von STEPHAN GERBIG
Sieben Uhr morgens: Man ist gerade dabei, sich für die Schule fertig zu machen – und auf einmal steht der Staatsschutz im eigenen Zimmer. Medial wird gegenwärtig über Fälle berichtet, in denen Jugendliche in den Fokus des Staatsschutzes geraten sind und aufgrund eines Verdachts äußerst weitreichende Grundrechtseingriffe, wie etwa Wohnungsdurchsuchungen, erfahren mussten. Der politische Kontext vermag zu überraschen: Aktivistisches Engagement von Jugendlichen zugunsten des Klimaschutzes bei Fridays for Future und Handlungen, die in diesem Kontext begangen worden sein sollen – wie etwa Sprühereien mit abwaschbarer Kreide. Der Staatsschutz im Jugendzimmer darf nicht als gewöhnliche Situation hingenommen werden – das Thema verdient eine Betrachtung aus menschenrechtlicher Perspektive.
Menschenrechtsbasierte Grundlagen aus dem Kontext der Radikalisierungsprävention
Die Zuständigkeit des Staatsschutzes hat hohe Anforderungen und nur selten ermittelt der Staatsschutz gegen Jugendliche. Deshalb drängt es sich auf, zunächst einen Blick auf menschenrechtliche Grundsätze im Kontext von Jugend und Radikalisierung zu richten. Das soll aktivistisches Engagement bei Fridays for Future keinesfalls im Kontext der Radikalisierung verorten – der Staatsschutz muss sich aber auch an solchen Grundsätzen messen lassen, weil er durch die Begründung der eigenen Zuständigkeit letztlich selbst eine solche Verortung in Teilen vorgenommen hat.
Grundsätzlich ist zunächst festzuhalten: Es gibt Jugendliche, die unzweifelhaft Radikalisierungstendenzen erkennen lassen. Damit sind menschenrechtlich sehr relevante Herausforderungen verbunden:
Im Hinblick auf tatsächlich radikalisierte Jugendliche ist es menschenrechtlich geboten, entsprechende Jugendliche auch als Opfer zu begreifen (vgl. bspw. UN Doc. A/HRC/31/19, Rn. 14 u. 15) und ihnen Unterstützung zukommen zu lassen. Diese Haltung ist auch folgerichtig: In der Radikalisierungsforschung gibt es schließlich Anhaltspunkte dafür, dass (junge) Personen, die vom Staat als extremistisch „gelabelt“ werden, dazu neigen können, sich weiter zu radikalisieren (labeling theory) – Jugendliche mit tatsächlichen Radikalisierungstendenzen in erster Linie als Täter und nicht als Opfer zu begreifen, ist insofern brandgefährlich, kann dadurch schließlich schlechtestenfalls sogar eine self-fulfilling prophecy entstehen.
Daneben ist nicht jedes Handeln, welches den Staatschutz auf den Plan ruft, auch tatsächlich ein Handeln, welches im Kontext der Radikalisierung zu verorten ist: Es kann sich um einen falschen Verdacht handeln, genauso kann es sich um eine lediglich zugeschriebene Radikalisierung handeln (der Einsatz für radikale Paradigmenwechsel beim Klimaschutz macht Menschen schließlich nicht automatisch radikal). Das ist jeweils höchst problematisch, weil auch fehlerhaft angenommener bzw. lediglich zugeschriebener Radikalisierung staatlicherseits mit gleichen Instrumenten begegnet wird wie tatsächliche Radikalisierung: Die grundrechtliche Eingriffsintensität und die stigmatisierende Wirkung von einschlägigen Ermittlungshandlungen sind bei fehlerhaft angenommener bzw. lediglich zugeschriebener Radikalisierung nahezu identisch wie bei tatsächlicher Radikalisierung.
Diversion im Jugendstrafrecht: Breiter Reaktionsspielraum ist kein Freibrief für das Ermittlungsverfahren
Eine zentrale Gefahr liegt darin, dass entsprechende Strafverfahren gegen Jugendliche nur vom Ergebnis aus gedacht werden, nicht aber als Prozess reflektiert werden.
