Die Schweiz hat abgestimmt 2/2013
von RAFAEL HÄCKI
Am vergangenen Sonntag war es wieder soweit: Die Schweiz hat nach einem Vierteljahr erneut abgestimmt. Die beiden Vorlagen bieten Stoff für eine weitere Folge in der Beitragsserie, die anhand der regelmässigen Abstimmungen die staatsrechtlichen Eigenheiten und Pirouetten der Schweiz erläutern will.
Diesmal hatte das Stimmvolk über die neueste Asylgesetzrevision und die Volkswahl des Bundesrates zu bestimmen. Gerade einmal 39% der Stimmberechtigten wollten sich dazu äussern, ob ein dringlich erklärtes Bundesgesetz in Kraft bleiben solle bzw. ob der siebenköpfige Bundesrat (Landesregierung) künftig vom Stimmvolk und nicht mehr von der Vereinigten Bundesversammlung (Parlament) gewählt werden solle.
Asylgesetz-Revision: ein dringliches, befristetes Bundesgesetz bleibt in Kraft
78,4% der Stimmenden und alle Kantone stimmten der Asylgesetzrevision zu. Das Resultat steht damit in einer Reihe mit den Asylgesetzrevisionen von 1999 (71% Ja) und 2006 (68% Ja).
Gemäss Verfassung kann ein Bundesgesetz, dessen Inkrafttreten keinen Aufschub duldet, von der Mehrheit der Mitglieder jedes Rates dringlich erklärt und sofort in Kraft gesetzt werden; dabei ist es zu befristen (Art. 165 Abs. 1 BV; dazu hier eine Übersicht). Mit der Begründung, das Asylverfahren zu beschleunigen (siehe Botschaft des Bundesrates, S. 4456 f.), waren bei der Revision des Asylgesetzes eine Reihe von Bestimmungen für dringlich erklärt und am 29. September 2012 in Kraft gesetzt worden. Man kann sich darüber streiten, inwiefern etwa die Abschaffung des Botschaftsasyls zur gewünschten Beschleunigung beitragen soll (dazu hier auf dem Blog eine inhaltliche Bewertung). Man kann sich auch grundsätzlich fragen, inwiefern gegen seit vielen Jahren bekannte Probleme gerichtete Massnahmen plötzlich keinen Aufschub dulden sollen. Nach dem letzten Abstimmungssonntag steht jedoch fest: Die dringlich erklärten Bestimmungen der Revision bleiben in Kraft.
Aber wie kam es überhaupt zu dieser Abstimmung? Wird zu einem dringlich erklärten Bundesgesetz die Volksabstimmung verlangt, so tritt dieses ein Jahr nach Annahme durch die Bundesversammlung ausser Kraft, wenn es nicht innerhalb dieser Frist vom Volk angenommen wird (Art. 165 Abs. 2 BV). Obwohl im Parlament teilweise sehr entschieden gegen die Revision opponiert worden ist, hatten sich die üblichen Verdächtigenwie linke Parteien, Hilfswerke und Menschenrechtsorganisationen geweigert, dagegen das Referendum zu ergreifen. Die Begründungen dafür lagen irgendwo zwischen der Vermeidung einer weiteren SVP-Kampagne in deren Kernthema und der Angst vor kontraproduktiven Folgen einer absehbaren Abstimmungsniederlage. So blieb es an den Jungen Grünen, erfolgreich das Referendum zu ergreifen und die Revision dem Stimmvolk zu unterbreiten. Zur Erinnerung: Ein Referendum erfordert 50’000 Unterschriften binnen 100 Tagen (Art. 141 BV).
Nachdem nun die auf drei Jahre befristete Revision vom Stimmvolk gutgeheissen worden ist, bleibt sie bis am 28. September 2015 in Kraft. Soll sie anschliessend weiter gelten, muss sie im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nochmals erlassen werden. Ob es dann aber dazu kommt, ist fraglich. Seit dem Tag des Inkrafttretens der Revision spricht die SVP von einer radikalen Asyl-Volksinitiative, welche insbesondere geschlossene Internierungslager für Asylbewerber und eine Beschneidung bis Abschaffung der verfassungsrechtlich garantierten gerichtlichen Kontrolle in Asylverfahren fordert. Die Initiative soll im nächsten Jahr lanciert und punktgenau vor den nächsten Wahlen im Herbst 2015 eingereicht werden, um dann ein Wahlkampfthema zu bilden.
