesetzliche Regelung diente. Auch die Gesetzesänderung zu Nachkriegszeiten von 1953 hatte lediglich die Abschaffung der Todesstrafe, die während des NS-Terrors zeitweise Bestand hatte, zum Gegenstand. Gesellschaftlicher Druck auf den Gesetzgeber und der Wunsch nach einer Legalisierung von Abbrüchen wurde mit der sexuellen Revolution ab Ende der 1960er Jahre immer größer und erlangte mit dem berühmten „Wir haben abgetrieben” Stern-Cover 1971 seinen Höhepunkt. Im Recht fand dieser gesellschaftliche Wandel jedoch keinen Niederschlag. 1975 entschied das BVerfG in seiner Schwangerschaftsabbruch-I-Entscheidung: „Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden“ (BVerfGE 39, 1).
Erst die Wiedervereinigung brachte spürbare Änderungen: Der Zugang zu einem selbstbestimmten Abbruch war in der DDR einfacher als in der BRD, ein Kompromiss musste her. Den vom Gesetzgeber vorgeschlagene Kompromiss kassierte jedoch das BVerfG 1993 mit seiner Schwangerschaftsabbruch-II-Entscheidung (BVerfGE 88, 203). In dieser bestätigte das Gericht seine Wertungen der Entscheidung von 1975. Die staatliche Schutzpflicht für das ungeborene Leben gelte absolut, es dürfe nicht, „wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, der freien, rechtlich nicht gebundenen Entscheidung eines Dritten, und sei es selbst der Mutter, überantwortet werden“. 1995 wurde mit § 218a eine abgeschwächte Form des Fristenmodells eingeführt, § 218 StGB wurde allerdings nicht angetastet.
Die Regulierung von Schwangerschaftsabbrüchen und ihre verfassungsrechtliche Implikation
Im geltenden Recht bilden §§ 218, 218a StGB den Rahmen für Schwangerschaftsabbrüche. § 218 StGB normiert die grundsätzliche Strafbarkeit von Abbrüchen, § 218a StGB enthält straffreie Ausnahmen. Gemäß § 218a I StGB fällt ein beratener Schwangerschaftsabbruch tatbestandlich nicht unter § 218 StGB, ist aber rechtswidrig. In diesem Konstrukt der tatbestandsfreien Rechtwidrigkeit findet die Wertung des BVerfG Niederschlag, Schwangerschaftsabbrüche seien grundsätzlich als Unrecht anzusehen. Damit bleibt ein Abbruch „trotz seiner Tatbestandslosigkeit im Zwielicht eines Unrechtsvorwurfs“ (Weißer, GA 2023, 541 (549)). Voraussetzung der Straffreiheit ist eine ärztliche Durchführung des Abbruchs innerhalb der ersten 12 Schwangerschaftswochen. Mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat zudem eine zwingende Beratung stattzufinden, die auf die Fortsetzung der Schwangerschaft abzielt. Abs. 2 und 3 regeln die Straffreiheit sogenannter medizinisch-sozial bzw. kriminologisch „indizierter“ Schwangerschaftsabbrüche. Diese fallen zwar tatbestandlich unter § 218, gelten jedoch als gerechtfertigt.
Auf grundrechtlicher Ebene kollidieren bei einem Schwangerschaftsabbruch Rechte schwangerer Personen mit denen des Embryos/Fötus. Auf Seiten des Embryos/Fötus besteht eine staatliche Schutzpflicht für dessen Recht auf Leben (Art. 2 II 1 GG). Dem steht das Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I, 1 I GG) und das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG) schwangerer Personen in ihrer Funktion als Abwehrrechte gegenüber. Diese Grundrechte gilt es gegeneinander abzuwägen und in Ausgleich zu bringen. In beiden Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 39, 1; 88, 203) entschied das BVerfG in der Vergangenheit zugunsten eines (fast) absoluten Vorrangs der Rechte des Embryos/Fötus. Aus dem Schutz des ungeborenen Lebens leitete das BVerfG auch eine Pflicht zur strafrechtlichen Regelung ab, deren Ergebnis eine Austragungspflicht (BVerfGE 39, 1 (46)) ist.
