An der Grenze zur Republik Belarus liegt auf polnischem Staatsgebiet der letzte Urwald Europas. Aufgrund seiner ökologischen Einzigartigkeit unterliegt er einem zweifachen Schutzregime: Das Waldgebiet Puszcza Białowieska wird zum einen in der Welterbeliste der UNESCO geführt, zum anderen wurde es auf Vorschlag Polens im Jahr 2007 durch die Europäische Kommission nach Art. 4 Abs. 2 UA 3 der Habitatsrichtlinie 92/43/EWG als Natura-2000-Gebiet ausgewiesen. Die Puszcza Białowieska wurde damit zum Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung.
Die Bewirtschaftung des Gebiets war Gegenstand eines Eilverfahrens der Kommission gegen die Republik Polen vor dem EuGH. Vergangene Woche erging nun die Entscheidung in der Hauptsache, C-441/17. In Frage stand das massive Abholzen von teils hundertjährigen geschützten Baumbeständen. Im März 2016 war der Bewirtschaftungsplan geändert und der Hiebsatz von Bäumen mit Verweis auf die Bekämpfung des Borkenkäfers (Buchdrucker) knapp verdreifacht worden. Damit verstieß Polen gegen verschiedene Verpflichtungen aus der Habitats- und der Vogelschutzrichtlinie, 2009/147/EG.
Die Dringlichkeit der gerichtlichen Entscheidung
Von Bedeutung ist das Urteil in erster Linie für den Erhalt des geschützten Waldes. Das Ausmaß der aktiven Waldbewirtschaftung war in den vergangenen Jahren so groß, dass der Hiebsatz des auf neun Jahre festgesetzten Waldbewirtschaftungsplans bereits nach vier Jahren erschöpft war. Das intensive Abholzen des Waldes erforderte somit eine schnelle gerichtliche Entscheidung. Dies liest sich weniger in den Zeilen des Urteils, als im Verfahrensgang der Rechtssache. Der am 17. April 2018 ergangenen Hauptsacheentscheidung war ein Eilantrag der Kommission im Juli 2017 vorausgegangen, die auf eine Unterbrechung der Waldarbeiten zielte. Der EuGH gab diesem ebenso statt wie dem Antrag auf Festsetzung eines Zwangsgeldes (100.000 Euro pro Tag) im Falle des Zuwiderhandelns. Zudem hatte der Vizepräsident des EuGH (Antonio Tizzano) die Sache in Anbetracht ihrer Bedeutung an die Große Kammer verwiesen (Art. 161 Abs. 1 Verfahrensordnung EuGH). Zu guter Letzt unterlag sie nach Art. 133 VerfO EuGH dem beschleunigten Verfahren. Schneller und mit schärferen Waffen konnte der EuGH kaum vorgehen.
Anforderungen an menschliche Eingriffe für ein hohes Schutzniveau der Umwelt
Bedeutend ist das Urteil aber auch, weil der EuGH zu einem grundlegenden naturschutzrechtlichen Konflikt Stellung bezieht. Die Argumentation der polnischen Behörden zunächst und der polnischen Regierung im Weiteren, dass nämlich das Abholzen des Waldes dem Schutz des Waldes selbst diene, deckt eine grundlegende Frage des Naturschutzrechts auf: Welche Anforderungen sind an menschliche Eingriffe für den Erhalt der Biodiversität bzw. für ein hohes Schutzniveau der Umwelt (Rn. 106) zu stellen?
Laut Polen ist das Natura-2000-Gebiet Puszcza Białowieska „als solches jahrhundertelang von Menschenhand gestaltet worden“, Rn. 97. Mehr noch: Fehlendes Einschreiten habe gerade zur Gefährdung des Waldes durch den Buchdrucker geführt. Demnach müssten Bäume entfernt werden, um dessen Ausbreitung in den Fichtenbeständen des Waldes einzugrenzen und den Lebensraum geschützter Arten zu erhalten.
Die Habitatsrichtlinie verpflichtet nach Art. 6 Abs. 1 die Mitgliedstaaten, Erhaltungsmaßnahmen für geschützte Gebiete festzulegen, also Eingriffe, die dem Erhalt des Gebiets dienen. Polen ist dieser Pflicht mit dem Bewirtschaftungsplan von 2015 zunächst nachgekommen, Rn. 123. Dieser war jedoch im Jahr 2016 erweitert worden und ermöglicht nunmehr eine aktive Bewirtschaftung großer Teile des geschützten Gebiets, Rn. 129.
