Schlaglichter einer Podiumsdiskussion zum neuen § 362 Nr. 5 StPO

von ARNE MEYN

Die neu geschaffene Wiederaufnahmemöglichkeit des § 362 Nr. 5 StPO, das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“, hat VerfassungsrechtlerInnen wie StrafrechtlerInnen seit seiner Verabschiedung am 25. Juni 2021 beschäftigt. Kürzlich debattierten am 22. August 2022 in Berlin ExpertInnen aus Politik, Wissenschaft und Anwaltspraxis auf einem Podium über die Neuregelung. Dieser Beitrag blickt schlaglichthaft auf einige Aspekte der Diskussion zurück.

Zum Hintergrund der Debatte

Hinsichtlich des neuen § 362 Nr. 5 StPO stellen sich verfassungsrechtliche Probleme rund um den betroffenen Ne-bis-in-idem-Grundsatz aus Art. 103 Abs. 3 GG, die Rückwirkung und die Bestimmtheit. Daneben erregte vor allem der Stil des Gesetzes Kritik, sei es der blumige Titel oder das Wording der Gesetzesbegründung; so wurde etwa eingewandt, ein Gesetzgeber, der glaubt, „materielle Gerechtigkeit“ „herstellen“ zu können, insinuiere, es müssten vorher ungerechte Zustände geherrscht haben (zur Kritik verfassungsrechtlich wie stilistisch etwa: Aust/Schmidt ZRP 2020, 251; Schiffbauer NJW 2021, 2097; Singelnstein NJW 2022, 1058). Folgerichtig gestaltete sich auch der politische Prozess rund um die Verabschiedung des Gesetzes konfliktreich; gleichsam traditionell weigerte sich das Bundesjustizministerium, nachdem es bereits eine Reihe gescheiterter Gesetzgebungsanläufe in dieser Richtung gab (in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts sogar noch auf Initiative der SPD, im neuen Jahrtausend unter CDU-Ägide), an dem Gesetz mitzuwirken, im Bundesrat gab es heftigen Gegenwind und schließlich bekundete sogar der Bundespräsident – trotz Ausfertigung – Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit. Nachdem das Gesetz Ende 2021 in Kraft getreten ist, hat es seit Februar seinen ersten Anwendungsfall, namentlich denjenigen Anlassfall, der es sogar expressis verbis an mehreren Stellen in die Gesetzesbegründung schaffte. Der Sachverhalt stammt aus dem Jahr 1981; eine damalige Verurteilung wegen Mordes und Vergewaltigung aus dem Jahre 1982 war vom BGH aufgehoben und der Angeklagte Ismet H. 1983 freigesprochen worden; seit 2012 kämpft der Vater des damaligen Opfers – unter anderem mit einer sehr erfolgreichen Petition – für die Schaffung einer entsprechenden Wiederaufnahmevorschrift. Seit Mai ist das Bundesverfassungsgericht mit dem Fall befasst. Im einstweiligen Rechtsschutz kam man dort zu einem für den Angeklagten günstigen Ergebnis. Es ist davon auszugehen, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis es auch in der Hauptsache eine Entscheidung geben wird.

Grund genug, einen Versuch zu unternehmen, offene Fragen zu klären und noch einmal mit Befürwortern wie Gegnern zu diskutieren. Die Chance bot sich bei der in Kooperation von Berliner Anwaltsverein und der Initiative #nichtzweimal organisierten Podiumsdiskussion unter dem Titel „Wiederaufnahme von Strafverfahren nach rechtskräftigem Freispruch? Der Streit um § 362 Ziff. 5 StPO“ unter Teilnahme von Dr. Carolin Arnemann (Fachanwältin für Strafrecht), Dr. Jan-Marco Luczak, MdB (CDU, in der fraglichen 19. Legislaturperiode rechtspolitischer Sprecher der Unionsfraktion), Professor Michael Kubiciel (Strafrechtler, Universität Augsburg, Sachverständiger im Gesetzgebungsprozess), PD Dr. Björn Schiffbauer (Verfassungsrechtler, Universität zu Köln) und Professor Tobias Singelnstein (Strafrechtler, Goethe-Universität Frankfurt). Der Abend brachte neben einer sehr angeregten Diskussion und viel Kontextualisierung einige neue Erkenntnisse, die sowohl für das Bundesverfassungsgericht als auch für das ampelseitig angekündigte neuerliche politische Überdenken von Interesse sein dürften. Diese werden im Folgenden aufgegriffen und näher diskutiert.

