Mehr Smend für die Staatsorganisation – Zur jüngsten BVerfG-Entscheidung in Sachen „Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitgliedern“

von MATHIAS HONER

Frieder Günther zeigte in seiner Studie „Denken vom Staat her“, dass sich die Deutsche Staatsrechtswissenschaft im Grunde auf zwei Linien zurückverfolgen lässt: Dezision oder Integration – Schmitt oder Smend; neben Heller und Kelsen die Protagonisten des sogenannten Weimarer Richtungsstreits. Für das Bundesverfassungsgericht gilt das – vereinfacht betrachtet – gleichermaßen: Während der erste Senat die auf Smend zurückgehende Idee einer objektiven Werteordnung zur Grundlage seiner Grundrechtstheorie macht, begreift der zweite Senat im Anschluss an Schmitt die souveräne Staatlichkeit als Voraussetzung der Verfassung. Dies liegt nahe: Wird mit dem zweiten Senat die hohe Staatlichkeit in der Welt und gegenüber der Europäischen Integration verteidigt, bietet der Rückgriff auf Schmitt’sche Figuren überzeugende Argumentationsmuster. Demgegenüber eignet sich Smends Integrationslehre, um die Ausdehnung des grundrechtlichen Wirkungsbereichs auf die komplette Rechtsordnung zu begründen. Dabei lohnt eine stärkere Rezeption Smends auch für die Staatsorganisation. Die  jüngste Entscheidung des BVerfG in Sachen „Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitgliedern“ macht diesen Bedarf sichtbar.

Das BVerfG zu Äußerungsgrenzen: Parteipolitisches Neutralitätsgebot

In seinen Schwesig- und Wanka-Entscheidungen präzisierte das BVerfG die Äußerungsgrenzen von Regierungsmitgliedern. Ihre Hauptaussage lässt sich – bei der einen oder anderen Subsumtionsschwierigkeit im Einzelfall – doch recht einfach zusammenfassen: Agiert ein Regierungsmitglied in staatlicher Funktion, greift das Gebot der parteipolitischen Neutralität. Das gilt jedenfalls immer dann, wenn das Regierungsmitglied amtliche Ressourcen nutzt.

Von daher war der Ausgang der Entscheidung des BVerfG zu den Äußerungsgrenzen des Bundesinnenministers keine Überraschung. Horst Seehofer äußerte sich kritisch gegenüber der AfD-Bundestagsfraktion, wofür er die amtliche Internetpräsenz des Ministeriums gebrauchte. Damit verletzte er die Pflicht zur parteipolitischen Neutralität. Der Antrag der AfD im Organstreitverfahren hatte Erfolg. Auf Basis der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des BVerfG war diese Entscheidung konsequent und überaus vorhersehbar. Die ihr zugrunde liegende Prämisse eines parteipolitischen Neutralitätgebots für Regierungsvertreter ist jedoch alles andere als zwingend. Nimmt man Rudolf Smend in den Blick, muss eine solche Äußerungsgrenze wohl sogar abgelehnt werden.

Die Politik im Staat

Geht bei Carl Schmitt das Politische dem Staatlichen voraus, findet es bei Rudolf Smend seinen Platz inmitten des Staates: Mit einer eigenen Funktion bedacht steht es der Funktion des Rechtslebens gegenüber. Dieser politische Bereich erstreckt sich im Grundgesetz quer über die herkömmlichen Gewalten. Er dürfte jedenfalls den Bundestag und die Bundesregierung erfassen und wiederum in Regierung und Opposition zerfallen.

Ist das Politische Bestandteil des Staates, so ziehen auch politische Eigengesetzlichkeiten in das Staatsleben ein. Im Staat des Grundgesetzes bedeuten politische dabei zwangsläufig parteipolitische Eigengesetzlichkeiten (Art. 21 GG). An dieser Stelle kapituliert die Normativität nicht vor der Faktizität; Recht wird nicht von der Politik überrollt. Es nimmt vielmehr politische Wirkungsweisen zur Kenntnis und stellt sie in den Dienst der normativ gewollten Gemeinwohlkonkretisierung: Ist das Gemeinwohl im pluralistischen Gemeinwesen grundsätzlich nicht kraft besonderer Expertise zu erkennen, sondern schlicht zu erstreiten, kommt den parteipolitisierten Amtsträgern für diese Funktion eine besondere Befähigung zu – nicht trotz, sondern wegen ihrer parteipolitischen Prägung. Immerhin sind sie aufgrund eines parteipolitisch geprägten Gemeinwohlkonzepts gewählt und besitzen darum eine demokratisch legitimierte Wertungskompetenz, wie sie für die demokratisch gebotene politische Gemeinwohlkonkretisierung erforderlich ist.

