Neue Aktualität der Staatsferne des Rundfunks? Das „Deutschland-Fernsehen“ und die Onlinekanäle der Regierung

von LUKAS FREDERIK MÜLLER

Im maßstabsetzenden „ersten Rundfunkurteil“ hat das Bundesverfassungsgericht der damaligen Bundesregierung 1961 die Errichtung eines „Deutschland-Fernsehens“ verboten. Ein Fernsehsender darf sich nicht in der Hand des Staates befinden, sondern muss in sich plural organisiert sein – der Grundstein der Rundfunkordnung der Bundesrepublik bis heute. Diese Entscheidung hat nun dank Jan Böhmermann ungeahnte Aktualität gewonnen, der in seiner Sendung fragt, wie es mit den engen Bindungen des Rundfunks zusammenpasst, dass die Regierung auf ihren Onlinekanälen unkontrolliert Sendungen verbreitet, die jedenfalls stark an das erinnern, was gemeinhin als Rundfunk verstanden wird.

Maßstab der Verfassung: Rundfunkfreiheit und Staatsferne

Diese Auftritte werden naturgemäß durch eigene Mitarbeiter gestaltet, alternative Standpunkte kommen nicht vor. Wie Böhmermann zeigt, kann das dort problematisch sein, wo der Eindruck journalistischer Tätigkeit geweckt wird, in Wahrheit aber vorbereitete Fragenkataloge dazu dienen, die Positionen der Regierung zu verbreiten. Kanzlerin Merkel selbst bemerkte 2015 dazu: „das Internet ermöglicht es mir ja, dass ich mir meinen eigenen Sender baue und ich nur noch Fragesteller habe, die das fragen, was ich gerne hätte“, „stellen Sie sich mal vor, ich mache jetzt dauernd meinen eigenen Rundfunk“ – und fügte hinzu: „das wird auch nicht so gerne gesehen.“

Im Pressebereich wäre das weitgehend unproblematisch, weil dort schlicht eine Vielzahl von Informationsquellen um Aufmerksamkeit konkurriert. Der Maßstab, der von der Verfassung traditionell an Rundfunk angelegt wird, ist aber ein anderer. Hier soll Meinungsvielfalt nicht alleine durch Wettbewerb gewährleistet werden, sondern vor allem durch Pluralität und Staatsferne. Die Rundfunkfreiheit verbietet also zuallererst die Veranstaltung von Rundfunk durch den Staat selbst. Das Verfassungsgericht benennt es im ersten Rundfunkurteil zum „Deutschland-Fernsehen“ ausdrücklich als unzulässig, „… daß der Staat […] eine […] Gesellschaft beherrscht, die Rundfunksendungen veranstaltet“ (Rn. 183). Stattdessen sollen sich gerade im öffentlich-rechtlichen Rundfunk die verschiedensten Gesellschaftsgruppen und Positionen wiederfinden, um ihnen unabhängig von ihrer Marktmacht Gehör zu verschaffen.

An diesem Maßstab müssten sich die Onlinekanäle der Regierung in der Tat messen lassen. Bei den Streaming- und wohl auch On-Demand-Angeboten handelt es sich nach dem gegenwärtigen Meinungsstand um Rundfunk nach dem Begriff des Art. 5 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz; Ihre Übermittlung erfolgt drahtlos, richtet sich an die Öffentlichkeit und enthält teilweise redaktionell gestaltete Inhalte.

Allerdings muss man bezweifeln, ob das unumstößliche Gebot der Staatsferne aus dem Urteil von 1961 vor diesem Hintergrund uneingeschränkt in die heutige Medienwelt übertragen werden kann.

Neue Maßstäbe in einer veränderten Medienlandschaft

Die Entscheidung erfolgte vor dem Hintergrund einer medialen Umgebung, in der neben Druckerzeugnissen nur eine sehr kleine Zahl von Sendern die Bevölkerung informierten: Als grundlegende Prämisse galt, dass der Rundfunk „eminenter ‚Faktor‘ der öffentlichen Meinungsbildung“ ist (Rn. 179). Darin schlägt sich gerade die Besonderheit nieder, durch die sich Rundfunk und Presse unterscheiden:

„Der Unterschied […] besteht […] darin, daß […] eine relativ große Zahl von […] konkurrierenden Presseerzeugnissen existiert, während im Bereich des Rundfunks sowohl aus technischen Gründen als auch mit Rücksicht auf den außergewöhnlich großen finanziellen Aufwand […] die Zahl der Träger solcher Veranstaltungen verhältnismäßig klein bleiben muß.“ (Rn. 180)

Das hat sich erkennbar geändert. Die öffentlich-rechtlichen Sender bleiben zwar dominant und müssen daher den über die Jahre entwickelten Bindungen genügen. Zum vielfältigen Angebot an Informationsquellen gehört mittlerweile aber eine Fülle weiterer, teils winziger Rundfunkaktivitäten, aus denen sich Privatpersonen wie Journalisten bedienen und sich ein Gesamtbild der Meinungslage machen. Die Kanäle der Regierung sind nur ein kleiner Ausschnitt daraus.