Anwendungsbereich und Bestimmtheit

Einer der großen Kritikpunkte ist die Gesetzgebungstechnik. Der Wortlaut des § 362 Nr. 5 StPO besagt: „Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten ist zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes, Völkermordes, des Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechens gegen eine Person verurteilt wird.“ Weder aus diesem Wortlaut noch aus den Materialien ergibt sich klar, welche Fälle das Gesetz in personeller/sachlicher/zeitlicher Hinsicht erfasst. So ist vor allem strittig, ob im zweiten Verfahren nur wegen Mordes oder, wenn die „neuen Tatsachen oder Beweismittel“ zwar zur Wiederaufnahme genügen, aber nicht zur Verurteilung wegen Mordes, auch wegen anderer Delikte (z.B. Totschlag) verurteilt werden kann. Gleichermaßen strittig ist, ob das Gesetz Rückwirkung entfaltet, also auch auf Sachverhalte Anwendung findet, die sich vor Verabschiedung des Gesetzes ereigneten und ob eine etwaige Rückwirkung zulässig wäre (damit zusammenhängend, ob es sich um eine echte oder unechte Rückwirkung handelt). Anlass, einen der Protagonisten des Gesetzgebungsprozesses, Luczak, und den als Sachverständigen am Gesetzgebungsprozess Beteiligten, Kubiciel, zu fragen, welche Fälle die Macher des Gesetzes adressieren wollten.

Luczak schilderte den Hergang des Gesetzgebungsprozesses innerhalb der großen Koalition, von der Initiative seiner Partei bis zum Gesetzentwurf durch die GroKo-Fraktionen und vertrat sodann angesichts der Offenheit von Wortlaut und Materialien eine extensive Auslegung. Das bedeutet vor allem, dass nach erfolgter Wiederaufnahme wegen Mordverdachts ggf. auch wegen anderer Delikte verurteilt werden können soll, diese Frage sei durch den Wortlaut des Gesetzes, so Luczak, „nicht determiniert“. Das sah auch Kubiciel so, allerdings mit der Einschränkung, dass sich diese Frage im aktuell wiederaufgenommenen Prozess gegen Ismet H. wegen Verjährung aller Straftatbestände außer des Mordes nicht stelle. Überdies waren sich beide einig, dass das Gesetz (zulässig) zurückwirke, laut Kubiciel sogar im Falle einer echten Rückwirkung; zwei Positionen, die erwartungsgemäß großen Widerstand erregten. Angesprochen darauf, dass das Gesetz vom Bundesverfassungsgericht aufgrund seiner offenen Formulierung für eine Anwendung ausgelegt werden muss – was in einem so grundrechtssensiblen Bereich neben der Bestimmtheit möglicherweise auch in Konflikt mit der Gewaltenteilung gerät– sah Luczak kein Problem.

Ein so weit intendierter Anwendungsbereich lässt – wie auch in der Diskussion Thema – das Argument der Befürworter einer Verfassungskonformität, das Gesetz erfasse nur wenige Fälle exzeptionellen Unrechts, zumindest unter Beschuss geraten. Relevant könnte dies auch deshalb werden, weil das Bundesverfassungsgericht eine Einschränkung des Art. 103 Abs. 3 GG – wenngleich bisher ersichtlich nur in einem Fall – ausdrücklich nur im Randbereich zuließ. Je extensiver aber ein Gesetz gefasst ist, desto weniger kann man von einem Eingriff nur in diesen Randbereich ausgehen. Hinzu kommt, dass das Gesetz auch vor einer Verurteilung nachteilige Wirkung für die Betroffenen entfaltet, etwa durch staatsanwaltliche Ermittlungsmaßnahmen, die Möglichkeit neuerlicher Untersuchungshaft oder auch nur durch die Situation eines Damoklesschwerts der Wiederaufnahme über den Köpfen aller Freigesprochenen, wie auch Schiffbauer mahnte.

