von MATTHIAS GRÜBL
Die Parteien der politischen Mitte – Union, Sozialdemokraten und Grüne – werden im „neuen“ 21. Deutschen Bundestag insgesamt über lediglich 413 Abgeordnete verfügen. Das Zwei-Drittel-Quorum für verfassungsändernde Mehrheiten, das nunmehr bei insgesamt 420 Stimmen fixiert ist, werden die Mitteparteien nicht länger aus eigener Kraft erzielen. Um das Grundgesetz zu ändern, sind die Stimmen einer in Teilen rechtsextremen, oder aber die Stimmen der Linkspartei erforderlich. Da die Mitteparteien zugleich vermeinen, fortan erheblich mehr Ausgaben für die Bundeswehr tätigen zu müssen, stellt sich ihnen ein Problem. Denn die Stimmen der AfD sind unerwünscht, während diejenigen der Linkspartei für Zwecke der militärischen Aufrüstung wohl entweder überhaupt nicht zu gewinnen sein, oder aber teuer erkauft werden müssten. Vor dem Hintergrund dieser unliebsamen Perspektive wird zur Stunde erwogen, ob nicht die Mehrheitsverhältnisse des „alten“ 20. Deutschen Bundestages genutzt werden können, um eine Verfassungsrevision ohne Mitwirkung der politischen Ränder zu ermöglichen. Prima facie erscheint ein solches Vorgehen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, bei näherem Zusehen erheben sich aber demokratietheoretische Probleme, die sich unter dem Gesichtspunkt der Volkssouveränität auch in das geltende Verfassungsrecht hinein verlängern.
Auseinanderklaffen von Demokratietheorie und Verfassungsrecht
Welche Zuständigkeiten verbleiben dem „alten“ Bundestag noch, bis sich der „neue“ Bundestag spätestens am 25. März 2025 konstituieren wird? Besteht seine Kompetenz zur Verfassungsrevision unbeschadet der zwischenzeitlichen Bundestagswahl und des herannahenden Endes der Wahlperiode ungeschmälert fort? Um diese Fragen zu beantworten, erscheint es sinnvoll, zunächst zwischen einer demokratietheoretischen und einer verfassungsrechtlichen Ebene zu differenzieren.
Auf der demokratietheoretischen Ebene stellen sich Zweifel an der fortwährenden Kompetenz des „alten“ Bundestages zur Verfassungsrevision ein. Zum einen liegt die Erwägung nahe, dass derartig tiefgreifende und nur schwierig wieder reversible Entscheidungen, wie die Entscheidung zur Änderung der Verfassung als der „rechtlichen Grundordnung des Gemeinwesens“ (Konrad Hesse), nach einer demokratischen Legitimation verlangen, über die ein in seinen verfassungsändernden Mehrheiten abgewähltes Parlament schlicht nicht länger verfügt. Zum anderen erschiene es durchaus brisant, könnte das neue, durch den jüngsten Wahlakt vollumfänglich demokratisch legitimierte Parlament gleichsam auf den letzten Metern der ablaufenden Wahlperiode von der scheidenden Volksvertretung vor vollendete, in verfassungsrechtlichen Stein gemeißelte Tatsachen gestellt, und dadurch in seiner Entscheidungs- und Handlungsfreiheit beschränkt, wenn nicht gar sabotiert werden.
Finden diese theoretischen Erwägungen nun aber auch Widerhall im geltenden Verfassungsrecht? Eine ausdrückliche Antwort auf die Frage nach den Kompetenzen des „alten“ Bundestages bleibt das Grundgesetz schuldig. Da aber Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG keine „parlamentslosen Zeiten“ kennt, sondern aufeinanderfolgende Wahlperioden vielmehr übergangslos miteinander verzahnt (vgl. Groh, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 7. Aufl. 2021, Art. 39 Rn. 13) könnte man sich mit einer in der Kommentarliteratur offenbar unbestrittenen, sehr formalistischen, Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG im Verfassungsganzen isolierenden Betrachtungsweise auf die Position zurückziehen, dass dem „alten“ Bundestag buchstäblich bis zur letzten Sekunde sämtliche Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, bei deren Handhabe er auch nicht etwa einem irgend gearteten Zurückhaltungsgebot unterworfen wäre (vgl. Groh, a.a.O., Art. 39 Rn. 12). In der Konsequenz dieser Auffassung läge es, dass namentlich auch vom „alten“ Bundestag vorgenommenen Änderungen des Grundgesetzes von Verfassungrechts wegen nichts entgegenstünde, de constitutione lata mithin ein anderes als das demokratietheoretische Ergebnis zu konstatieren wäre.