Das Jugendstrafverfahren zeichnet sich durch die Ausrichtung am Erziehungsgedanken (§ 2 JGG) aus. Als Mittel hierfür bedient es sich der Diversion nach Maßgabe von §§ 45, 47 JGG: Es gibt sehr viele unterschiedliche Möglichkeiten, von einer Verfolgung im Ermittlungsverfahren abzusehen (§ 45 JGG) bzw. das Verfahren im Zwischen- und Hauptverfahren einzustellen (§ 47 JGG). Die entsprechenden Vorschriften im Jugendstrafrecht gehen dabei weit über die allgemeinen Einstellungsmöglichkeiten nach §§ 153 StPO hinaus, insbesondere deshalb, weil das Jugendstrafrecht auch außerstrafrechtliche bzw. informelle Reaktionsmöglichkeiten wie erzieherische Maßnahmen (§ 45 II JGG) kennt – zum Beispiel Ermahnungsgespräche oder pädagogische Maßnahmen im schulischen Kontext. Das Mittel der Diversion soll es gerade ermöglichen, eine passgenaue Lösung zu finden, die eine erzieherische Einwirkung auf den beschuldigten Jugendlichen am besten ermöglicht.
Auch bei der Wahl und der Bestimmung der jugendstrafrechtlichen Sanktionen erfolgt die Bemessung gemäß § 18 Abs. 2 JGG am Erziehungsgedanken: Hier gilt es als sachgerecht, im Rahmen des Ermittlungsverfahrens erlittene Belastungssituationen – zu denen Wohnungsdurchsuchungen ohne jeden Zweifel gehören – zu berücksichtigen.
Die Breite der jugendstrafrechtlichen Reaktionsinstrumente darf aber nicht dazu führen, dass hierein eine ausreichende Kompensation und automatische Legitimation gesehen wird, um zuvor weitreichende Ermittlungsmaßnahmen bedenkenlos durchzuführen: Der Grundgedanke des Jugendstrafverfahrens (Erziehung statt Strafe) wird konterkariert, wenn etwa die durchgeführten Ermittlungsmaßnahmen schon traumatisierende Wirkung hatten.
Maßstäbe für die Verhältnismäßigkeitsprüfung
Das bedeutet keinesfalls, dass staatliche Stellen dem Vorwurf von Strafhandlungen nicht nachgehen müssen – das wäre im Lichte des Legalitätsprinzips auch gar nicht möglich. Wohnungsdurchsuchungen stellen jedoch eine der intensivsten Grundrechtseingriffe dar, die dem Staat zur Verfügung stehen. Für Kinder und Jugendliche können derartige Zwangseingriffe in ihre Privats- und Intimsphäre besonders einschneidende Erlebnisse sein – insofern muss in besonderer Weise sichergestellt sein, dass dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen wird. Gerade auf Ebene der Erforderlichkeit und der Angemessenheit sind hier Besonderheiten zu berücksichtigen.
Bei der Erforderlichkeitsprüfung drängen sich eine Vielzahl anderer Ermittlungsmaßnahmen auf, die deutlich milder in die Rechte von Jugendlichen eingreifen würden: Hier kommen pädagogische (frühe aktive Einbeziehung der Jugendgerichtshilfe) wie auch nicht-pädagogische Maßnahmen (Vorladung statt Durchsuchung) in Betracht. Ob diese Maßnahmen jeweils die gleiche Wirkung haben, ist natürlich einzelfallabhängig – trotz allem staatlichem Beurteilungsspielraum an dieser Stelle darf hier aber die Ausrichtung des Jugendstrafverfahrens am Erziehungsgedanken nicht aus dem Blick geraten.