Diese ist paternalistisch, verweigert Frauen ein Wahlrecht über ihren eigenen Körper und zementiert ,,geschlechtliche Rollenvorstellungen und Hierarchisierungen“. Schwangerschaft wird als Schicksal konstruiert, etwas, das frau – notfalls auch ungewollt – über sich ergehen lassen muss, egal ob ein Kinderwunsch besteht oder nicht. Der absolute Schutz ungeborenen Lebens führt dazu, dass – was beschönigend als „Kompromiss“ bezeichnet wird – die Rechte schwangerer Personen grundsätzlich als nachrangig betrachtet werden. Die Aufgabe, die Rechte von schwangeren Personen und Embryo/Fötus in einen gerechten Ausgleich zu bringen ist keine einfache, ist doch das Ungeborene auf die Mitwirkung der Schwangeren angewiesen. Trotzdem erscheint eine Entscheidung zugunsten der Rechtspositionen des Fötus nicht so zwingend, wie das BVerfG dies betrachtet. Die Forderung nach mehr reproduktiver Selbstbestimmung bedeutet nicht, den Rechtspositionen Schwangerer uneingeschränkten Vorrang zu geben. Sie wird jedoch in dem Bewusstsein vorgetragen, dass die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen nicht geboten ist, da sie zu Stigmatisierungen führt, ohne tatsächlich etwas an der Entscheidung Betroffener für einen Abbruch zu ändern. Damit finden die Interessen Schwangerer in der bisherigen Regelung kaum Beachtung und sie wird der ultima ratio Funktion des Strafrechts nicht gerecht.
Ergebnis des Kommissionsberichts
Vor diesem Hintergrund beschäftigte sich die Expert*innenkommission zur reproduktiven Selbstbestimmung mit der Frage, inwieweit eine Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des StGB möglich, eventuell sogar geboten ist. Das Ergebnis ist hinsichtlich der bisherigen Schwangerschaftsabbruch-Rechtsprechungslinie des BVerfG fast revolutionär, sprechen die Expert*innen Schwangeren in der Anfangszeit nunmehr ein (Grund-)Recht auf Schwangerschaftsabbruch zu. Der Zugang zu diesem Recht darf auch nicht übermäßig erschwert werden. Argumentativ leiten die Expert*innen dieses Recht durch eine ausführliche Abwägung betroffener Rechte auf Seiten des Fötus und der Schwangeren her, womit sie auch die teils heftige Kritik (etwa Sacksofsky, ZöR 2022, 747) an den Schwangerschaftsabbruch-Entscheidungen des BVerfG aufgreifen. Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht schwangerer Personen ein Recht auf reproduktive Selbstbestimmung – einschließlich eines (negativen) Rechts auf Fortpflanzung – umfasst. Auch die weitreichenden Konsequenzen einer Schwangerschaft, die letztlich jeden Aspekt des Lebens beeinflusst (siehe dazu Abschlussbericht, S. 374ff.), müsse auf Seiten der schwangeren Person berücksichtigt werden. Auf Seiten des Fötus sehen die Expert*innen einen mit geborenen Menschen gleichgesetzten Lebensschutz ab Nidation als nicht verfassungsrechtlich zwingend an. Vielmehr ist den kollidierenden Rechten im Verlauf einer Schwangerschaft unterschiedliches Gewicht zuzusprechen: so wird zu Beginn der Schwangerschaft das Recht der Schwangeren auf Selbstbestimmung überwiegen, ab der Lebensfähigkeit des Fötus ex utero jedoch dessen Recht auf Leben.
