Politische Öffentlichkeitsneutralität – wie lange noch?

von MARVIN DAMIAN HUBIG

Erneut durfte das BVerfG über Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitglieder:Innen, vorliegend der ehemaligen Kanzlerin selbst, entscheiden. Hierbei war ihm abermals die Möglichkeit gegeben, in seiner knappen 5:3-Entscheidung die Grundsätze der Öffentlichkeitsarbeit zu präzisieren. Überraschenderweise distanzierte sich Richterin Wallrabenstein mit einem Sondervotum und stellte klar: regierungsamtliche Äußerungen sollten keinem generellen Neutralitätsgebot unterliegen. Der Fokus sei von der Differenzierung zwischen Parteipolitik und amtlichen Auftreten bei demokratisch in ihr Amt gewählten Personen, auf die Abgrenzung zwischen fachexekutiven und gubernativen Aufgaben zu richten. Der im Jahre 1977 (BVerfG, Urt. v. 02.03.1977 – 2 BvE 1/76 -, Rn. 68 ff., 77, 138) entwickelte Neutralitätsgrundsatz diene im Kern der Verhinderung der Einflussnahme in den öffentlichen Diskurs zu Gunsten oder zu Lasten von politischen Konkurrenzparteien durch die Inanspruchnahme regierungsamtlicher Ressourcen in Wahlkampfzeiten. Es ist zu hoffen, dass sich die Verfassungsrechtsprechung dem anschließen wird.

Minimalneuheiten

Wie üblich richtete das BVerfG seinen Bewertungsmaßstab bei der Gewichtung der mit dem Geist von Smend eingenebelten Staatsleitungskompetenz mit der Chancengleichheit der betroffenen politischen Partei (Rn. 71 ff.), an den konkreten Umständen der Äußerung und ihrer Folgehandlungen aus (Rn. 134 ff.). Die konkreten Abwägungsgesichtspunkte sind dem Grunde nach bekannt und stimmen mit dem kalten Kaffee vorheriger Äußerungsentscheidungen überein.

Neu ist die Konkretisierung für das Bundeskanzler:Innenamt (Rn. 84 ff.). So stellte das Gericht zurecht fest, dass das Kanzler:Innenamt in Rahmen einer regierungsbezogenen Allzuständigkeit auch die kommunikative Staatsleitungsaufgabe ohne besonders verschärfte Anforderungen auszuführen hat (Rn. 89, 90) und nicht den mit dem Bundespräsident:Innenamt einhergehenden repräsentationsgeprägten Äußerungsbefugnissen gleichzustellen ist (Rn. 87).

Ebenfalls ergeht aus der Entscheidung eine dogmatische Schärfung der Abgrenzung von partei-oder regierungsbezogenen Äußerungen. Maßgeblich ist vor allem nicht der Umstand, ob die Äußerung im Regelzuständigkeitsrahmen erfolgt. Regierungshandeln kann auch außerhalb des Kompetenzbereiches chancengleichheitskompromittierende Wirkung entfalten, wenn spezifische Regierungsautorität damit verbunden wird (Rn. 125 ff, 128). Im Vergleich zur vorgelagerten Seehofer-Entscheidung legt das Gericht einen strengeren Maßstab an zulässige parteiische Äußerungen an, denn in besagter Entscheidung ergab sich die Autoritätsinanspruchnahme trotz streitbefangener Äußerung in Ministeriumsräumlichkeiten allein aus dem Hochladen des Interviewtextes auf die Regierungshomepage, ohne ausdrücklichen Bezug zur parteipolitischen Tätigkeit (dort, Rn. 79 ff.), während vorliegend die Äußerung selbst und das Hochladen den Neutralitätsverstoß begründeten.

Unpolitische Politik

Das Sondervotum Wallrabensteins sticht unmittelbar in den dogmatischen und demokratietheoretischen Schwachpunkt der Rechtsprechung des BVerfG – nämlich dessen Neutralitätsherzkammer. Dabei werden jedoch die Erfordernisse an Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit der Öffentlichkeitskommunikation nicht berührt.

