von INGO SIMON
Der alte Bundestag möchte nach der Neuwahl noch das Grundgesetz ändern. Nach einigen Entscheidungen im Kommunalrecht kommen daran Zweifel auf. Begründet sind sie jedoch nicht.
Noch diese Woche soll der alte Bundestag zusammentreten, um über die Pläne zur Grundgesetzänderung von Union und SPD zu beraten. Hintergrund sind die geänderten Mehrheitsverhältnisse im kommenden Bundestag, die der AfD und der Partei Die Linke eine Sperrminorität verschaffen werden. Union und SPD planen daher, eine entsprechende Grundgesetzänderung noch durch den alten Bundestag zu bringen. Während Die Linke wegen ihrer starken Stellung im kommenden Bundestag mittlerweile einstweiligen Rechtsschutz gegen den Zusammentritt des alten Bundestags beantragt hat, tendiert jedenfalls die ganz herrschende Auffassung in der Rechtswissenschaft dazu, keine Legitimationsminderungen des Alt-Bundestags nach der Wahl anzunehmen. Stellvertretend sei hier auf die Ausführungen von Christian Kisczio verwiesen.
Nichtsdestotrotz trifft Die Linke einen wunden Punkt. Kann es wirklich sein, dass der alte Bundestag nach der Wahl noch schnell Gesetze durchdrückt, weil er weiß, im nächsten Bundestag fehlen die Mehrheiten und das, obwohl der Souverän durch die geänderten Mehrheitsverhältnisse seine Unzufriedenheit mit dem bisherigen Bundestag ausgesprochen hat?
Alte Debatte in neuem Gewand
Die Linke ist mit ihrem demokratischen Störgefühl jedenfalls nicht allein. Die hiesige Debatte um die Kompetenzen von Volksvertretungen in der Zeit zwischen ihrer Neuwahl und dem Zusammentritt der nächsten Vertretung nahm ihren Ausgang im Kommunalrecht. Das OVG Lüneburg entschied 1987 in einer unveröffentlichten Entscheidung, dass ein Gemeinderat, der vor Ablauf seiner Wahlperiode neu gewählt wird, ab dem Zeitpunkt der Neuwahl nur noch eine geminderte Legitimation habe, wenngleich er grundsätzlich noch entscheidungs- und beschlussfähig sei. Im konkreten Fall ging es darum, dass ein Gemeinderat nach dem Tag der Neuwahl und vier Tage vor Ablauf seiner Wahlperiode noch einen Oberstadtdirektor wählte, der der abgewählten christdemokratischen Mehrheit des alten Rats nahestand (OVG Lüneburg, Urt. v. 29.9.1987 – 2 OVG A 42/87).
Das OVG Lüneburg begründete seine Zweifel an der Legitimation des alten Gemeinderats nach der Neuwahl mit einer „Rücksichtnahme auf eine Grundregel, durch die in einer repräsentativen Demokratie eine hinreichende Legitimation für längerfristig wirksame Entscheidungen sichergestellt wird: Die Vertretung, der durch die kommunale Wahl eine Entscheidungsbefugnis auf Zeit verliehen ist, darf diese nicht ohne sachlich begründete Notwendigkeit dazu benutzen, das Gemeinwesen über die Wahlperiode hinaus zu binden, um damit den Entscheidungsspielraum später verantwortlicher Gemeindevertretungen übermäßig einzuengen.“ Diese Grundregel gelte nach Auffassung des Gerichts nicht nur im Kommunalrecht, sondern sei der repräsentativen Demokratie immanent.
Im Kommunalrecht traten dem Gericht zwar einige Autoren und andere Gerichte bei (vgl. z.B. VG Magdeburg, Urt. v. 5.6.2018 – 2 A 495/17 –, Rn. 51 m.w.N.). Das geht sogar bis hin zur kreativen Konstruktion, nach der die alte Volksvertretung nach der Neuwahl nur noch nach § 677 BGB die Geschäfte für die neue Vertretung fortführe und somit mit Rücksicht auf deren mutmaßlichen Willen handeln müsse (Reich, in: Schmid u.a., Kommunalverfassung SachsAnh, SachsAnhKomVG, § 38 Rn. 8, der sich aber jedenfalls auf den Wortlaut der Kommunalverfassung stützen kann).
Freilich gibt es aber auch hier Gegenstimmen. So argumentierte das VG Freiburg gegen die Auffassung der Kommunalaufsichtsbehörde, dem alten Kreistag komme in der Zeit zwischen seiner Neuwahl und dem Zusammentritt des neuen Kreistages keine geminderte Legitimation zu: „Bedenken im Hinblick auf eine fehlende demokratische Legitimation sind nicht ersichtlich. Auch der bisherige Kreistag wurde durch eine demokratische Wahl gebildet und es ist nicht davon auszugehen, dass diese Legitimation mit der Wahl des neuen Kreistags aber vor dessen Konstituierung entfällt.“ (VG Freiburg, Beschl. v. 2.6.2014 – 3 K 1317/14 – unveröffentlicht). Durch diese Entscheidung sah sich aber der baden-württembergische Gesetzgeber wiederum dazu veranlasst, die Kompetenzen der alten kommunalen Volksvertretungen nach ihrer Neuwahl durch ausdrückliche Regelungen zu beschränken (BWLT-Drs. 15/7265, S. 38). Nach § 30 Abs. 2 Satz 4 BWGemO bleiben nun dem neuen Gemeinderat nach dessen Wahl wesentliche Entscheidungen vorbehalten, die bis zu dessen Zusammentreten aufgeschoben werden können. Man hatte also auch hier durchaus rechtspolitische Bedenken, den alten Volksvertretungen nach ihrer Neuwahl noch „wesentliche“ Entscheidungen zu überlassen.