Die Wettbewerbslogik als Grenze

Eine Distanz zur Parteipolitik oder ein allgemeines Gebot parteipolitischer Neutralität kann für Akteure dieses politischen Bereiches dann nicht gelten. Grenzen für hoheitliche Äußerungen ergeben sich gleichwohl; sie können anhand konkreter Rechtspositionen unter Berücksichtigung der politischen Eigenlogik entnommen werden: Begreift man die Demokratie als Wettbewerbsordnung (Hatje, VVDStRL 69 (2010), 135ff.), der auch die Regierung angehört, kommt insbesondere die Wettbewerbsgleichheit der politischen Konkurrenz ins Spiel (Art. 21 I i.V.m. Art. 3 I GG). Immerhin steht den Amtsträgern der Regierung ein Mehr an Ressourcen zur Verfügung, das der politischen Konkurrenz versperrt ist. Das Missverhältnis intensiviert sich, wenn sich der Wettbewerb wie im Wahlkampf vorläufig auf der Zielgeraden befindet. Eindeutige Grenzen werden sich dabei jedoch kaum bestimmen lassen. Jedenfalls ein absolutes Neutralitätsverbot widerspräche der grundgesetzlich gewollten (Partei-)Politisierung gubernativer Ämter (siehe dazu bereits Gärditz sowie Payandeh, in: Der Staat 2016, 519); ein gewisser parteipolitischer Charakter im Rahmen einer amtlichen Äußerung der Bundesregierung ist darum unvermeidbar. Abwägungen anstelle grundgesetzlich ungewollter und tatsächlich unmöglicher Trennungsgebote helfen auch hier weiter. Folgende Überlegungen könnten ihre Richtschnur bilden:

– Je mehr Ressourcen für die Äußerung in Anspruch genommen werden, desto geringer darf der parteiergreifende Bezug der Äußerung ausfallen und umso enger muss der Bezug zu einer Sachfrage, die im Verantwortungsbereich der Bundesregierung liegt, sein.

– Je stärker die Äußerung in einen Wahlkampfkontext fällt, desto zurückhaltender müssen sich die Bundesregierung bzw. ihre Mitglieder äußern.

Seehofer und die AfD

Verfahrensgegenstand der aktuellen BVerfG-Entscheidung war ein im September 2018 auf der Internetseite des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat veröffentlichtes Interview mit dem Titel „Seehofer versteht die Aufregung nicht: GroKo arbeitet ‚störungsfrei‘ – Ein Interview mit Bundesinnenminister Horst Seehofer zur großen Koalition (GroKo)“. Hierin kritisierte der Bundesinnenminister die AfD-Bundestagsfraktion für deren Angriffe auf den Bundespräsidenten. So heißt es unter anderem: „Die stellen sich gegen diesen Staat. Da können sie tausend Mal sagen, sie sind Demokraten. Das haben Sie am Dienstag im Bundestag miterleben können mit dem Frontalangriff auf den Bundespräsidenten. Das ist für unseren Staat hochgefährlich. Das muss man scharf verurteilen. Ich kann mich nicht im Bundestag hinstellen und wie auf dem Jahrmarkt den Bundespräsidenten abkanzeln. Das ist staatszersetzend.“

Zwar wurde mit der Internetpräsenz des Bundesinnenministeriums eine amtliche Ressource genutzt. In Zeiten von Twitter, Facebook & Co. ist ihr Mehrwert im parteipolitischen Wettbewerb jedoch überschaubar (siehe bereits Gärditz im Fall Wanka). Eine parteiergreifende Stellungnahme war darum grundsätzlich zulässig. Ein nur loser Bezug zur Politik der Regierung und der übrigen Verfassungsorgane genügte. Ohnehin wird der Bürger die scharf anmutenden Vorwürfe Seehofers schnell als einen dem politischen Wettbewerb eigentümlichen Verbalaustausch identifizieren. Daran ändert auch die bloß zeitliche Nähe zur Landtagswahl in Bayern und Hessen nichts: Die beteiligten Akteure standen im Rahmen der beiden Landtagswahlen in keinem Wettbewerbsverhältnis zueinander. Auch sonst wurde kein Bezug zu den Landtagswahlen hergestellt.

Die gebotene Offenheit des Ausgangs des politischen Wettbewerbs

Vor den verbleibenden Belastungen der parteipolitischen Opposition dürfen gleichwohl nicht die Augen verschlossen werden. Amtliche Öffentlichkeitsarbeit erhält typischerweise besondere Aufmerksamkeit, die stets den Amtsträgern zugutekommt. Im Falle der Bundesregierung sind sie zugleich Teil des Wettbewerbes. Um jedoch den vom BVerfG wiederholt zu Recht verteidigten offenen Ausgang des politischen Wettbewerbs zu sichern, müssen die politischen Eigengesetzlichkeiten dieses Verfassungsbereichs in den Blick genommen werden. Dies legt unter anderem die verfassungsrechtliche Notwendigkeit spezifischer Oppositionsrechte, beispielsweise in Gestalt des finanziellen Oppositionszuschlags, nahe. Ein verfassungsrechtlich ungewolltes, kaum praktikables und von der Öffentlichkeit ohnehin als künstlich empfundenes Gebot parteipolitischer Distanz der Regierungsmitglieder hilft hingegen nicht.

Ganz nebenbei kann durch eine so verstandene parteipolitische Öffentlichkeitsarbeit die Integration der Bevölkerung in das politische Gemeinwesen gefördert werden, die Smend ganz maßgeblich den Grundrechten zugedacht hatte – freilich nicht zur politischen Homogenität, sondern zur Pluralität.

Zitiervorschlag: Mathias Honer, Mehr Smend für die Staatsorganisation – Zur jüngsten BVerfG-Entscheidung in Sachen „Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitgliedern“, JuWissBlog Nr. 79/2020 v. 10.06.2020, https://www.juwiss.de/79-2020/.

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