Solche Maßnahmen sind als Pläne und Projekte einzuordnen, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebiets in Verbindung stehen und hierfür nicht notwendig sind. Sie unterfallen dem Art. 6 Abs. 3 Habitatsrichtlinie. Für Eingriffe dieser Art besteht die Pflicht, ein UVP-Verfahren durchzuführen, dessen Voraussetzungen der EuGH erläutert. Entsprechend der Rechtsprechung des Gerichtshofs schlägt sich hier der Vorsorgegrundsatz des Europäischen Umweltrechts nieder, Rn. 112: Unter Berücksichtigung der „besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse“ (Rn. 113) sind „sämtliche Gesichtspunkte“ (Rn. 113) zu ermitteln. Diesen strengen Voraussetzungen waren die Behörden nicht gerecht geworden. Die zugrunde gelegten Daten waren veraltet und es wurden nicht alle geplanten wirtschaftlichen Aktivitäten im Wald auf ihre nachteiligen Auswirkungen hin überprüft.
Das Ökosystem als solches
Wie aber würdigte der Gerichtshof das Vorbringen Polens, dass die Bekämpfung eines Schädlings das Fällen und Entfernen von Bäumen notwendig mache? Ein Plan oder Projekt im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Habitatsrichtlinie kann nur beschlossen werden, wenn dieser das betreffende Gebiet als solches nicht beeinträchtigt, Rn. 115. In dieser Hinsicht dürfen keine vernünftigen wissenschaftlichen Zweifel verbleiben, Rn. 117, 145. Hervorzuheben ist der Bezugspunkt für die Bestimmung der Beeinträchtigung, das „als solches“ des Waldes. Das Gebiet muss in seinen „grundlegenden Eigenschaften […] dauerhaft“ (Rn. 116) erhalten bleiben. Eine einseitige Fokussierung auf die Bekämpfung eines Schädlings (dessen Schädigungsgefahr für den Wald überdies wissenschaftlich nicht hinreichend dargelegt wurde, Rn. 179) ist insofern unmöglich, als die Gesamtheit der ökologischen Eigenschaften des Gebiets in den Blick genommen werden müssen.
Als Referenzpunkt zieht der Gerichtshof den Bewirtschaftungsplan heran, in dem die polnischen Behörden selbst die Erhaltungsziele des Gebiets festgelegt haben. Die vom Buchdrucker befallenen Fichten erfüllen demnach ihre eigene Funktion im Ökosystem des Waldes. Sie bieten den Lebensraum für Arten, die dem strengen Schutz für Tiere und Pflanzen von gemeinschaftlichem Interesse, Art. 12 Abs. 1 lit. a und b der Habitatsrichtlinie, unterliegen. Auch nach Art. 5 Vogelschutzrichtlinie geschützte Vogelarten (hier, hier und hier) ernähren sich von und nisten in dem toten Holz. Dieser voraussetzungsvolle Schutz (der EuGH spricht von einem „vollständigen und wirksamen Rechtsrahmen“, Rn. 252) wurde von Polen nicht gewährleistet.
Der Bewirtschaftungsplan muss geeignet sein, die in den Anhängen I und II der Habitatsrichtlinie und Anhang I der Vogelschutzrichtlinie aufgeführten Arten und Habitate zu erhalten. Vor allem müssen diese Maßnahmen aber wirksam durchgeführt werden, Rn. 213. Damit führt der EuGH ein effet utile-Argument ein, das im Umweltrecht der EU durch das Prinzip des hohen Schutzniveaus besonders geschärft wird (Rn. 118). Die verschiedenen Mechanismen des europäischen Naturschutzrechts greifen ineinander und verdeutlichen, dass von den Mitgliedstaaten ein kohärentes und wirksames System verlangt wird. Mit klaren Worten deckt der EuGH den Doppelboden der polnischen Argumentation auf, wenn er sagt: „Nicht der Buchdrucker ist im Bewirtschaftungsplan […] als potentielle Gefahr für das Natura-2000-Gebiet identifiziert worden, sondern die Entfernung von ihm befallener hundertjähriger Fichten und Kiefern“, Rn. 220. In diesen Worten liegt der Vorwurf, die polnischen Behörden hätten vor lauter (ökonomisch ertragreichen) Bäumen den (zu schützenden) Wald nicht mehr gesehen. Es ist insofern erfreulich, dass von polnischer Seite die Umsetzung des Urteils direkt angekündigt wurde.
Der EuGH scheut sich nicht, die nahezu provokant widersprüchliche Argumentation Polens dogmatisch eng am Text der Vogelschutz- und Habitatsrichtlinien entlang zu widerlegen. Der Fall öffnet ihm so die Gelegenheit, das Schutzregime dieser beiden Richtlinien klar mit dem Vorsorgegrundsatz zu verknüpfen. Menschliche Eingriffe müssen in ihrer Zielsetzung den Erhalt des geschützten Gebiets nicht nur bezwecken, sondern auch bewirken. Es reicht auch nicht, das Gebiet irgendwie oder in Teilen zu erhalten, es muss in seiner Besonderheit fortbestehen können, die zu einem früheren Zeitpunkt den Schutzmechanismus ausgelöst hat. Nur so kann der Umgehung des Europarechts durch vermeintliche Schutzmaßnahmen begegnet werden.
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