Das freie Mandat des alten Bundestags als Bollwerk gegen die Demokratie?
Durch die Pläne des alten Bundestags hat die Debatte nun endgültig die Ebene des Staatsorganisationsrechts erreicht. Mit der Verfahrensanstrengung der Partei Die Linke können wir daher womöglich auf spannende demokratietheoretische Ausführungen des BVerfG hoffen. Denn das Problem der Kompetenzen des alten Bundestags wurzelt letztlich im Verhältnis zwischen dem Repräsentationsprinzip und dem freien Mandat (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) auf der einen Seite und der Demokratie auf der anderen Seite. Mit einem bloßen Hinweis auf Art. 39 GG kann es noch kein Bewenden haben. Es stimmt zwar, dass die alten Abgeordneten danach ihr Mandat bis zum Zusammentritt des neuen Bundestags behalten. Über die inhaltliche Reichweite ihrer Vollmacht ist damit aber noch nichts gesagt. Das beantwortet allein Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG.
Das freie Mandat steht dabei ideengeschichtlich im Gegensatz zur (ursprünglich idealtypisch verstandenen rousseauschen direkten) Demokratie. Es diente dazu, der politischen Honoratiorenelite im Liberalismus ein Mittel gegen Einflüsse der proletarischen Schichten an die Hand zu geben, sodass es auf einen empirischen sachlich-inhaltlichen Willen des Volkes nicht ankam, wenngleich die Abgeordneten natürlich für sich in Anspruch nahmen, für das ganze Volk zu sprechen (Badura, in BK-GG, Art. 38 Rn. 10). Diese Tradition des freien Mandats bedingte dann unter der Demokratisierung in der Weimarer Republik einen heftigen Streit über den aktuellen Zweck des freien Mandats und das Verständnis von Repräsentation. Man wusste zunächst schlicht nicht so recht damit umzugehen, dass zwei dem Ursprung nach gegensätzliche Institute (freies Mandat und Demokratie) nun in einer Verfassung zu finden waren. Heute ist man sich zwar einig, dass das freie Mandat auch in der Demokratie seinen rechten Platz hat und das Repräsentative eben nicht notwendig das Undemokratische an der repräsentativen Demokratie ist (so aber der berühmte Satz von Carl Schmitt, Verfassungslehre, 11. Aufl. 2017, S. 218). Die genaue Auslegung des demokratischen freien Mandats ist in einzelnen Hinsichten aber bis heute noch nicht endgültig geklärt. Das gilt zum Beispiel hier, wie die bisherige Rechtsprechung im Kommunalrecht dazu andeutet.
Dass die übliche unbeschränkte Handlungsvollmacht der Abgeordneten durch die in der Neuwahl zum Ausdruck kommende Missbilligung des Volkes tatsächlich eingeschränkt wird, ist mit guten Gründen zu bezweifeln. Dagegen spricht, dass die sachlich-inhaltliche Äußerungen des Volkes durch die Wahl viel zu unspezifisch bleibt, um daraus konkrete Einschränkungen der Kompetenzen des alten Bundestags abzuleiten. Würde man hingegen pauschal eine sachlich-inhaltliche Beschränkung der Vollmacht des alten Bundestags auf unwesentliche Entscheidungen annehmen, hieße das, er könnte im Übergangszeitraum auch keine „wesentlichen“ Entscheidungen mehr treffen, die das Volk tatsächlich will (Kochsiek, Der Alt-Bundestag, 2002, S. 135 ff.). Ob das im Sinne des Demokratieprinzips der bessere Weg ist, darf bezweifelt werden. Für den teilweise im Kommunalrecht eingeschlagene Mittelweg (Verbot des Rechtsmissbrauchs) fehlen demgegenüber klare Beurteilungskriterien. Wie soll auch eine Entscheidung, die der alte Bundestag mit der Vorstellung trifft, sie entspreche dem Volkswillen, rechtsmissbräuchlich sein? So bleibt auch zweifelhaft, ob sich aus der Entscheidung des OVG Lüneburg – ihre Richtigkeit unterstellt – hier eine Kompetenzbeschränkung ergäbe. Denn die Zweifel des Gerichts gründeten sich maßgeblich darauf, dass der neue Gemeinderat durch die Wahl von Rechts wegen für mehrere Jahre an die Entscheidung des alten Rats gebunden gewesen wäre. Eine Verfassungsänderung ist hingegen von Verfassungs wegen reversibel. Der neue Bundestag wäre an diese allenfalls faktisch wegen der geänderten Mehrheitsverhältnisse gebunden (vgl. dazu auch VG Dresden BeckRS 2014, 53413). Gibt es jedoch im neuen Bundestag keine Mehrheit für die Rücknahme der Verfassungsänderung, hat der neue Bundestag auch eben kein Interesse an ihr, sodass die Entscheidung des alten Bundestags in seinem Sinne war.
Zitiervorschlag: Simon, Ingo, Der alte Bundestag und das demokratische Störgefühl – Ein Blick ins Kommunalrecht, JuWissBlog Nr. 29/2025 v. 12.03.2025, https://www.juwiss.de/29-2025/
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