von STEFAN SALOMON
„Wir werden Heimatlose sein – in allen Ländern. Wir haben keine Gegenwart und keine Zukunft“, schrieb Stefan Zweig an Carl Zuckmayer kurz vor seinem Freitod in Persepolis, seinem brasilianischen Exil, Für Stefan Zweig war Exil nicht nur die Tatsache der Flucht, denn vielmehr das Bewusstsein, eine Lebenswelt verloren zu haben. Es war die existentielle Entfremdung eines ganzen Kontinents, eines Kontinents, welcher ihm nur wenige Jahre zuvor intellektuelle Heimat war und der nun seine Worte nicht mehr verstand. Exil bedeutete: Europa war entschwunden.
Ein ähnliches Gefühl der Entfremdung, das vielleicht viele Juristinnen teilen, stelle ich bei mir bei der Betrachtung der Rolle des Rechts im aktuellen Kontext von Migration und Flucht fest. Ein Europa, dessen Zusammenschluss wesentlich über das Recht erfolgte und im Recht basierte, desintegriert sich proportional zur Entfernung vom Recht. Mit Entfernung von Recht ist hier ein infiniter Regress der Rechte von Flüchtlingen gemeint, bedingt durch einen Diskurs ums und im Recht. Dieser Diskurs wird im Folgenden am notorischen Beispiel Österreichs skizziert.
Diskurs ums Recht
Am 20. Jänner 2016 kamen Bund, Länder und Gemeinden auf dem Asylgipfel überein, den „Flüchtlingsstrom und die Migration nach Österreich vernünftig und nachhaltig [zu] reduzieren und wirksam [zu] regeln“. Hierfür wurde die Einführung einer Obergrenze über einen Zeitraum von insgesamt vier Jahren bei degressiver Verteilung beschlossen. Dieses Jahr sollen noch maximal 37.500 Flüchtlinge zum Asylverfahren zugelassen werden, 35.000 im Jahr 2017, 30.000 im Jahr 2018 und 25.000 im Jahr 2019. Insgesamt soll die Anzahl der Asylanträge bis 2019 auf insgesamt 127.500 beschränkt werden: auf 1,5% der österreichischen Gesamtbevölkerung (warum die Grenze der „Integrationsfähigkeit“ der österreichischen Gesellschaft bei genau 1,5% liegen soll, sei hier dahingestellt). Der Einführung dieser Obergrenze wurde lakonisch angefügt, dass die „verfassungs- und europarechtliche Prüfung der damit in Zusammenhang stehenden Fragen und Maßnahmen…veranlasst“ wird. Hierzu gab die Regierung ein Rechtsgutachten in Auftrag, das am 18. März 2016 der Regierung übergeben wurde.
Es sei noch vorangestellt, dass die einzige bisher vorgenommene konkrete Maßnahme die Limitierung der Asylantragsstellung auf 80 Anträge/Tag durch das Bundesinnenministerium am Grenzübergang Spielfeld an der slowenischen Grenze ist. Diese Beschränkung hat keine Gültigkeit für die Stellung von Asylanträgen im restlichen Bundesgebiet. Somit bleibt noch immer unklar, wie eine solche Obergrenze tatsächlich umgesetzt werden soll. In welcher Variante auch immer die Obergrenze umgesetzt werden soll, sie ist in jeder denkbaren Ausgestaltung rechtswidrig: Eine Nichtannahme oder Nichtbearbeitung verstößt gegen Artikel 6 Verfahrens-RL (Zugang zum Asylverfahren) bzw. Artikel 31(3) Verfahrens-RL und eine Zurückweisung an der Grenze zu Slowenien gegen die Verpflichtung der Durchführung einer Zuständigkeitsprüfung nach Artikel 3(1) Dublin III-VO iVm Artikel 6 Verfahrens-RL. Diese Frage der Rechtswidrigkeit ist der Diskurs ums Recht, der insbesondere zwischen Regierung und Rechtswissenschaftlerinnen sowie Vertreterinnen der Judikative geführt wurde und geführt wird.
Bereits vor Übergabe des Gutachtens an die Regierung verlautbarte einer der beiden von der Regierung beauftragen Gutachter, dass die Beschränkung von Asylanträgen „eindeutig völker-, menschen- und verfassungsrechtswidrig“ sei. In einer zeitnahen Pressekonferenz teilte der Präsident des Verfassungsgerichtshofes der Regierung indirekt mit, dass ein Gesetz zur Beschränkung von Asylanträgen verfassungswidrig wäre. In einer Welle (etwa hier, hier, hier oder hier) von Zeitungsartikeln und Interviews wiederholten alle namhaften Rechtswissenschaftler Österreichs unisono die Rechtswidrigkeit der Beschränkung von Asylanträgen.
Scheinbar unbeeindruckt beharrt die Regierung weiterhin auf der Rechtmäßigkeit einer Obergrenze. Der Sprecher der konservativen Volkspartei (ÖVP) kritisierte, dass der Präsident des Verfassungsgerichtshofes zu weit gegangen wäre und gar die „die erfolgreiche Politik Österreichs“ gefährde. Es ist erstaunlich, dass Bundesministerinnen die verfassungsrechtlich mit der Vollziehung der Gesetze betraut sind, öffentlich weiterhin eine aller Wahrscheinlichkeit nach rechtswidrige Politik propagieren – und dies mit einer politischen Inszenierung von toughness verbinden, verkörpert unter anderem in der österreichischen Innenministerin, die von einem Ausbau der „Festung Europa“ und dem schärfsten Asylgesetz in Europa spricht. Früher bezog sich toughness auf die Fähigkeit des Selbst, Schmerzen auszuhalten, und nicht auf die Schaffung des Elends Anderer. Es handelt sich um einen Diskurs, in welchem Recht gegenüber politischen Notwendigkeiten als impraktikabel oder illegitim dargestellt wird, wobei gleichermaßen auch auf die Legitimität des Rechts in dessen unbestimmter Offenheit zurückgegriffen wird.