Eine Beratungspflicht wie in der aktuellen Regelung sehen die Expert*innen nicht als verfassungsrechtlich geboten an, im Widerspruch zum BVerfG, das diese 1995 noch als Grundvoraussetzung für die Straflosigkeit definierte. Beratungen mit einem Fokus auf den Interessen und der Autonomie Schwangerer hält die Kommission jedoch für grundsätzlich zulässig. Der rechtliche Wandel könnte auch darüber hinaus positive Auswirkungen auf den finanziellen Zugang zu Abbrüchen haben, wäre doch mit der Verfassungsmäßigkeit eine Übernahme der Leistung durch gesetzliche Krankenkassen möglich. Autonomie steht auch bei weiteren vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verhinderung und Prävention von Abbrüchen im Zentrum, etwa der Forderung nach kostenfreiem Zugang zu Verhütungsmitteln auch über das 22. Lebensjahr hinaus.
Für die konkrete Umsetzung einer (Teil-)Entkriminalisierung legt die Kommission verschiedene Vorschläge vor, die alle eins gemeinsam haben: In der Frühphase sollen Schwangerschaftsabbrüche mit Einwilligung der Frau erlaubt, d.h. straffrei und rechtmäßig sein. Damit einher geht die Forderung nach erreichbarem, barrierefreiem und zeitnahem Zugang zu medizinischen Versorgungszentren. Für die mittlere Schwangerschaftsphase stellte die Kommission es ins gesetzgeberische Ermessen, ob Abbrüche für rechtswidrig erklärt werden, jedenfalls müssten Ausnahmen für indizierte Abbrüche bestehen. Sobald der Fötus außerhalb des Körpers lebensfähig ist, sollen Abbrüche grundsätzlich – mit entsprechenden Ausnahmeregelungen – untersagt werden. Auch für diese Fälle bewerten die Expert*innen eine Verankerung im StGB explizit als nicht erforderlich.
Zeit für einen neuen Kompromiss?
Der Abschlussbericht der Kommission macht Hoffnung darauf, dass eine rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland in der Zukunft mit einem stärkeren Fokus auf das Selbstbestimmungsrecht Schwangerer möglich ist. Damit einher geht die Forderung nach kostenlosem Zugang zu Verhütungsmitteln – was insbesondere auch das Risiko der Notwendigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen finanziell schlechter gestellter Frauen reduzieren dürfte und zu einer faireren Verteilung der Risiken von ungewollten Schwangerschaften führte.
Dieser geänderte Fokus erscheint auch im Hinblick auf die aktuelle Grundrechtsdogmatik schlüssig. Reproduktive Selbstbestimmung nimmt heute eine gänzlich andere Stellung ein als 1975 oder 1993. BVerfG-Entscheidungen wie zur „Dritten Option“ (BVerfGE 147, 1) und zur Sterbehilfe (BVerfGE 153, 182) zeigen, dass nunmehr das autonome Individuum im Mittelpunkt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts steht. Ein solches Autonomieverständnis würde auch ein (negatives) Recht auf reproduktive Selbstbestimmung beinhalten (siehe dazu Abschlussbericht, S. 238f.). Seit 1995 hat sich die Grundrechtsdogmatik weiterentwickelt, sodass auch das BVerfG von seinem vermeintlichen Kompromiss heute hoffentlich nicht mehr überzeugt wäre. Nun, fast dreißig Jahre später, ist es an der Zeit für eine neue Lösung.
Es bleibt zu hoffen, dass nunmehr eine sachliche Debatte um die überfällige Reform des Schwangerschaftsabbruchs gelingt. Mit ihrem Bericht haben die Expert*innen zahlreiche wohlüberlegte Argumente geliefert, die für eine Neuregelung sprechen. Wenn es der Ampelregierung mit der Stärkung reproduktiver Rechte ernst ist, sollte sie die Empfehlungen umsetzen. Die verhaltenen Reaktionen der Regierungsfraktionen lassen dies jedoch leider nicht erwarten.
Zitiervorschlag: Reyher, Melina/Weyers, Luisa, Ein Ende der Hegemonie des Bundesverfassungsgerichts? – Zur möglichen außerstrafrechtlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs, JuWissBlog Nr. 26/2024 v. 02.05.2024, https://www.juwiss.de/26-2024/.
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