Versöhnung der beiden Ebenen im geltenden Verfassungsrecht
Interpretiert man die Bestimmung des Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG aber im Lichte des in Art. 20 Abs. 2 GG niedergelegten, das Demokratieverständnis des Grundgesetzes präzisierenden Grundsatzes der Volkssouveränität, wonach das Volk zum einen Ausgangspunkt und damit gleichsam „die letzte irdische Quelle aller Staatsgewalt“ (Friedrich Klein) ist, und zum anderen besondere Organe – unter anderem und zuvörderst das gesetzgebende Organ – just durch Wahlen mit der Ausübung dieser Staatsgewalt betraut, so kann es kaum zweifelhaft sein, dass man den Wahlakt und den sich darin manifestierenden Willen des Souveräns nicht einfach beiseiteschieben darf, und sich deshalb einer differenzierenden Betrachtungsweise betreffend die Befugnisse des „alten“ Bundestages befleißigen muss.
Wie eine solche Differenzierung auszusehen hätte, kann im gegebenen Rahmen freilich nur in äußerst groben Strichen skizziert werden. Erstens dürfen aber etwaig sich verändernde Mehrheitsverhältnisse nicht unberücksichtigt bleiben, sprich gesetzt den Fall, dass sich im Nachgang des Wahlaktes ein parlamentarischer Machtwechsel ankündigt, muss das Interregnum besonderen Regeln gehorchen. Kommt es zu entsprechend fundamentalen Verschiebungen der Mehrheitsverhältnisse, so muss zweitens weiter zwischen unterschiedlichen sachlich-inhaltlichen Tätigkeitsfeldern des Parlaments differenziert werden. Einerseits kann es nicht streitig sein, dass dem „alten“ Bundestag nicht jedwedes Tätigwerden versagt sein kann, denn andernfalls würde die ratio des Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG – parlamentslose Zustände zu vermeiden – übergangen. Dem „alten“ Bundestag muss es deshalb etwa möglich bleiben, das Interregnum sinnvoll zu verwalten, die Kontrollfunktion des Parlaments der Bundesregierung gegenüber wahrzunehmen, und auf etwaige Notlagen zu reagieren. Wenn das Votum des Souveräns einen Wert haben soll, so kann andererseits die ratio des Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG aber auch nicht ins Uferlose überdehnt werden, und muss dem „alten“ Bundestag deshalb die Beschäftigung mit Grundsatz- und das heißt insbesondere mit Verfassungsfragen verwehrt bleiben. So wird zum einen die Arbeits- und Reaktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages in Zeiten des Interregnums gewahrt, zum anderen der Intervention des Souveräns der ihr gebührende Respekt gezollt, und damit ein sinnvoller Ausgleich zwischen Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG einerseits, Art. 20 Abs. 2 GG andererseits hergestellt.
Die Stimme des Volkes – Keine Petitesse
Zwar erstreckt sich die demokratische Legitimation des „alten“ Bundstages prinzipiell über die vollen vier Jahre der Wahlperiode, die in einer Bundestagswahl sich äußernde Stimme des Volkes vermag diese Legitimation aber auf eine bloße Restlegitimation mit entsprechend reduzierten Kompetenzen zu limitieren. Gespiegelt auf die aktuelle Diskussion lässt sich in Anbetracht dessen konstatieren: Würden die in ihrer verfassungsändernden Mehrheit abgewählten Mitteparteien das Grundgesetz noch in Zeiten des Interregnums ändern, so wäre dies nicht lediglich aus demokratietheoretischer Warte eine blanke Ungeheuerlichkeit, sondern wohl auch aus der Perspektive des Grundgesetzes.
Zitiervorschlag: Grübl, Matthias, Plädoyer für eine differenzierende Betrachtungsweise der Befugnisse des „alten“ Bundestages, JuWissBlog Nr. 28/2025 v. 11.03.2025, https://www.juwiss.de/28-2025/
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