Diskurs im Recht
Es ist bezeichnend, dass jedes Mal, wenn Flüchtlinge von individuellen Fällen zu einem Massenphänomen werden – wie etwa zwischen beiden Weltkriegen und gegen Ende des Zweiten Weltkrieges – sich nicht nur die Unfähigkeit von Staaten, zu einer Lösung beizutragen, zeigt, sondern eben auch die Disponibilität der Rechte von Flüchtlingen. Diskursiv werden Flüchtlinge von rechtsfähigen Individuen zu Objekten humanitärer und sicherheitspolitischer Intervention, Objekte, die kontrolliert und gemanagt werden müssen. Dies spiegelt sich in der Rhetorik der Bundesregierung der vergangenen zwölf Monaten wider, die zwischen humanitärer und sicherheitspolitischer Rhetorik wechselte. Es ist dies ein Diskurs der Notwendigkeiten. Die Notwendigkeit der jeweiligen Situation erfordert jeweils spezifische Maßnahmen: die Bekämpfung von Schlepperei, die Rettung von Leben, das Steuern der Flüchtlingsströme, die Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenhalts. Dies kann als Diskurs im Recht bezeichnet werden und umfasst zwei Dimensionen.
Die erste Dimension umfasst die Transgression von Normen innerhalb einer Rechtsordnung. Die unsachliche Beschränkung des Rechts auf Familienleben von subsidiär Schutzberechtigten (ein Antrag auf Familienzusammenführung kann erst drei Jahre nach Statuszuerkennung gestellt werden) durch die am 1. April 2016 in Kraft getretene Asylgesetznovelle; die vorgeschlagene Kürzung von Sozialleistungen für Asylberechtigte und die Einschränkung der Freizügigkeit von subsidiär Schutzberechtigten durch Wohnsitzauflagen: all dies sind Differenzierungen in Gesetzesform, mit welchen in Rechtspositionen von Schutzberechtigten eingegriffen wird, Differenzierungen, die erklärtes politisches Ziel sind. Obwohl diese Eingriffe oft rechtswidrig sind, dauert es oft Jahre, bis ein Urteil vorliegt. In der Zwischenzeit schaffen diese Normen soziale Realitäten: Familien werden zerrissen, Menschen landen auf der Straße oder leiden durch die Folgen an psychosomatischen Erkrankungen.
Rechtssuspension
Die zweite Dimension ist fundamentaler. Sie betrifft nicht die Transgression von Normen innerhalb einer Rechtsordnung, sondern die Suspendierung der faktischen Gültigkeit fundamentaler Normen dieser Rechtsordnung. Diese Normen besitzen Gültigkeit, entfalten aber keine Geltung.
Die Erledigung eines Asylantrages durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) in Österreich liegt derzeit weit über der gesetzlichen Frist von maximal 18 (Artikel 31(3) Verfahrens-RL) bzw. 6 Monaten (§73(1) Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz). Obwohl das Bundesverwaltungsgericht die Säumigkeit des BFA feststellte, hielt das Gericht fest, dass die Überlastung des BFA durch die hohe Anzahl der Asylanträge ein unüberwindliches Hindernis darstelle und die Behörde demnach kein überwiegendes Verschulden treffe. Dass die Regierung auf einer individuellen Prüfung von Asylanträgen syrischer Flüchtlinge, deren Schutzbedürftigkeit unstrittig ist, besteht, anstelle gesetzliche Maßnahmen zu erlassen, die eine prima facie Anerkennung von Flüchtlingen – und damit wesentlich schnellere Verfahren – ermöglichen, wurde durch das Gericht bei der Verschuldensbeurteilung komplett außer Acht gelassen. Asylwerberinnen haben das Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren und stehen gleichzeitig außerhalb.
Seit einem Erlass des Sozialministers im Jahre 2004 werden an Asylwerberinnen faktisch keine Arbeitsbewilligungen mehr ausgestellt (lediglich an ein vorher bewilligtes Kontingent von Saisonarbeitern und Erntehelfern werde Arbeitsbewilligungen ausgestellt). Der Erlass ist von den Rechtsbetroffenen faktisch nicht anfechtbar, obwohl dieser direkt in ihr Recht auf Erwerbstätigkeit eingreift. Asylwerber haben das Recht zu arbeiten, aber keine Arbeitsbewilligung.
Die Suspendierung fundamentaler Rechte in einem Vorgang des infiniten rechtlichen Regresses ist Zeugnis einer Abgrenzung Europas, eine Abgrenzung in der zugleich auch ein Zusammenschluss gesucht wird. Ein Europa, das Zusammenschluss in der Disponibilität der Rechte von Flüchtlingen sucht: es ist dies, was ein Gefühl der Entfremdung hervorruft.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Stefan Zweig starb in Petrópolis.
[…] government amended its asylum laws, drastically limiting family reunification and introducing the infamous Obergrenze, and engaged in informal cooperation to shut the borders for refugees in the Balkan states. Moreover, the […]