Volkswahl des Bundesrates: Keine Änderung im Institutionengefüge
Eine absehbare Niederlage hatte die SVP mit ihrer Volksinitiative für die Volkswahl des Bundesrates erlitten, die von 76,3% der Stimmenden und allen Kantonen abgelehnt wurde. Sowohl durch die tiefe Stimmbeteiligung als auch mit dem klaren Verdikt von Volk und Ständen sprachen sich die Stimmbürger deutlich gegen weitere Mitbestimmungsrechte aus.Auch dieses Resultat verwundert nicht, haben institutionelle Reformen traditionell einen eher schweren Stand und scheint das Volk von Mitbestimmungsmöglichkeiten gesättigt zu sein: Etwa im Juni 2012 wurde mit der Initiative „Staatsverträge vors Volk“ ein ähnliches Anliegen mit 75,3% Nein und von allen Kantonen abgelehnt. So bleibt es weiterhin beim ureidgenössischen modus operandi: Das Volk wählt das Parlament, das Parlament wiederum wählt die Regierung.
Die Vorlage mutete zudem in zweifacher Hinsicht etwas anachronistisch an. Erstens ist die Einführung der Wahl des Bundesrates durch das Volk ein uraltes, ursprünglich linkes Anliegen; entsprechende Volksinitiativen der Sozialdemokratischen Partei wurden bereits 1900 und 1942 abgelehnt. Diese verstaubten Pläne wurden von der SVP aus der untersten Schublade hervorgekramt, nachdem 2007 SVP-Übervater Christoph Blocher vom Parlament aus dem Bundesrat abgewählt worden ist. Inzwischen ist viel Wasser die Aare hinunter geflossen. Etwa die mageren Resultate der SVP in den Ständeratswahlen 2011 und teils herbe Niederlagen bei der Regierungswahl auf kantonaler Ebene liessen die Begeisterung und Unterstützung für die Volkswahl der Landesregierung auch parteiintern zunehmend schwinden.
So sollte die Volkswahl entsprechend der Regierungswahl auf kantonaler Ebene im Majorzsystem erfolgen. Dabei hätte die gesamte Eidgenossenschaft einen Wahlkreis gebildet. Mit anderen Worten hätte jeder Stimmberechtigte die sieben Kandidaten frei aus allen Landesteilen wählen können; aus Konkordanzgründen wären jedoch für die welsche Schweiz, d.h. für Kandidaten aus den französisch- und italienischsprachigen Gebieten, zwei Bundesratssitze reserviert gewesen.
Aus staatsrechtlicher Sicht waren die Argumente der Befürworter für den Vorschlag teilweise nicht über alle Zweifel erhaben. Etwa die Wahl im Majorzsystem mit einem einheitlichen Wahlkreis auf gesamteidgenössischer Ebene wirft zahlreiche offene Fragen auf, die sich bei Wahlen auf kantonaler Ebene so nicht stellen. Sodann kämpfen Teile der Befürworter in anderen Fällen (etwa dem laut Bundesgericht verfassungswidrigen Wahlrecht des Kantons Schwyz) dafür, dass die Wahlkreise ja nicht über die einzelnen Gemeinden (etwa Riemenstalden mit 87 Einwohnern) hinaus ausgedehnt werden. So ist es nicht ohne weiteres nachzuvollziehen, inwiefern ein einheitlicher gesamteidgenössischer Wahlkreis die geltend gemachten Vorteile bringen soll.
Schliesslich bleibt zu bemerken, dass die gesamte Abstimmung unter dem Titel und mit der Begründung lief, dass eine Volkswahl die direkte Demokratie stärken würde. Eine Volkswahl des Bundesrates hätte aber nichts mit direkter Demokratie zu tun gehabt. Jede Wahl von Repräsentanten, sei es nun das Parlament oder die Regierung, ist ein Akt der repräsentativen Demokratie. Eine Wahl von Repräsentanten bleibt eine Wahl von Repräsentanten, ob die Regierung nun vom Parlament oder vom Volk gewählt wird. Demgegenüber bilden im schweizerischen Selbstverständnis Abstimmungen über Sachfragen (Initiative, Referendum) Akte der direkten Demokratie. Eine Volkswahl des Bundesrates hat entsprechend nichts mit Sachabstimmungen und direkter Demokratie zu tun. Etwas anderes würde nur gelten, wenn das Stimmvolk darüber abgestimmt hätte, die Regierung aufzulösen und künftig alle Sachgeschäfte selbst direktdemokratisch in Abstimmungen zu entscheiden. So weit wollen aber weder SVP noch Rousseau gehen.