Weitere Extension? Ein Blick auf die Rechtspolitik

Was Kritiker des Gesetzes zumindest etwas beruhigen könnte, ist, dass auch Luczak und Kubiciel einer weiteren Ausdehnung des Tatbestands (etwa um in der Diskussion bereits angeklungene Sexualdelikte, Totschlag oder versuchte vorsätzliche Tötungsdelikte) auch für den Fall des Bestands des Gesetzes in Karlsruhe klar ausschlossen. Das mag insofern beruhigen, als der von Kritikern der Reform bezeichnete Dammbruch zumindest begrenzt gehalten würde. Dem hielt Singelnstein allerdings entgegen, dass die kriminalpolitische Erfahrung lehre, dass eng umgrenzte Reformen, auch wenn sie bei ihrer Einführung als gerade noch verfassungsmäßig angesehen würden, im Laufe der Jahre doch dazu neigten, ausgeweitet zu werden, gerade bei emotional aufgeladenen Themen wie dem vorliegenden.

Generell plädierte Singelnstein in diesem Zusammenhang für eine Erweiterung des Blicks über die rein verfassungsrechtliche Dimension hinaus auch auf die rechtspolitische sowie für Vorsicht bei der Extension im Rahmen der Strafgesetzgebung samt StPO im Allgemeinen und von § 362 Nr. 5 StPO im Speziellen. Die besseren Argumente sprächen für eine Verfassungswidrigkeit; darüber hinaus müsse sich die Politik fragen, ob sie einen der wichtigsten strafrechtlichen Grundsätze aufweichen wolle. Darin, Rechtspolitik und Verfassungsmäßigkeit getrennt zu betrachten, bestand grds. Einigkeit mit Kubiciel, der das Erstzugriffsrecht des Gesetzgebers betonte, das die Wissenschaft diesem nicht absprechen dürfe, sofern ein Gesetz nicht klar verfassungswidrig sei; und klar verfassungswidrig sei das Gesetz in seinen Augen nicht – letztlich müsse man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten.

Und der Anlassfall?

Ob man in § 362 Nr. 5 StPO wie Singelnstein eine Lex Frederike von Möhlmann sieht oder wie Luczak bestreitet, dass der Anlassfall Auslöser für die Regelung war: Es fällt schwer, die Reform ohne den konkreten Anlassfall zu denken. Angesprochen auf den Verfahrensgang kritisierte Arnemann, die im Anlassfall die Möglichkeit einer EMRK-gemäßen Hauptverhandlung nach 40 Jahren überhaupt bezweifelte – es dürfte im Wesentlichen um die Rechte aus Art. 6 Abs. 1 S.1 (Gebot der Waffengleichheit), Abs. 2 (in dubio pro reo), Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK (Rechte bei der Beweisaufnahme) gehen – die Anordnung von Untersuchungshaft gegen den Angeklagten durch das OLG Celle: Es sei bemerkenswert, dass nach so vielen Jahren noch einmal ein Haftbefehl erlassen worden sei, zumal zwischen Erlass des Gesetzes und Neuaufnahme so viel Zeit vergangen sei, in der dem Angeklagten klar gewesen sei, dass es zu einer Wiederaufnahme kommen könne – und sprach von einer Reißleine, die das Bundesverfassungsgericht durch seine 5:3-Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz gezogen habe (zustimmend Kubiciel, stark ablehnend Luczak). Dies bewertete auch Schiffbauer verfassungsprozessual als bemerkenswert, da man im einstweiligen Rechtsschutz typischerweise verliere.

Fazit

Der Abend brachte eine spannende Diskussion. Historisch wie dogmatisch konnte so mancher Punkt beleuchtet werden. Letztlich ist es jetzt am Bundesverfassungsgericht, zu entscheiden, ob das Gesetz verfassungswidrig ist oder ob es der Ampel überantwortet bleibt, die Frage auf rechtspolitischer Ebene zu klären.

 

TeilnehmerInnen: Dr. Carolin Arnemann, Fachanwältin für Strafrecht, München, Dr. Jan-Marco Luczak, Rechtsanwalt, MdB, Berlin, Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel, Universität Augsburg, Dr. Björn Schiffbauer, Privatdozent, Universität zu Köln, Prof. Dr. Tobias Singelnstein, Goethe-Universität Frankfurt; Moderation: PD Dr. Dorothea Magnus, Arne Nis Meyn.

Link: https://www.youtube.com/watch?v=DREI1VNgvcA

 

Zitiervorschlag: Meyn, Arne, Schlaglichter einer Podiumsdiskussion zum neuen § 362 Nr. 5 StPO, JuWissBlog Nr. 58/2022 v. 18.10.2022, https://www.juwiss.de/58-2022/.

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Rückwirkung, Strafprozessordnung, Strafrecht, Verfassungsrecht, Wiederaufnahme
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