Die Anerkennung der Doppelrolle von Regierungsmitgliedern als verwaltungssachliche Staatslenker und gleichzeitig inhärent politische Parteiakteure (Rn. 77, 138 ff.) steht im direkten Widerspruch zum absoluten Neutralitätsgrundsatz, der jede Hinsicht des amtsautoritären Handelns als demokratisch legitimiertes, meistens dem Bundestag entstammenden Regierungsmitgliedes betrifft (Rn. 3 ff. des Votums). Durch die Fortsetzung der aktuellen Rechtsprechung bleiben die Wechselwirkungen zwischen Staat und Gesellschaft, die sich aus dem demokratischen Willensbildungs-und Kommunikationsprozess ergeben, auch weiterhin unberücksichtigt (Rn. 8). Bereits die Auslegungsmethode zur Ermittlung des Neutralitätsgehaltes amtsautoritärer Äußerungen geht, völlig zurecht „an der Wirklichkeit vorbei“, zumal Bürger:Innen von Regierungsmitgliedern nur soweit es um Sachverwaltung geht Neutralität erwarten (Rn. 12 ff). Vielmehr erwarten sie die Repräsentation ihrer verfassungsrechtlich eingehegten politischen Anschauungen. Die in jeder Hinsicht geforderte regierungsmitgliedliche Neutralitätsverpflichtung wirkt künstlich und steht in Tradition einer deutschen Entpolitisierung der Politik.

Der Fokus unter dem Banner der „Neutralität“ muss auf die Schwellenüberschreitung zur öffentlichen Ressourcennutzung gegenüber politischen Parteien gestellt werden und nicht auf die Differenzierung zwischen (partei-)politischen und regierungsamtlichen Äußerung (Rn. 17, 22, 23). Es darf nicht vergessen werden: Regierungsmitglieder sind auch politisch gegenüber Wähler:Innen und der Allgemeinheit dazu verpflichtet, in verfassungsmäßigen Grenzen ihre politischen Ziele zu verwirklichen. Dafür wurden sie gewählt.

Die verfassungsrechtlich vorgezeichnete Fähigkeit einer Regierung zur Selbstdarstellung und politischen Äußerung ist von der reinen Sachverwaltung abzugrenzen, die zu dem Aufgabenkanon der Regierungsmitglieder als Leiter oberster Fachbehörden gehört. In diesem Falle gelten, so auch Wallrabenstein (Rn. 11. f.), die allgemeinen Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit.

Die Ausdehnung der Neutralitätspflicht auf allgemeine Amtsautorität (Rn. 24.) beruht auf einem Fehlverständnis der vermeintlichen Keimzelle dieser Rechtsprechungslinie im Jahre 1977. Zwar werden in dieser berechtigterweise vielzitierten Entscheidung die Wechselwirkungen zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre und die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen hinreichend beschrieben.Jedoch kann daraus, auch entgegen den Zitiergewohnheiten der Fachgerichte, welche die angeführte Entscheidung als Ursprung einer umfassenden Neutralitätspflicht behandeln, keine allgemeine Neutralitätspflicht abgeleitet werden. Vielmehr stand nämlich der Einsatz von staatlichen Finanzressourcen der damaligen Bundesregierung zu Lasten der Chancengleichheit politischer Parteien in Wahlkampfzeiten im Vordergrund (Payadeh, DER STAAT 2016, 519, 526). Mit dem Überschreiten des Bezuges zum Ressourceneinsatz hat das BVerfG der freien Äußerung des demokratisch legitimierten politischen Willens seitens Regierungsmitgliedern einen Bärendienst erwiesen.

Die sich auf Äußerungsbefugnisse beziehende Rechtsprechung der allumfassenden Neutralitätspflicht verkennt das sinnstiftende Element der freien demokratischen Grundordnung: die freie Kommunikationsgesellschaft als Solche, die in der demokratischen und damit politischen Ausübung des Wahlrechtes gipfelt und in jeglichen Regierungshandlungen und somit auch in der Kommunikation sich widerzuspiegeln hat – zumal sich das BVerfG regelmäßig in seiner Rechtsprechung zum Schutz dieses Willensbildungsprozesses zurecht berufen sieht (Rn. 71 ff.).