Das Verfassungsrecht kann diese gesellschaftliche Tatsache anerkennen, indem es sich schlicht an der Konsumentenperspektive orientiert: Entscheidend ist der Grad an Breitenwirkung, Suggestivkraft und der daraus folgenden Meinungsbildungskraft, die von dem jeweiligen Medium ausgeht.

Dieser Ansatz lässt sich sogar dem ersten Rundfunkurteil entnehmen. Dort deutet das Verfassungsgericht an, dass es im Bereich der Presse auch staatliche Aktivitäten für zulässig hält, „wenn sie wegen der Konkurrenz mit der Fülle der vom Staat unabhängigen Zeitungen und Zeitschriften an dem Bild der freien Presse substantiell nichts ändern würde[n].“ (Rn. 178)

Legt man diesen Maßstab in der heutigen Medienwelt an, ergibt sich ein differenziertes Bild. Während sich im klassischen Rundfunkbereich nach wie vor wenige große und reichweitenstarke Player bewegen, ist in den Onlinemedien überwiegend das Gegenteil der Fall. Parallel zum Pressebereich existiert hier heute eine unendliche Fülle von Anbietern, die in ihrer Gesamtheit eine nie dagewesene Vielfalt begründen, wenn auch sie für sich gesehen mit klarem Standpunkt agieren. Mit Blick auf die Meinungsbildungskraft ergibt sich im Internet zwar kein einheitliches Bild, auch hier sind eine Reihe sehr reichweitenstarker Akteure aktiv. Entscheidend für die Frage der Staatsferne ist aber, dass eine solch überragende Meinungsbildungskraft im fragmentierten Internetrundfunk klassischerweise nicht mehr besteht und es daher keinen Grund gibt, staatlichen Stellen den Zugang hier per se zu verwehren. Stattdessen sollte man diese Kriterien als verfassungsrechtliche Grenze für die Onlineaktivitäten des Staates begreifen.

Dafür, der Regierung den Zugang zu derlei Kanälen zu eröffnen, spricht ganz zentral auch ihre Aufgabe, die Öffentlichkeit zu informieren, die aus Art. 65 Grundgesetz folgt. Diese Tätigkeiten werden wiederum durch die allgemeinen Regeln des staatlichen Informationshandelns begrenzt, wobei sich besonders hohe Anforderungen ergeben, wenn eine Aussage unter Rückgriff auf die Autorität eines Regierungsamtes erfolgt, wie es auf den Kanälen der Regierung stets der Fall ist.

Die Situation nach dem Rundfunkstaatsvertrag

Eine andere Frage ist die der Situation nach dem Rundfunkstaatsvertrag, zu der Böhmermann und das Presseamt der Regierung schwerpunktmäßig argumentiert haben. Dort ist die Lage im Gegensatz zum Verfassungsrecht klar: Nach § 20a Abs. 3 Rundfunkstaatsvertrag ist die Veranstaltung von Rundfunk durch den Staat nicht zulässig, nur Telemedien können genutzt werden. Die entscheidende Grenze zieht hier daher der Rundfunkbegriff aus §2. Dessen Voraussetzung erfüllt nur ein Programm, das insofern zum zeitgleichen Empfang erfolgt, als bei der Ausstrahlung eine vorgegebene Reihenfolge von Sendungen eingehalten wird, die einem redaktionell gestalteten Sendeplan folgt – der Nutzer es also nicht in der Hand hat, wann er sich die Ausstrahlung anschaut.

Mediatheken und On-Demand-Angebote fallen daher aus dem Rundfunkbegriff heraus, also auch die nur zum Abruf bereitstehenden Reportagen und Interviews auf den Regierungskanälen. Allerdings umfasst das Angebot auch sporadische Liveübertragungen, vor allem von Pressestatements der Kanzlerin und ihren Staatsgästen.

Online-Liveübertragungen sind generell auch linear, springender Punkt ist hier aber, dass Auswahl und zeitliche Abfolge der Inhalte redaktionell vorgegeben sind. In diesem Grenzbereich hat sich die Kanzlerin selbst schon bewegt, als sie 2013 einen „Google-Hangout“ veranstaltet hat, einen öffentlich ausgestrahlten moderierten Live-Chat. Ob das zulässig war, wurde von der Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) nach öffentlicher Diskussion aber bejaht. Entscheidend war, dass die einmalige Übertragung keine Abfolge von Inhalten, also nicht mehrere Sendungen nach einem Sendeplan darstellt. In dem gleichen Grenzbereich bewegt sich auch das Parlamentsfernsehen des Bundestags, das nach der ZAK Rundfunk darstellt. Die übertragenen Debatten, Anhörungen und Ausschusssitzungen sind in sich zwar nicht redaktionell gestaltet, folgen aber einem Sendeplan, wobei der Bürger keine Möglichkeit zu einem individuellen Abruf hat.