Bei der Angemessenheitsprüfung ist zunächst zu berücksichtigen, dass Jugendliche unter 18 Jahren in den persönlichen Anwendungsbereich der UN-Kinderrechtskonvention (Art. 1 UN-KRK) fallen. In der Konsequenz sind alle Maßnahmen (auch Ermittlungsmaßnahmen), die gegen Jugendliche staatlicherseits vorgenommen werden, am Prinzip der vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls gemäß Art. 3 Abs. 1 UN-KRK auszurichten. Das bedeutet nicht, dass keinerlei staatliche Maßnahmen zu Lasten von Kindern und Jugendlichen möglich sind – es verschiebt aber den Abwägungsmaßstab deutlich zugunsten junger Menschen (Rn. 39). Der Staatsschutz muss sich daher die Frage gefallen lassen, welche überragenden öffentlichen Interessen durch derartige Wohnungsdurchsuchungen bedient werden sollen – und inwieweit die Auswirkungen für die Rechte betroffener Jugendlicher gebührend Berücksichtigung gefunden haben. Hier ist schließlich zu beachten, dass Wohnungsdurchsuchungen irreversible Maßnahmen sind: Ihre Rechtswidrigkeit kann zwar später festgestellt werden, Erkenntnisse aus der Durchsuchung können ggf. unverwertbar sein, es kann Entschädigungsansprüche geben und man kann die Belastungssituation jugendstrafrechtlich insbesondere auch im Rahmen der Diversion bzw. bei der Wahl und Bestimmung der Sanktionen berücksichtigen – man kann die Belastungssituation aber nicht ungeschehen machen. Das ist gerade deshalb zentral, weil es sich um derart weitreichende Grundrechtseingriffe handelt, die auch traumatisierend wirken können.
Klimaschutz ist Menschenrechtsschutz – junge Menschen als Menschenrechtsverteidiger:innen
Schließlich darf der genaue Kontext jener Handlungen, die Gegenstand der Strafverfolgung durch den Staatsschutz sind, nicht ausgeblendet werden. Das Engagement für den Klimaschutz ist zugleich auch ein grund- und menschenrechtlich relevantes Anliegen – daran dürfte es national spätestens seit der Entscheidung des BVerfG aus dem letzten Frühjahr, international spätestens seit der entsprechenden Anerkennung durch den UN-Menschenrechtsrat keinen Zweifel geben. Diese Einordnung ist nicht nur von akademischem Interesse: Mit der Verortung des Klimaschutzes als menschenrechtlich relevantes Anliegen ist nämlich auch verbunden, dass entsprechend aktivistisch engagierte Jugendliche durchaus als Menschenrechtsverteidiger:innen zu qualifizieren sind. Für staatliche Stellen besteht menschenrechtlich die Verpflichtung, ein förderliches Umfeld (vgl. Art. 2 der UN-Declaration on Human Rights Defenders) für derartiges Engagement zu schaffen.
Natürlich berechtigt die Einordnung als Menschenrechtsverteidiger:in nicht dazu, strafrechtlich relevante Handlungen vorzunehmen – umgekehrt müssen staatliche Stellen bei der Aufklärung möglicher Strafhandlungen allerdings auch im Blick behalten, dass entsprechend weitreichende Ermittlungsmaßnahmen in einem aktivistischen Umfeld nicht nur für die Feststellung der individuellen Schuld relevant sind, sondern auch (einschüchternde) Auswirkungen auf den größeren Kontext des jeweiligen aktivistischen Engagements haben und insofern auch in die Rechtspositionen Dritter eingreifen können. Dass der Staat mit entsprechenden Ermittlungsmaßnahmen keine Abschreckung und Einschüchterung von Aktivist:innen beabsichtigt (davon ist jedenfalls auszugehen, zumal entsprechende Zielrichtungen mehr als nur sachfremd wären), ist jedenfalls dann unerheblich, wenn solche Gefühle faktisch bewirkt werden. Für eine solche faktische Wirkung gibt es belastbare Anhaltspunkte, und diese Wirkung ist mehr als nachvollziehbar: Unverhältnismäßige Eingriffe in elementare grundrechtlich geschützte Bereiche können dazu beitragen, jungen Menschen das Vertrauen in den Rechtsstaat zu nehmen, sie können traumatisierend wirken und politisches Engagement und Teilhabe hemmen – und das ist das Gegenteil von einem positiven Beitrag für ein förderliches Umfeld für das Engagement von Kindern und Jugendlichen.
Zitiervorschlag: Stephan Gerbig, Staatsschutz im Jugendzimmer, JuWissBlog Nr. 30/2022 v. 15.06.2022, https://www.juwiss.de/30-2022/.
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