Dies heißt nicht, dass Parteien gegenüber Regierungsäußerungen hinsichtlich ihrer Chancengleichheit wehrlos sind, denn auch hier tritt Rechtsstaatlichkeit in Konkurrenz zum Demokratieprinzip – zumal auch zurecht die Zulässigkeit der Öffentlichkeitsarbeit dort endet, wo explizite Parteiwerbung beginnt (Rn. 115).

Fazit

Die Rechtsprechung des BVerfG geht von einer entpolitisierten Ideengrundlage und einer aus ihr fließenden Entscheidungsfindung der Bundesregierung unter der Prämisse einer technokratischen Einschätzungsprärogative aus, welche im Kern anzunehmen scheint, Regierungsentscheidungen würden im apolitischen Raum gebildet (Rn. 14 des Votums). Der mit dieser Rechtsprechung transportierte Neutralitätsanschein, der jegliches Regierungshandeln gegenüber der Öffentlichkeit erfasst und Parteien nicht betreffen darf, scheint einem an eine Quasinatürlichkeit heranreichendem unpolitischen Grundbild staatlichen Handelns zu entsprechen, obschon bereits Regelungsgrundlagen des Regierungshandelns in den Art. 62 ff. GG und der GOBReg und jegliches nach außen getragene gesetzgeberische und äußerungsbezogene Handeln der Bundesregierung eine politische Grundlage aufweist. Und zurecht gibt es ein gubernatives Selbstverständnis einer demokratisch in das Amt gekommenen Regierung, die nach ihrer Wahl einen politischen Unterschied zu anderen Regierungen im Verfassungsrahmen zu machen hat (Rn. 14). Alles andere würde Sinn und Zweck einer Art. 38 GG entsprechenden Wahl zuwiderlaufen. Weiterhin zu Lasten der jahrzehntelangen Rechtsprechung des BVerfG wirkt der Umstand, dass es an einem generellen und somit rechtssicheren Maßstab in der praxisbezogenen Neutralitätsbewertung fehlt (Rn. 17). Nach der von Richterin Wallrabenstein deutlich festgehaltenen Kritik und den insgesamt drei Gegenstimmen aus dem Senat bleibt zu hoffen, dass eine Veränderung der Rechtsprechung eintritt, zumal politische Parteien aus Chancengleichheitsaspekten durch eine Neutralitätspflichtabkehr nicht rechtslos gestellt würden.

Noch etwas Grundsätzliches zur Staatsleitungskompetenz…

…selbst wenn man der Rechtsprechung zu den Grundsätzen der Öffentlichkeitsarbeit des BVerfG in Gänze folgen sollte, muss man sich mittlerweile die Frage nach der Normierbarkeit der Grundsätze der Öffentlichkeitsarbeit stellen – reichen die Grundsätze doch nach Rechtsprechungsansicht weit in Äußerungsbefugnisse hinein und können diese im Einzelfall grundrechtsintensiv als funktionale Äquivalente zu Grundrechtseingriffen und im Einzelfall selbst als direkter Grundrechtseingriff wirken . Es existieren dutzende Generalklauseln zur Ermöglichung grundrechtlicher Eingriffe, die durch Spezialtatbestände ergänzt werden und den Rückgriff auf sich unter der Ägide eines hochgezonten Verhältnismäßigkeitsbegriffes wieder erlauben. Daneben könnten auch im Einzelfall die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze weiterhin bestehen, denn Rechtspolyphonie schadet im Verfassungsrecht nicht. Es liegt an der Rechtswissenschaft, den seit 2002 wiederholten Rationalisierungsversuch der Unmöglichkeit der Normierung (dort Rn. 82 f.) zu verweigern.

Zitiervorschlag: Hubig, Marvin Damian, Politische Öffentlichkeitsneutralität – wie lange noch?, JuWissBlog Nr. 31/2022 v. 23.06.2022, https://www.juwiss.de/31-2022/.

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