Auf den Onlinekanälen der Bundesregierung finden Liveübertragungen demgegenüber nur vereinzelt und ohne festes Schema statt. Es fehlt hier daher an einem redaktionell gestalteten Sendeplan, der dem Nutzer einen bestimmten Programmablauf vorgibt. Der Schwerpunkt liegt nicht auf einem zeitgleichen Zugriff der Nutzer, sondern auf dem Abruf der vorgehaltenen Angebote aus der Mediathek zu einem vom Nutzer gewählten Zeitpunkt. Auch die Live-Beiträge machen die Kanäle der Regierung folglich nicht zu Rundfunk.

Der Beitrag Böhmermanns hat also einen spannenden Themenkomplex zu Tage befördert, die darin pointiert inszenierte Subsumtion der einzelnen Merkmale ist allerdings wohl etwas überschießend. Ob es in der heutigen Medienumgebung überzeugend ist, die Anwendung der rundfunkrechtlichen Regulierung davon abhängig zu machen, ob Videos zum Abruf bereitstellt oder live übertragen werden, steht auf einem anderen Blatt – ebenso wie die gesellschaftlich-politische Dimension der Thematik insgesamt, die die Herren des Polit-Podcasts „Lage der Nation“ zu Recht aufwerfen: Es bedarf einer ganz neuen Medienkompetenz, seitdem sich Politiker nicht mehr nur gefiltert durch Journalisten, sondern zunehmend direkt über Internetmedien an die Bürger wenden.

 

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Böhmermann, Bundesregierung, Lukas Frederik Müller, Rundfunkrecht, Staatsferne
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4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Interessanterweise kann die Bundesregierung sich auch auf die vor allem von Zeitungsverlagen vertretene und in den Rundfunkstaatsverträgen festgehaltene Position stützen, dass es sich bei Internetangeboten nicht um Rundfunk im eigentlichen Sinne handelt. Demnach werden die Angebote der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Internet stark eingeschränkt und die Bundesregierung betreibt demnach keinen Rundfunk, wenn sie im Internet sendet.

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    • In diesem Zusammenhang verstehe ich dann nicht wie Personen die einen Stream betreiben genau dann eine Rundfunklizenz brauchen wenn es doch eigentlich kein Rundfunk ist oder besitzt das Bundestag als solches eine Rundfunklizenz? Denn dort sind die Sitzungen auch Live zu verlogen zu regelmäßigen Zeiten.

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      • Dann wäre der Bundestag also ein privater und kein öffentlich-rechtlicher Sender? Auch ein interessante Volte.
        Andererseits kann man das Übertragen von Bundestagssendungen durchaus mit dem Informationsauftrag in Übereinstimmung bringen, den eigentlich die öffentlich-rechtlichen Sender haben. Und in diesen sind Liveschaltungen von Parlamentssitzungen schon lange auf dem Rückmarsch.

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    • Danke für Euer Interesse!
      Die Annahme, dass Angebote im Internet nach dem Rundfunkstaatsvertrag generell keinen Rundfunk darstellen können, ist wohl ein Missverständnis. Der Rundfunkbegriff ist, wie im Text verlinkt, in §2 geregelt (http://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/RFunkStVertr-2), die Verbreitungsform ist dabei erstmal irrelevant.
      Genau deshalb kommt es zu den aufgezeigten diversen Spannungen in letzter Zeit, besonders prominent beispielsweise beim DKB-Livestream zur Handball-EM im letzten Jahr. Für den bejahte die ZAK die Rundfunkeigenschaft mit dem Argument, dass wegen der Vielzahl der übertragenen Spiele ein redaktioneller Sendeplan besteht (https://www.kjm-online.de/service/pressemitteilungen/meldung/news/zak-beanstandet-internet-liveuebertragung-der-handball-wm-2017/).
      Die von Euch angesprochene Situation zum Bundestag Parlamentsfernsehen ist besonders kompliziert. Wie im Text dargestellt, handelt es sich nach der ZAK dabei um Rundfunk. Die Frage der Zulässigkeit ist hier wegen dem genannten §20a III RStV äußerst problematisch, wird aber im Wege einer verfassungskonformen Reduktion unter Verweis auf die Öffentlichkeit der Verhandlungen wegen Art. 42 I 1 GG bejaht.
      Beste Grüße

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